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Ärger

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Im Ärger zeigt sich besonders deutlich die Ich-Struktur. Er entsteht ausnahmslos deshalb, weil jemand klare und entschiedene Vorstellungen davon hat, wie er etwas haben möchte oder wie etwas sein soll. Entspricht das Verhalten des anderen oder der Gegebenheiten nicht diesen Erwartungen, dann reagiert das Ich gereizt – die gemilderte Form des Ärgers - bis hin zu Wut, Zorn und Hass. Ärger zeigt die Unfähigkeit des Ichs, die Gegebenheiten so zu nehmen wie sie sind, und wenn es nur das Wetter ist, das nicht den Erwartungen entspricht. Das sich ärgernde Ich kann nicht akzeptieren, dass ein anderer seine eigenen Vorstellungen und Erwartungen hat und sie als gleichberechtigt seinen eigenen gegenüberstellt. Es gelingt ihm nicht, den anderen Menschen in seinem Eigensein zu akzeptieren. Könnte es das, dann entstünde statt Ärger ein fruchtbarer Austausch der Gedanken, Wünsche, Vorstellungen und Erwartungen, wie es bei zwei selbständig denkenden und verantwortlich handelnden Individuen der Fall wäre.

Ärger ist immer und ausnahmslos illegitim, d. h. es gibt überhaupt keine Situation, in der Ärger gerechtfertigt ist. Er ist absoluter Ausdruck des Ichs, es bedeutet immer, dass ich nicht zulassen will, dass etwas geschieht, das ich nicht für richtig halte. Und das ist anmaßend, ignoriert das Eigensein des anderen Individuums, maßt sich an, darüber zu bestimmen, was ein anderer zu tun oder zu denken hat. Jeder kennt Ärger und häufig sind die Dinge mehr oder weniger harmlos, über die man sich ärgert. Das kann über die berühmte Zahnpastastube sein, die der andere nicht richtig ausgedrückt hat oder der Klodeckel, der nicht heruntergeklappt wurde. Es kann aber auch die Hautfarbe eines anderen sein, die mich ärgert, oder seine Schlampigkeit oder sein Desinteresse, und schon wird sichtbar, dass es um Wesentliches geht. Die zugrundeliegende Haltung aber ist die gleiche: die Unduldsamkeit eines Ichs.

Da Ärger jeder kennt, halte ich es für angebracht, hier anzusetzen, um das Ich und die Haltung, die sich dahinter verbirgt, zu durchschauen. Wer Interesse daran hat, an seinem Ich zu arbeiten, kann hier am besten ansetzen.

Allein der Satz: „Ich bin gespannt, wann du endlich deine Hose aufräumst“, ganz gleich, ob er vom Mann oder von der Frau gesprochen wird, enthüllt das Ich in all seinen Facetten. Es ist nur ein ganz verhaltener Ärger und doch zeigt er, dass hier ein Ich ist, das den Anspruch erhebt, dass seinen Forderungen Genüge getan wird. Die Beweggründe der anderen Seite, warum die Hose noch nicht aufgeräumt ist, interessieren es überhaupt nicht; es erwartet die Erfüllung seiner Wünsche und Vorstellungen. Wenn diesem Anspruch ein gebrochenes Ich gegenübersteht, das fürchtet, die Liebe des anderen zu verlieren, wenn es nicht dessen Willen erfüllt, dann hat ein ungebrochenes Ich leichtes Spiel. Steht ihm ein starkes Ich gegenüber, dann kommt es zum Konflikt, zum Streit, letztlich mit körperlichen Folgen, und dann entscheidet die körperliche Stärke, wer sich durchsetzt - die primitivste Form, Auseinandersetzungen zu regeln. Unter Staaten entspricht das einem Krieg.

Ärger entsteht, weil man immer klare Vorstellungen hat, wie man etwas haben möchte, wie etwas sein sollte. In der Regel aber richtet sich die Wirklichkeit nicht nach meinen Vorstellungen: Das Wetter ist nicht so, wie ich es gerne haben möchte, das bestellte Essen entspricht nicht meinen Vorstellungen und auch ich selbst erbringe oft nicht die von mir erwarteten Leistungen. Das Leben ist voll von Anlässen, über die ich mich ärgern kann. Besonders der andere Mensch ist es häufig, weil auch er seine Vorstellungen hat, wie etwas sein sollte, und die können oft genau das Gegenteil von meinen Vorstellungen sein. Und schon führt das zu Ärger, Enttäuschung und Konflikt.

Das Ich stößt sich eigentlich unentwegt an etwas, worin letztlich eine tiefsitzende Unzufriedenheit und Unerfülltheit zum Ausdruck kommt. Nichts ist recht, nichts passt und man merkt selber die Unzufriedenheit, für die man eigentlich keinen Grund angeben kann. In der Schizophrenie-Forschung ist von Vulnerabilität die Rede, Verletzlichkeit. Kleinigkeiten des täglichen Lebens, die nicht so sind, wie man es sich vorstellt – dass der Vorhang nicht richtig fällt, dass das Bild schief hängt, dass das Essen zu wenig gewürzt ist, dass die Fransen des Teppichs nicht gleichmäßig ausgerichtet sind - verletzen und beieinträchtigen das Wohlbefinden. Wenn es dem Menschen nicht gelingt, sich davon in einem vernünftigen Maß zu distanzieren und seine Frustrationsschwelle zu erhöhen, dann gilt er als krank. Hierher würde ich auch Fälle rechnen, wo ein Engländer Schadensersatz zugesprochen bekommt, weil an dem Urlaubsort nur Deutsche waren, mit denen er sich nicht unterhalten konnte oder – noch unglaublicher – dass jemand Schadensersatz dafür bekommt, dass er am Urlaubsort mit Behinderten am Nebentisch auskommen musste. Das ist krankhaft übersteigerte Vulnerabilität, die von Gerichten sanktioniert wird! Es ist ein Abbild unserer gesellschaftlichen Einstellung zum Ich.

Wenn der Ärger zu einer unbeherrschbaren Wut wird, dann ist es ein Symptom der Borderline-Persönlichkeit. Ärger und Wut kennt jeder; wann es krankhaft ist, entscheidet der gesellschaftliche Konsens; im Grunde sind es nur Gradunterschiede.

Das Ich ärgert sich, wo das Individuum nur staunt, sich wundert oder eine Ansicht bzw. ein Verhalten als interessant findet. Es ist nicht so, dass man als Individuum den Ärger unter Kontrolle gebracht hat – das ist die Weise des Ichs, mit solchen Dingen umzugehen, und solange man nicht Individuum ist, ist solche moralische Leistung des Ichs durchaus wünschenswert, da es menschliches Zusammenleben ermöglicht -, sondern im Individuum entsteht der Ärger gar nicht mehr, da man nicht mehr der Ich-Haltung unterliegt.

Die Kehrseite des Ärgers ist die Unduldsamkeit, dass jemand nicht zulassen will, dass Dinge anders geschehen als er es für richtig hält. Ein anderer hat es so zu machen wie ich es will, und das ist im Grunde Wahnsinn, wenn z. B. ein Vater darüber bestimmt, welchen Mann seine Tochter heiraten muss, wie es bei uns früher war – Romeo und Julia sind das literarische Beispiel dafür - und heute noch in nicht wenigen Ländern und Kulturen der Fall ist. Wagt es eine Tochter, sich dem zu widersetzen, dann kann sie unter Umständen ihr Leben riskieren. Hier wird die unerbittliche Haltung eines Ichs sehr deutlich sichtbar, es ist aber keine vom Prinzip her andere Weise, als wenn Eltern ihr Kind unbedingt auf eine höhere Schule schicken wollen, auch wenn es offensichtlich nicht dafür geeignet ist. Das Unglaubliche besteht darin, dass sogar in beiden Fällen der Vater bzw. die Eltern überzeugt sind, aus Liebe zu ihrem Kind zu handeln und gar nicht sehen können, wie sehr es ihr Ich in seinen Vorstellungen ist, das ihre jeweilige Absicht bestimmt. Auch hieran kann man aufzeigen, wie viel Leid durch die Ich-Haltung in die Welt kommt.

Nimmt diese Haltung politische Formen an, dann zeigt sie sich im terroristischen Fundamentalismus mit seinen Selbstmordanschlägen oder im Nationalsozialismus mit seiner Vernichtung Andersdenkender. Immer, wo andere Menschen unterdrückt werden, steht im Hintergrund die Haltung, dass jemand nicht zulassen will, dass ein anderer sein eigenes Leben führt und gestaltet. Und das ist genau die Ich-Haltung. Nur das, was ich für richtig halte, wie ich es sehe, was ich will, darf gelten und muss auch für den anderen gelten. Und diese Haltung zeigt sich schon im kleinsten Kindesalter, noch dazu wenn es durch eine partnerschaftliche Erziehung, die heute gang und gäbe ist, gefördert wird. Die erschreckenden Konsequenzen hat Winterhoff in seinem Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ aufgezeigt.

Der ganz normale Wahnsinn

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