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Ein Hamburger Märchen

Sein Teppichlager ist in einem der roten Backsteinhäuser der Speicherstadt gelegen. An der Front des hohen Hauses rankt sich Wein hinauf, dessen Blätter sich schon herbstlich bunt verfärben und im letzten Sonnenlicht leuchten. Sonja bleibt einen Moment auf der Straße stehen, um dieses Bild in sich aufzunehmen. Selten genug bleibt ihr Zeit für Schönheit und Zauber.

Sie steigt die schiefen Treppen des Hauses hinauf und öffnet ein wenig außer Atem die Tür zum Lagerraum. Abdul kommt ihr mit ausgestreckten Armen entgegen und begrüßt sie herzlich wie eine alte Freundin: »Hallo meine Liebe, wie schön, Sie wiederzusehen. «

Meine Liebe, sagt er, mit einem leicht ironischen Unterton. Sonja wäre jedem anderen Mann bereits jetzt über den Mund gefahren. Sie ist für ihre scharfe Zunge bekannt und wird deshalb auch von einigen Kollegen gefürchtet. Aber ihre Ironie versiegt, wenn sie Abdul sieht. Schon beim ersten Treffen mit ihm vor einigen Wochen ist ihr das so ergangen. Dieser Mann macht sie nervös.

»Sie haben ja ein enormes Lager. Wie viele Teppiche liegen hier? Einige hundert?«

»Mindestens.« Er nimmt ihre Hand und führt sie zwischen den Teppichstapeln hindurch zu seinem Büro am anderen Ende der Halle. Sie betritt einen Raum, den sie faszinierend findet, weil sich hier die moderne Kühle von Chrom- und Glasmobiliar mit der sinnlichen Wärme der persischen Teppiche verbindet. An den Wänden, auf dem Boden – überall Teppiche. Von hier aus kann man direkt auf das Fleet, aufs Wasser hinunterschauen. Über dem Türrahmen hängt ein Flaschenzug, da hier früher die Waren direkt vom Wasser in den Speicher befördert wurden.

Die kühle Luft des Oktoberabends riecht feucht und leicht modrig. Sonja empfindet die Atmosphäre als ein wenig unheimlich und romantisch zugleich. Sie liebt diese Stimmung, versinkt regelrecht in sie; etwas, was sie sich sonst nie zugestehen und vor allem nicht offen zeigen würde. Schon gar nicht ihren Journalistenkollegen gegenüber, die sie für hart und abgebrüht halten.

»Gefällt Ihnen der Ausblick?« Abdul weckt sie aus ihren Tagträumen.

»Es ist sehr romantisch. Aber wahrscheinlich bemerken Sie das gar nicht mehr, weil sie täglich hier arbeiten. «

»Die Orientalen und wir Teppichhändler sind Romantiker und Mystiker in manchen Bereichen«, er schmunzelt, »würden wir sonst so viel Zeit und Geduld für unsere Kunstwerke aufbringen?«

»Sie meinen die Teppiche?«

»Teppiche, Mosaiken und Zeremonien. Alle diese Dinge erfordern Geduld und Einfühlungsvermögen und selbstverständlich Hingabe, das ist vielleicht das Wichtigste – Hingabe.«

Er bittet sie, sich in einen der Freischwinger zu setzen, und bewirtet sie mit Kaffee, Gebäck und Likör. Dabei erzählt er, wieviel Zeit die Herstellung eines solchen Teppichs in Anspruch nimmt, wie viele verschiedene Arbeitsgänge erforderlich sind und welche Traditionen mit hineingeknüpft werden, von denen der spätere Besitzer leider oft nichts ahnt und spürt.

»Was spüren Sie, wenn Sie einen Teppich sehen oder berühren?« fragt Sonja, der langsam wieder zu Bewußtsein kommt, daß sie ja hauptsächlich hier ist, um für eine Reportage zu recherchieren.

»Kommen Sie mit.« Er greift wieder nach ihrer Hand und führt sie hinaus in den riesigen Lagerraum. Vor drei niedrigen Stapeln bleibt er stehen.

»Hier liegen einige Kostbarkeiten, die auch sehr teuer sind. Mein Vater, mein Bruder und ich sind ständig auf der Suche nach ungewöhnlichen Stücken. Am liebsten würde ich sie nicht wieder hergeben, aber wir leben ja davon, und ich muß schweren Herzens auch diese Teppiche verkaufen. Allerdings bin ich bei diesen Stücken nicht bereit zu handeln. Entweder der Interessent zahlt den festgesetzten Preis, oder er bekommt das Stück nicht. Es käme beinahe einer Beleidigung gleich, hierbei zu feilschen. «

Abdul streicht langsam, fast zärtlich, wie es Sonja scheint, über den obersten Teppich des ersten Stapels. »Dies ist ein außergewöhnlicher, sehr fein geknüpfter Bidjar, ein Medaillonteppich, dessen fast reliefartiges Motiv ohne diese Struktur nicht denkbar wäre.« Abduls Stimme wird weich, als spräche er mit einem geliebten Menschen. Sonja berührt ein wenig zögernd den Teppich. Abdul setzt auf eigentümliche Weise etwas in ihr in Schwingung. Seine Erscheinung, seine Stimme, alles hat sich gleich nach ihrer ersten Begegnung in ihr Gedächtnis, in ihren Körper eingebrannt.

Dieser Mann übt eine seltsame Anziehungskraft auf sie aus, deswegen ist sie hier, deswegen hat sie schon die ganze Zeit dieses schwummrige Gefühl in der Magengrube. Die Teppiche sind ihr nicht so wichtig. Sie hat von der Redaktion auch schon aufregendere Aufträge erhalten, als über Perserteppiche und den Teppichhandel zu schreiben.

Als er ihre Hand genommen hatte, um sie in die Lagerhalle zu führen, hatte sie innerlich gezittert wie Espenlaub. Hoffentlich hatte er es nicht gemerkt.

»Hören Sie mir überhaupt zu?«

Sonja fährt zusammen und schaut Abdul an. »Ja, natürlich. Sie sagten gerade, daß in persischen Nomadenteppichen häufig Tierdarstellungen vorkommen, daß aber diese Tiere eher selten aus einer Sage oder einer Fabel stammen. Daher sei die Tierdarstellung des Phönix in diesem Teppich eine Ausnahme. Richtig?«

»Richtig.« Er lacht amüsiert. »Sie haben tatsächlich zugehört. « Abdul setzt sich auf den nächsten Stapel, betrachtet wieder den Bidjar und erklärt weiter: »Der Phönix, ein göttliches Tier, das, der Sage nach, alle 650 Jahre aus Arabien oder Indien kommt, im Tempel des Sonnengottes ein Nest baut, dort aber verbrennt und verjüngt aus der Asche hervorgeht, symbolisiert das ewige Leben. Dieser Phönix wird bewacht von einem lindwurmähnlichen Drachen mit giftigem Atem, der hier der Hüter des Schatzes, nämlich des ewigen Lebens ist. Fast eine Darstellung des altpersischen Ahrimankultes.«

Sonja macht sich einige Notizen. Aber sie ist nicht recht bei der Sache und kann sich nur mühsam konzentrieren.

Abdul springt auf, ergreift wieder ihre Hand und zieht sie plötzlich ein Stückchen mit sich.

»Und nun schauen Sie sich diesen Teppich an, Sonja. Was sagen Sie dazu?« Abdul sieht sie geheimnisvoll an, aber Sonja ahnt nicht einmal, worauf er hinaus will.

»Was soll ich sagen? Sie sind der Experte, ich weiß nicht...« Hilflos bricht sie ab.

»Man muß nichts von Teppichen verstehen, um dieses Stück zu erspüren. Schauen Sie auf sein Muster, und tauchen Sie hinab in einen paradiesischen Garten, ein Blumenmeer, wie es kein Dichter besser beschreiben könnte. Fühlen Sie es?«

Abdul tritt von hinten nahe an sie heran und legt ihr die Hände auf die Schultern. Sonja starrt wie hypnotisiert auf den Teppich, während sein Atem ihr rechtes Ohr streift und er leise erklärt: »Dies ist ein ›Nain‹. Die kleine Stadt Nain liegt am Wüstensaum und hat eine berühmte Moschee, deren ältester Teil aus dem Jahr 960 stammt. Seit 200 Jahren werden dort besonders feine und schöne Teppiche hergestellt, bei deren Anblick einem das Herz übergeht. Durch vollkommene Musterwiedergabe und herrliche Farbeffekte, meist cremefarbenen Untergrund mit dem berühmten Nainblau, wirken diese Teppiche so edel und vornehm.«

Seine Hände gleiten langsam an ihren Armen hinab zu ihren Handgelenken. Sie läßt Block und Kugelschreiber fallen und lehnt sich an ihn. Sie möchte beschützt werden, nicht mehr kämpfen und sich durchsetzen müssen. Sie will für immer hier im Lager stehen, Abduls Wärme spüren und von seiner sanften Stimme umschmeichelt werden.

»Dieser ›Nain‹ mit seinem sphärenblauen Mittelstück und der cremefarbenen Bordüre versetzt uns in einen Garten. Die hellen Zweige mannigfaltiger Sträucher überschneiden sich und tragen reiche Blüten. Sie wiegen sich im Wind. Die Gärten Irans waren berühmt.« « Abduls Stimme schwingt in einem Rhythmus, in dem er auch Sonja sachte in seinen Armen wiegt. »Nicht umsonst hat Hafis die iranischen Gärten besungen. Kein Frühling kann bezaubernder sein als der kurze Frühling in den Wadis der Wüste.«

Abdul dreht Sonja behutsam herum, so daß sie ihn ansieht. Mit den Fingern seiner rechten Hand zeichnet er die Konturen ihres Gesichts nach, seine Finger fahren sanft über ihre Augenbrauen, die Wangenknochen, spielen lange mit ihren Lippen, bis sie ihnen kleine Küsse entlocken, und beginnen wieder von vorn.

»Die Liebe zu den Blumen und die oft abergläubische Verehrung der Bäume ist typisch orientalisch. Die Winter dort sind kalt, die Sommer sehr heiß, und im Herbst ist alles verbrannt und verdorrt. So schuf man sich eine künstliche Frühlingslandschaft. «

Abduls Hände erkunden ihren Körper, der sich ihm entgegendrängt. Sonja wiegt sich noch immer zum Klang seiner Stimme, die sie mal leise, mal laut zu beschwören scheint.

»Spürst du den ›Nain‹? Erahnst du nun, Sonja, wovon er erzählt?« Seine Lippen streifen sachte ihre Wange, als er dies fragt.

Wie in Trance antwortet sie: »Er erzählt von einem paradiesischen Garten, in dem Blumen und Bäume wachsen, die ich nicht kenne. Die Blumen blühen so süß, daß ich beim Bewundern ihrer Pracht weinen muß, weil ich immer spüre, wie vergänglich sie sind.«

»Du hast gerade ein kleines Stück der orientalischen Seele gesehen.« Abdul küßt sie, und Sonja scheint es, als schwebe sie über dem blühenden Garten des ›Nain‹, schwerelos, selig. Keine Zensur mehr in ihrem Kopf, die ihr etwas verbietet, nicht einmal die Sätze, die sie eben gesprochen hat, kommen ihr kitschig vor.

Abdul liebt sie zärtlich, bedächtig, genüßlich, als nasche er von den Früchten des üppigen Gartens. Sonja wird überwältigt von den Sensationen, die ihre Empfindungen für sie bereithalten. Sie läßt sich davontragen und fragt zum erstenmal nicht, wohin die Reise geht. Sie weiß, daß sie sich in einer Art Paradies aufhält, sie kann und will sich dieser Magie nicht entziehen.

Nach einer Ewigkeit, wie es ihr scheint, kehrt sie auf die Erde zurück und findet sich auf dem »Nain«, der ihrer Haut schmeichelt. Zarte Schweißtröpfchen perlen auf ihrem Körper, und neben ihr liegt Abdul, der Mann, der sie ins Reich von Tausendundeine Nacht entführt hat. Sie gibt sich einen Ruck. Sie muß in die Wirklichkeit zurückkehren, sie muß wieder normal sprechen.

»Du hast die schönsten Teppiche. Ich weiß das jetzt und werde morgen darüber schreiben«, sagt sie. »Mmmh, wirst du auch schreiben, woher du das weißt?« Abdul lächelt, und seine Finger wandern über ihren Körper, machen sie schon wieder schwindlig und begierig.

»Natürlich werde ich das schreiben.«

Abrupt richtet er sich auf. »Waas?«

»Ich weiß etwas über diesen Teppich, was selbst du noch nicht entdeckt hast.«

»Und was ist das?«

Sie sagt es ganz leise, als würde sie ihr bestgehütetes Geheimnis preisgeben. »Abdul, dein Teppich kann fliegen. «

Haut für sechs Hände

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