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Zärtlichkeit

Tessa betritt betont forsch das Foyer des Theaters. Sie ist früh dran, und sie ist allein, hat nur eine Karte gekauft.

Vor wenigen Wochen noch war es unvorstellbar für sie, allein, ohne Jean, ins Theater zu gehen. Aber seither scheinen Jahre vergangen zu sein. ›What a difference a day makes‹, dieser Song geht ihr immer im Kopf herum. Von einem Tag auf den anderen hat sich ihr Leben verändert, und sie kann sich noch immer nicht daran gewöhnen.

Sie wacht jetzt ohne Jean auf, frühstückt allein, fährt allein zur Arbeit, und dort trifft sie ihn irgendwann im Laufe des Tages. Sie arbeiten noch immer bei der gleichen Zeitung, beide im Feuilleton. Nachmittags fährt sie dann heim, kauft um die Ecke die nötigsten Lebensmittel ein, sitzt später einsam in ihrer Wohnung und denkt daran, wie schön es mit Jean war. Dann geht sie schlafen, sein Foto neben sich auf dem Nachttisch.

Sie will es wieder lernen, allein zu sein. Vor Jean ist sie oft allein ins Theater oder Kino gegangen, auch mal solo zum Essen. Sie hatte ihre Stammlokale und -kneipen, wo man sie kannte, wo man sich um sie kümmerte, wenn sie gar zu einsam aussah. Aber das ist schon lange her. Zwei Jahre können eine Ewigkeit sein.

Sie trägt ihren schwarzen Chanel-Hosenanzug heute zum erstenmal und fühlt sich sehr wohl darin. Sorgfältig ausgewählte Accessoires ergänzen ihr Outfit. Man kann ihr eigentlich nicht ansehen, wie einsam sie sich fühlt, denkt sie.

»Loge fünf, zweite Reihe«, sagt die Garderobiere und weist auf eine kleine Tür, die bereits offensteht. Tessa fragt nach den Toiletten. Dort wirft sie einen kritischen Blick in den Spiegel. Sie fühlt sich nervös und unausgeglichen. Sie ist unruhig, doch im Spiegel findet sie keine Bestätigung dafür.

Beim letzten Klingeln steht sie mit ihrem zweiten Glas Sekt oben an der geschwungenen Holztreppe und beobachtet die Menschen, die eilig ihre Gläser leeren. Tessa läßt sich Zeit und betritt als letzte die Loge. Ein Pärchen sitzt in der ersten Reihe, der Mann direkt vor Tessa. Sie kann über ihn hinweg auf die Bühne sehen. Alle übrigen Plätze in der Loge sind frei.

Das Pärchen tuschelt miteinander, und der Mann streichelt die Hand der blonden Frau neben sich. Die kennen sich noch nicht sehr lange, denkt Tessa. Wahrscheinlich sind sie frisch verliebt. Sie erinnert sich, daß sie auch einmal so mit Jean im Theater gesessen hat. Sie war verrückt nach ihm, roch sein After Shave, das sich mit dem Duft seiner Haut mischte, wollte ihm ganz nah sein.

In ihrer ersten Zeit waren sie häufig zusammen ins Theater oder in Konzerte gegangen und hatten sich immer wieder etwas zugeflüstert. Jeder Vorwand war recht gewesen, um den anderen zu berühren, seine Aufmerksamkeit zu wecken.

Der Mann in der ersten Reihe legt den Arm um die Schulter der Frau, streichelt ihren nackten Oberarm, dann fährt er mit den Fingern sacht über ihren Nacken, immer wieder.

Neidvoll betrachtet Tessa die beiden. Die Zärtlichkeiten des fremden Mannes tun ihr weh.

Er ähnelt Jean, oder bildet sie sich das bloß ein? Die dichten graumelierten Locken und die Form des Hinterkopfes, der so schutzbedürftig wirkt. Sie sieht sein Gesicht im Profil, er schaut dem schwarzen Vogel nach, der langsam, von unheimlichen, hohen Todesschreien begleitet, von der Bühne schreitet. Der Mann flüstert der Blonden neben sich etwas zu, aber die reagiert nicht. Nach einer Weile schüttelt sie den Kopf. Ob sie ihn abgewiesen hat?

Seine Hände suchen ständig nach seiner Begleiterin, unentwegt muß er sich ihrer Anwesenheit versichern, sie streicheln, sie flüchtig berühren. Wenn er ihr etwas ins Ohr flüstert, streift seine Nase ihr Haar. Tessa beobachtet die beiden genau. Die Frau ist kalt. Sie antwortet zwar, aber sie erwidert seine Zärtlichkeit nicht.

Der Mann ist offensichtlich verliebt. Warum behandelt die Blonde ihn so kühl? Warum läßt er sich so behandeln?

Tessa rutscht unruhig auf ihrem Platz hin und her. Wenn ich jetzt neben ihm säße, ich würde antworten, auf jede nur erdenkliche Art würde ich ihm antworten, denkt sie. Sie kann sich kaum noch auf das Geschehen auf der Bühne konzentrieren. Sie beschäftigt sich nur noch mit dem Mann, für den sie Wärme und eine Art Zärtlichkeit empfindet, der aber auch ihre Sinnlichkeit weckt, wenn er die andere liebkost.

In der Pause trinkt Tessa hastig ein weiteres Glas Sekt und beobachtet die Leute. Sie sucht mit den Augen unruhig nach dem Paar und schlendert zur offenen Tür der Loge; auch dort sind sie nicht. Tessa kann sie nirgends entdecken. Vielleicht sind sie schon gegangen. Vielleicht hat er sie überreden können, nach Hause zu fahren. Vielleicht schließt er jetzt schon die Wohnungstür auf und steuert das Schlafzimmer an ...?

Er hat zu kurze Finger, denkt Tessa. Kurze, etwas knubbelige Finger, keine Pianistenhände. Aber der Professor, der sie vor einem Jahr operierte, hatte auch kurze, knubbelige Finger. Also doch Künstlerhände? Jean hat weiche Hände und lange Finger. Hände, die unendlich zärtlich sein können, mit denen er aber auch im richtigen Augenblick fest zupacken kann. Tessa mag es manchmal gern, fest angefaßt zu werden. Wenn Liebe immer nur zärtlich und zuckersüß ist, bekommt man davon Zahnweh, findet sie. Zur rechten Zeit kann es durchaus reizvoll sein, sich hinzugeben, sich ein bißchen ausgeliefert zu fühlen, überwältigt zu werden.

Da sind sie wieder; also doch nicht nach Hause gegangen. Er hält seine blonde Begleiterin im Arm. Jetzt küßt er sie. Tessa mag gar nicht mehr hinschauen, aber die beiden bemerken ihre Umgebung sowieso nicht. Wie es wohl wäre, von diesem Mann geküßt zu werden?

Die Klingel ertönt, die Pause ist zu Ende. Beim Betreten der Loge gibt es ein kurzes Gedrängel, bei dem sich Tessa etwas stärker an den Mann drückt als nötig. Hat er eben tatsächlich den Druck erwidert, oder bildet sie sich das ein? Bekommt sie nach wenigen Wochen Abstinenz nun schon Halluzinationen?

Das Spiel beginnt – auf der Bühne und in der Loge. Seine Hände buhlen wieder um seine Begleiterin. Er lacht und zeigt auf einen Schauspieler. Die blonde Frau beugt sich vor, er folgt ihr mit dem Oberkörper und legt seine linke Hand auf ihre rechte.

Mein Gott, das ist ja nicht mehr mitanzusehen. Warum antwortet ihm dies Weib nicht? Warum faßt sie ihn nie an? Die Frau muß doch aus Eis sein, denkt Tessa. Es kribbelt ihr in den Fingern.

Die Blonde lehnt sich wieder in ihrem Sitz zurück, der Mann hält noch immer ihre Hand und führt sie an seine Lippen, eine unendlich zärtliche, langsame Geste. Slowmotion, und bitte nie ein Ende.

Sie lacht jetzt, die Frau. Tessa findet die Szene auf der Bühne eher makaber, nicht lustig. Aber die dort, die lacht. Er nimmt sie kurz in den Arm und flüstert wieder, dann schüttelt sie ihn ab und lehnt sich übers Geländer, schaut gebannt auf die Bühne.

Diesmal bleibt er zurückgelehnt sitzen. Er sieht jetzt so hilflos, so enttäuscht aus, und seine Nackenlinie gleicht der von Jean. Wie sich seine Haare wohl anfühlen? Wie wäre es wohl, kleine, knubbelige Finger auf der nackten Haut zu spüren?

Tessa beugt sich vor und fährt mit der rechten Hand sanft durch seine grauen Locken. Dann streicheln ihre Finger seinen Hals, sein Kinn, wandern zärtlich zum Nacken zurück. Er sitzt ganz ruhig und entspannt, wehrt sich nicht, schüttelt sie nicht ab, sagt keinen Ton, legt sogar für einen winzigen Moment sein Gesicht in ihre Hand.

Tessas Finger glühen, müssen eine rote Spur auf seiner Wange hinterlassen haben. Sie hat sich verbrannt.

Adieu Jean.

Haut für sechs Hände

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