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Traumjob

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Samstagmorgen.

Samstagmorgende sind cool.

Aber es ist noch viel cooler, wenn man weiß, dass es in den nächsten sechs Wochen total egal ist, ob es Samstag, Sonntag oder Montag ist. Weil nämlich diese nächsten Wochen nur dazu da sind, Spaß zu haben. Nur zu tun und zu lassen, was man möchte. Ausschlafen und – viel interessanter – lange aufbleiben. An dieser Stelle brechen meine Gedanken ab. Ausschlafen ist okay. Ausgehen ist eigentlich auch okay. Aber ich wohne in Hürth! Und ich werde dieses Jahr nicht in den Urlaub fahren. Das bedeutet, dass ich sechs Wochen lang jeden Abend in Hürth ausgehen kann.

Was für ein schlechter Witz!

Dieses Kaff ist nämlich in etwa so charmant wie seine Fabrikschornsteine, Chemieparks und Kraftwerke, die ihren Dreck in die Luft pusten. Und genauso stinkt es mir hier auch!

Die paar Clubs und Diskotheken, die es in dieser Stadt gibt, kann man locker an einem Abend abklappern. Ansonsten halten die äußerst attraktiven Namen unserer Veranstaltungsorte genau das, was sie versprechen: Feierabendhaus. Noch Fragen? An diesem Frust ändern auch die Produktionsfirmen nichts, die hier für private Fernsehsender ihre Dienste anbieten. Im Gegenteil: Promis werden in abgedunkelten Shuttles und Luxuslimousinen für Shows und Events vorgefahren, um nach getaner Arbeit schnell wieder in das Stadtzentrum von Köln oder zum Flughafen chauffiert zu werden. Das einzig halbwegs Coole ist, dass Michael und Ralf Schumacher hier geboren wurden. Damit kann man zumindest die Jungs beeindrucken. Ich meine die Jungs, die man zum Beispiel in Spanien oder Frankreich am Strand kennenlernt. Aber ich fahre ja nicht weg ... (Und außerdem hat es die Schumis auch schnell an andere, schönere Orte dieser Welt verschlagen.)

Auch wenn man über Hürth sagen kann, was man will, aber die Plattenkiste ist unbestritten ein echtes Highlight. Tapfer trotzt sie den ewig gleichen Elektromärkten und den ewig gleichen Buchhandelsketten in den ewig gleichen Einkaufscentern. Und – tatatata! – ICH habe dort einen Ferienjob ergattert. Und HEUTE ist mein erster Arbeitstag. Das ist so cool!

Motiviert für den Tag und für die kommenden sechs Wochen, hüpfe ich unter die Dusche.

Einseifen, Haare waschen und föhnen. Bis hierher war es noch einfach. Aber was ziehe ich an, und wie soll ich mich stylen? Soll ich mich überhaupt stylen? Zu aufgebrezelt geht natürlich nicht, schließlich gehe ich zur Arbeit. Aber zu normal geht auch nicht, schließlich gehe ich in die Plattenkiste. O Gott, immer diese Entscheidungen. Shirt, Jeans und Sneakers mit einem tagestauglichen Make-up, fertig und aus!

«Guten Morgen, Stine, mein Schatz! Na, wie geht es meiner Lieblingstochter?»

Hatte ich nicht eben noch gedacht, ich sei motiviert für den Tag? «Erstens bin ich deine einzige Tochter – und damit zwangsläufig deine Lieblingstochter. Und zweitens möchte ich den Namen Stine im Zusammenhang mit meiner Person nie wieder hören. Guten Morgen!», begrüße ich meinen Vater mit ruhiger Stimme und nehme mir eine Scheibe Vollkornbrot.

Ganz im Sinne meiner Mutter hat er schon das Frühstück gemacht. Sie hat es nämlich nicht so mit den frühen Morgenstunden.

«Du musst schon entschuldigen, dass ich dich bei dem Namen nenne, den deine Mutter und ich für dich ausgesucht haben. Wir mögen ihn zufälligerweise nämlich sehr.»

«Aber ich nicht!», falle ich ihm ins Wort.

«Schon gut, schon gut!» Er schiebt mir meine Lieblingsmarmelade rüber und lächelt mich versöhnlich an.

Ich weiß nicht, wie oft ich meinem Vater das schon erklärt habe: Bei der Bravo oder dem Rolling Stone wird sich sicher niemand für «Stine aus Hürth» interessieren. Also muss man eben ein bisschen an seinem Lebenslauf herumbasteln. Und das mache ich schon seit meinem sechsten Geburtstag. Da habe ich mich nämlich für den Namen Stella entschieden. Stella ist italienisch und bedeutet Stern – oder Star.

Und dass ich ein Star werden will – werden muss –, ist mir seit diesem Tag im Jahre 1999 klar. Damals hatte ich sozusagen meinen ersten Gig. Aus meinem knallroten Benjamin-Blümchen-Kassettenrecorder (der war wiederum ein Geschenk zu meinem dritten Geburtstag und muss mir verziehen werden) dröhnte Viva forever von den Spice Girls (auch das muss mir verziehen werden, so waren eben die 90er).

Zusammen mit Angie, die damals noch Anke hieß, bis ich auch ihre Vita frisiert habe, einer Haarbürste als Mikrophon und einem Tennisschläger, der als Gitarre herhalten musste, haben wir unsere Terrasse gerockt. Ich kann mich noch total gut daran erinnern, wie cool ich es fand, dass uns die Gäste alle zugejubelt haben. Sogar die «Großen» haben applaudiert und auf den Fingern gepfiffen ...

«Moagähn!», ertönt ein verschlafenes Lebenszeichen meiner Mutter aus dem Flur. Sie schlurft langsam zu uns in die Küche, und sofort hält mein Vater ihr einen frischen Kaffee direkt unter die Nase. Reine Vorsichtsmaßnahme. Vor dem ersten Kaffee spricht man meine Mutter besser nicht an. Aber kaum hat sie den runtergespült, springt ihr Motor an: «O mein Gott, Stella! Heute ist dein erster Tag in der Plattenkiste!», platzt es aus ihr heraus.

«Ich weiß!», sage ich und schmiere mir ein zweites Brot.

«O mein Gott!», sagt meine Mutter erneut.

«Evi, was ist denn los? Brauchst du noch einen Kaffee?», fragt mein Vater besorgt.

«Unsere Tochter ist erwachsen geworden!», jammert meine Mutter. «Gestern habe ich sie noch in den Kindergarten gebracht. Und heute geht sie schon zur Arbeit. Wo ist bloß die Zeit geblieben?»

Zum Glück nimmt mein Vater sie in den Arm, denn zu diesen sentimentalen Ausbrüchen fällt mir nie etwas Passendes ein. «Dazwischen liegen schon ein paar Jahre», erklärt mein Dad, und ich stelle fest, dass es ziemlich genau zwölf sind, seit ich das letzte Mal einen Kindergarten von innen gesehen habe.

«Ich muss los! Nach der Arbeit fahre ich gleich zum Proberaum. Ich bin dann so gegen neun Uhr zu Hause. Ist das okay?», frage ich, und meine Mutter nickt selig lächelnd mit dem Kopf. Schön, wenn die Familie zusammen ist, kann ich auf ihrer Stirn lesen.

Aber mit dem nächsten Schluck Kaffee erwacht sie aus ihrer Gefühlsduselei: «Um neun Uhr zu Hause? Warum das denn? Fährst du nicht heute zum Konzert nach Köln?»

Die Aufregung über meinen ersten Arbeitstag hat mich fast vergessen lassen, dass ich ja eigentlich noch ein bisschen sauer bin auf meine Mutter. «Du weißt doch: Wenn sich deine Tochter für eine Sache entschieden hat, musst du dich auf das absolute Gegenteil gefasst machen!», ist mein knapper Kommentar, und dann ziehe ich demonstrativ die Haustür hinter mir zu. Wie gut für alle, dass ich heute so einen vollen Terminkalender habe. Sonst würde ich den ganzen Tag zu Hause rumstänkern und meine schlechte Laune an allem und jedem auslassen!

Die Plattenkiste liegt zwar mitten in der Einkaufsstraße, aber trotzdem ein wenig versteckt. Es scheint fast so, als ob nicht jeder hierher finden soll. Neben einem nicht so ganz zeitgemäßen Schuhgeschäft findet man eine Tür. Die führt in ein schummeriges Treppenhaus, in dem eine nicht wirklich vertrauenerweckende Holztreppe in den ersten Stock führt. Ein dickes Seil dient als Geländer. Es ist total schmuddelig. Aleks mit ihrem Sauberkeitsfimmel würde wahrscheinlich eher die Treppe hinunterstürzen, als das Teil in die Hand zu nehmen. Sie poliert sogar ihre Gitarre jedes Mal, bevor sie zu spielen beginnt. Von wegen Rock ’n’ Roll!

Oben angekommen, quetscht man sich durch eine Art Saloontür, die sich komischerweise nie gelockert hat und nach all den Jahren noch immer blitzschnell hinter den Besuchern zusammenschlägt. Tja, der Weg ins Musikgeschäft ist nicht leicht ...

Schnell fällt dann auf, dass der Name Plattenkiste nicht wirklich passt. Und warum? Genau! Weil es nämlich gar keine Platten mehr gibt. Auch hier nicht. In riesigen Kisten, maßgefertigten Holzregalen und schlichten Ständern finden sich CDs, DVDs, Bücher und Comics. Evi nennt diesen Laden ein «Modernes Antiquariat». Aber egal, wie man das hier nennt – und auch wenn meine Mutter und ich sonst nicht viele Gemeinsamkeiten haben: Die Plattenkiste lieben wir beide heiß und innig.

Schon seit ich denken kann und noch viel früher, hat meine Mutter mich mit hierher geschleppt. In einem riesigen bunten Tuch vor den Bauch gespannt, habe ich schon als Baby in den Platten der Stones, von Janis Joplin und Santana gestöbert. Das scheint so eine Familientradition zu sein. Dass die Kinder so früh wie möglich mit der Musik ihrer Eltern konfrontiert werden. Evi prahlt heute noch damit, dass sie eine der jüngsten Besucherinnen von Woodstock war. Nur zur Info: Woodstock war ein Musikfestival Ende der 60er Jahre – irgendwo in der Nähe von New York. Wenn ich es mit der Loveparade vergleiche, gibt es immer Ärger mit meiner Mutter. Sie meint, Woodstock war politisch von großer Bedeutung. Ich meine, dass einfach alle nur nackt und mit Drogen vollgepumpt waren und den ganzen Tag «Peace!» vor sich hin gelallt haben. Wie bei der Loveparade eben. Aber lassen wir das.

Ich liebe diesen Laden. Auch wenn ich meine Musik meistens gar nicht hier kaufe. Nicht kaufen kann, weil der Belgier mit angesagter aktueller Musik nichts anfangen kann. Obwohl er sich über die Jahre schon ein bisschen auf den Mainstream einlassen musste, damit er seine Ladenmiete zahlen kann. Also findet man inzwischen neben Nirvana und R.E.M. auch aktuellere Alben von Franz Ferdinand, Justin Timberlake oder Rihanna. Aber nach Tokio Hotel und Britney Spears traut sich hier nicht mal jemand zu fragen!

«Hi, Stella! Schön, dass du da bist!» Der Belgier. Das kann nur der Belgier sein. Seine Stimme – und vor allem sein Dialekt – ist einfach unverkennbar. Einige Leute sagen, er nuschelt ganz fürchterlich. Andere sagen, er könnte nach dreißig Jahren in Deutschland doch mal langsam ein besseres Deutsch sprechen. Und wieder andere lieben ihn einfach so, wie er ist. Das tue ich auch. Also, ich meine, ich liebe seinen belgischen Dialekt und seine Art. (Immerhin ist er mindestens fünfundfünfzig und könnte mein Vater sein. Oder mein Opa.)

«Hallo», sage ich schüchtern. Eigentlich bin ich ja gar nicht so kleinlaut. Aber das hier ist eben die Plattenkiste, und vor mir steht der Belgier.

«Heute geht es also los?», sagt er.

«Yo!» Total bekloppte Antwort.

«Okay, den Laden kennst du ja. Aber ich führe dich trotzdem nochmal rum, damit du einen Überblick bekommst.»

«Yo!» Schon wieder ...

Entspann dich, Stella. Ist doch alles ganz relaxed, rede ich mir gut zu, während ich dem Belgier durch die schmalen Gänge folge.

«Ich denke, für heute reicht es, wenn du dich durch die CDs wühlst und einfach ein bisschen Plattenkisten-Luft schnupperst. Wenn du eine CD am falschen Ort findest, dann sortiere sie doch bitte gleich wieder richtig ein – in alphabetischer Reihenfolge! Alles klar?», flötet er und tänzelt hinter den Tresen, um eine Kundin zu bedienen.

Erst um kurz vor fünf taucht der Belgier wieder auf, um mir mitzuteilen, dass ich Schluss machen kann.

«Was? Ist es etwa schon so spät?», frage ich ihn völlig erstaunt. Anscheinend bin ich für die letzten Stunden total abgetaucht in den prallgefüllten Kisten und Regalen – echte Goldgruben. Beim Sortieren der CDs habe ich so viele abgefahrene Cover entdeckt und eine Menge tolle Bands gefunden, dass ich zwischendurch noch nicht einmal auf dem Klo war.

«Sieht so aus, als hättest du Spaß gehabt, was?», grinst er in seinen Bart.

«Stimmt!», bemerke ich und frage ihn, wann ich wieder kommen soll.

«Wir sehen uns am Montag. Zwölf Uhr ist okay», findet mein Chef, und ich finde das auch.

Draußen trifft mich der Schlag: Es sind mindestens fünfzig Grad. Wie gut, dass ich mich mit Angie im Proberaum verabredet habe. Und wie gut, dass der Hausmeister uns für die Ferien einen Schlüssel gegeben hat. Nun können wir so oft dort abtauchen, uns abkühlen oder einheizen – wie es uns gefällt. In einem Keller ohne Fenster kann man diese Hitze sicher am besten aushalten. Außerdem freue ich mich, Angie mal wieder ganz für mich allein zu haben. Nichts gegen Aleks, aber mit Angie kann eben keine – und erst recht keiner – mithalten. Als Zeichen meiner tiefen Freundschaft fahre ich noch mit dem Fahrrad einen kleinen Umweg und kaufe uns zwei Eisbecher beim Eisbär. Schließlich bin ich ja jetzt Großverdienerin ...

«Stella! Wie war’s?», stürmt Angie auf mich zu. Natürlich ist sie schon da. Ich glaube, in den letzten vier Jahren habe ich es genau zweimal geschafft, vor Angie im Proberaum zu sein. Und das auch nur, weil ich einmal eine Doppelstunde Bio blaugemacht habe. Und das andere Mal, weil Angies Oma gestorben war. Was erst wie die blödeste Entschuldigung überhaupt klang, war dann aber gar nicht lustig. Sie war wirklich gestorben. Und Angie war anschließend allein den ganzen Weg vom Krankenhaus hierher gelaufen. Jede andere wäre gar nicht mehr aufgekreuzt. Nur Angie.

«Ich habe eine Überraschung für dich! Bitte schön!», sagt sie und hält mir einen riesigen Becher Eis direkt vors Gesicht. «Ich dachte, ich muss dich erst mal aufpäppeln, bevor wir loslegen können. Was ist los? Warum guckst du denn so komisch? Du magst doch Erdbeer ... Oder?»

Wortlos packe ich die zwei anderen Portionen aus.

«Super! Beste Freundinnen! Beste Ideen! Und zwei Eis sind immer besser als ein Eis!», freut sich Angie und lässt sich aufs Sofa fallen.

«Genau!», stimme ich ihr zu und hocke mich neben sie.

Ich erzähle ihr von der Arbeit, und sie stöhnt über eine abturnende Shoppingtour mit ihrer Mutter.

Angie steht auf, schaltet die Anlage an und stellt sich ans Mikrophon. «Meine Damen und Herren: Wegen einiger Menschen mit Beschützerwahn und verwirrter Blumenkinder – kurz gesagt: wegen Müttern – mussten wir unser Programm für heute leider ändern. Statt ein Konzert zu besuchen, spielen wir nun selber live und exklusiv für Sie Family Portrait von Pink

Nach zwei Stunden Improvisieren, Explodieren und Applaudieren beenden wir unser Kellerkonzert und fallen uns nassgeschwitzt in die Arme. «Das war der Burner des Tages! Du warst großartig! Deine Drums mussten echt ganz schön was aushalten», jubele ich Angie zu.

«Mehr geht heute wirklich nicht! Und morgen bräuchte ich mal ’ne Probenpause. Am Montag kommt Aleks zurück, und die will dann sicher auch gleich wieder loslegen. Wie wäre es also mit einem entspannten Sonntagskäffchen in der City?», schlägt Angie vor.

«Vom Kaffeetrinken in der City ist noch niemand berühmt geworden! Vielleicht in New York oder London, wenn du dich mit Madonna oder Robbie Williams verabredest. Aber dies hier ist Hürth!» Und während ich mal wieder den Kleinstadtblues bekomme, grinst Angie mich einfach frech an. Noch immer hat sie einen Schokoladenrand um den Mund. Da muss man ja weich werden. «Anlage aus? Licht aus? Alles aus?», frage ich – und mit meinem süßesten Lächeln füge ich hinzu: «Dann können wir ja morgen in Ruhe ausgehen.»

Stella rockt

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