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2. Ich und Individuum Das Ich

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Es ist nicht leicht zu beschreiben, was ich unter „ Ich“ verstehe, denn im Grunde gibt es so viele Aspekte des Ichs wie es Menschen gibt, das zeigen die zitierten Fälle aus der Süddeutschen Zeitung. Wenn jemand in diesen sieben geschilderten Fällen keinen Zusammenhang sieht, dann hoffe ich, dass es mir gelingt, den aufzuzeigen. Es gibt eine Grundstruktur im Menschen, die durch den Charakter eines Menschen, seine Erziehung und Umwelteinflüsse verschiedene Gestalt annehmen kann, aber dennoch als solche Grundstruktur erkennbar bleibt. Sie ist im Prinzip bei allen Menschen die gleiche, nur ihr Erscheinungsbild kann sehr verschieden sein. Es ist die Struktur des Ichs.

Dabei muss man noch zwischen Individuum und Ich unterscheiden. Jeder Mensch ist vom anderen unterschieden, das zeigt sich allein schon im Fingerabdruck. Diese Einmaligkeit jedes Menschen hat aber nichts mit dem Ich zu tun, was vielleicht nicht sofort einsichtig ist. Vielleicht lässt es sich auf folgende Weise nachvollziehbar machen: Jeder Mensch ist einmalig und damit etwas Besonderes, und insofern ist dies gar nichts Besonderes, da es ja jeden Menschen betrifft. Wenn jeder etwas Besonderes ist, dann hebt sich das faktisch auf. Das Ich des Menschen nimmt nun diese Besonderheit für sich in Anspruch im Gegensatz zu allen anderen, er fühlt sich als etwas Besonderes und spricht allen anderen ab, etwas Besonderes zu sein. Das Individuum hingegen respektiert das Besonderssein des anderen. Das Ich wiederum nimmt für sich in Anspruch, allein etwas Besonderes zu sein und kann nicht sehen, dass auch andere dieses Recht in Anspruch nehmen könnten oder dürften. Diese Voreingenommenheit für sich selbst ist eines der wesentlichen Kennzeichen der Ich-Struktur. Damit schließt der Mensch die anderen aus, er überhebt sich über sie, er fühlt sich als mehr, besser und höherstehend als die anderen.

Der Mensch im Ich ist wichtig, fühlt sich wichtig und erwartet von allen anderen, dass er vor allen anderen als wichtig anerkannt wird. Wohl die meisten Menschen erleben sich als Zentrum ihres Bewusstseins und damit als Zentrum ihrer Welt und glauben, dass sie das sind und können sich gar nicht vorstellen, dass das nur ein Teil ihres Menschseins ist, sogar ein Teil, der überwunden werden und der seine Vorherrschaft aufgeben muss, will man zum umfassenden Menschsein vordringen.

Der Mensch als Individuum weiß sich wichtig, was aber keiner besonderen Betonung bedarf, und er kann auch die Wichtigkeit des anderen anerkennen, weil er sich aufgehoben weiß in einem alles umfassenden Bewusstsein, das sein eigenes Bewusstsein umgreift.

Dadurch, dass der Mensch in der Ich-Haltung sich allein als wichtig ansieht und die anderen ausschließt und abwertet, schottet er sich gleichzeitig von ihnen ab, er isoliert sich, errichtet eine Mauer zwischen sich und den anderen. Und diese Mauer besteht nicht nur zwischen dem Ich und der Welt, sondern sie verläuft auch im Menschen selbst. Durch sein Ich-Sein ist er auch von sich selbst, den Wurzeln seiner Existenz und seiner Lebensgrundlage getrennt, wie ich im Abschnitt über die Spaltung gezeigt habe. Dass der Mensch sich selbst entfremdet ist, wie man dieses Getrenntsein von sich selbst auch bezeichnen kann, davon ist in der christlichen Religion genau so die Rede wie bei Karl Marx, womit ich zeigen will, dass diese Erkenntnis quer durch alle Denkrichtungen geht. Im christlichen Denken ist Getrenntsein gleichzusetzen mit absondern, was in dem Begriff Sünde – von „sondern“ – enthalten ist. Es ist symbolisch im Engelsturz dargestellt:

Das Ich ist Luzifer, der Lichtträger, ein Teil Gottes oder des universalen Geistes, der sich von seinem Ursprung getrennt und verselbständigt hat, der seine Herkunft vergessen hat und glaubt, aus sich selbst heraus etwas zu sein. Dabei geht es nicht um die Frage, wie es dazu kommen konnte – darüber kann man nur spekulieren -, sondern wie die Beziehung zum Ursprung wieder hergestellt werden kann, damit der Mensch zur Erfüllung seines Menschseins kommen kann. Das ist ein existenzielles Problem.

An folgender Stelle aus dem Roman von I. Yalom, Die rote Couch, kann man sehr schön demonstrieren, was ich unter dem „Ich“ verstehe:

Eine Frau, Carol, wurde von ihrem Mann verlassen, worüber sie nur froh sein kann, was ihr zwei Freundinnen klarzumachen versuchen. Diese Freundinnen wollen nun mehr über die Hintergründe erfahren:

„Also“, fragte Norma, „willst du damit sagen, dass du die Ehe nur aufrechterhalten hast, um ihn zu bestrafen?“

Carol schüttelte gereizt den Kopf. „Ich habe mir vor langer, langer Zeit geschworen, dass mich kein Mann jemals wieder sitzen lassen würde. Ich würde ihn wissen lassen, wann er gehen kann. Das entscheide ich! Justin ist nicht weggegangen – dazu hat er nicht den Mumm: Er wurde von irgend jemandem weggeschleppt oder weggekarrt. Und ich will herausfinden, wer sie war. Vor einem Monat hat mir meine Sekretärin erzählt, sie hätte ihn im Yank Sing gesehen, mit einer sehr jungen Frau, ungefähr achtzehn Jahre alt, ganz guter Dinge, und sie hätten zusammen Dim Sum gegessen. Wisst ihr, was mich daran am meisten genervt hat? Die Dim Sum! Ich liebe Dim Sum, aber mit mir ist er nicht einmal Dim Sum essen gegangen. Bei mir wird der Bastard schon von Glutamat krank und kriegt Kopfschmerzen, wenn er auch nur eine Landkarte von China sieht. (S. 87)

Ich möchte diesen Auszug aus dem Roman dazu benützen, um einen wesentlichen Aspekt dessen aufzuzeigen, was ich unter „Ich“ verstehe.

„Sie schüttelt gereizt den Kopf“: Sie fühlt sich von ihren Freundinnen missverstanden. Nun hätte sie die Möglichkeit, das Missverständnis sachlich als solches aufzuzeigen. Es ist ganz normal, dass wenn man jemandem etwas erklärt, er nicht gleich versteht, wie etwas gemeint ist. Dass sie „gereizt“ reagiert, macht ihr Ich sichtbar, das erwartet, dass der andere Hellseher ist und sich so auf sie einstellt, dass er sie ohne ihre Mithilfe versteht. Es ist im Grunde die Haltung, dass sie erwartet, dass man ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen kann und so auch ohne weiteres doch verstehen muss, was sie meint. Das sind typische Starallüren. Naomi Campbell reagiert ständig gereizt! Deutlicher kann das Ich gar nicht in Erscheinung treten als darin, dass es für alle anderen der alleinige Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein beansprucht und erwartet, dass alle anderen sich in sie einfühlen und ihre Gedanken und Wünsche erraten und denen selbstverständlich Rechnung tragen. Für so ein Ich ist es fraglos, dass die anderen bemüht sind, alles zu tun, um sie zufrieden zu stellen. Schöne Frauen sind darin besonders gefährdet.

Auf die schmerzliche Erfahrung, die wohl jede Frau in ihrem Leben einmal macht, dass sich ein Mann von ihr trennt, reagiert sie in einer völlig übersteigerten Weise: Sie ist unfähig, ihren Anteil daran zu erkennen, und die alleinige Schuld liegt beim Mann. – Ich würde es keinen Tag mit ihr aushalten! – Sie ist dermaßen in ihrem Ich verletzt, dass sie sich schwört, nie mehr Opfer sein zu wollen, sondern nur noch der Täter. Sie hat erlebt, dass nicht alles machbar ist im Leben, insbesondere die Liebe nicht, und genau das kann sie nicht akzeptieren. Wenn sie schon nicht die Macht hat, die Trennung zu verhindern, dann will sie wenigstens insofern noch die Kontrolle darüber haben, dass sie den Zeitpunkt bestimmt. Die Dinge im Griff und unter Kontrolle haben zu wollen ist aber eine erklärte Eigenschaft des Ichs.

Die absolute Überzeugtheit von ihren Qualitäten, die eigentlich jeden Mann veranlassen müssten, sich unaufhörlich vor ihr niederzuwerfen und um die Gnade ihres Anblicks zu flehen, macht es ihr unannehmbar, zu denken, dass ein Mann sich für eine Trennung von ihr entscheiden könnte. Wenn sie das zu sehen zulassen würde, würde das wohl den sicheren Zusammenbruch bedeuten. So rettet sie sich mit dem Gedanken, dass nur eine Hexe – also eine 18-jährige, die den Mann verzaubert und so in Bann schlägt, dass er willenlos wird – dazu in der Lage ist.

Wie wenig es ihr in der Beziehung zu diesem Mann um Liebe gegangen ist, zeigt die Geschichte mit dem Dim Sum: Liebe bedeutet ein sich Einlassen auf einen anderen Menschen, ein sich öffnen. Liebe beinhaltet ein Transzendieren des Egos, ein – wenigstens bruchstückhaftes - Absehen vom eigenen Ich und eine Hinwendung zu einem anderen Individuum. Sie bedeutet die Wahrnehmung eines anderen als ein eigenständiges Wesen, das ich nicht beherrschen will und kann, sondern das ich in seiner Eigenständigkeit wahrnehme und zu akzeptieren versuche. Die Sache mit dem Dim Sum zeigt, dass ihr gar nichts an ihm als Mensch gelegen ist, dass sie gar nicht versucht hat, zu ihm als Mensch eine Beziehung aufzubauen, sondern dass sie erwartet, dass ihre Wünsche gesehen und erfüllt werden. Sie ist der Mittelpunkt und um sie muss sich im Denken des Mannes alles drehen.

Das ist ihr Anspruch und ihre Erwartung – der Anspruch und die Erwartung des Ichs, jeden Ichs! Die Realität – in diesem Fall der Mann – aber zerstört diese illusionäre Erwartung, muss sie zerstören, wenn das Ich nicht größenwahnsinnig werden soll, und die richtige Reaktion wäre, seine ichhaften Ansprüche in ihrer Ichhaftigkeit zu erkennen. Dies geschieht aber bei der Frau nicht, sondern sie beharrt auf ihrer Egozentrizität und weist alle Schuld dem Mann zu, den ihr ganzer Ärger trifft. Mit ihr, die doch so wichtig ist und so königlich, die doch im Mittelpunkt seines Denkens und Handelns gestanden haben müsste, mit ihr ist er nie Dim Sum essen gegangen – aus welchen Gründen auch immer, wahrscheinlich, weil ihre selbstverliebte und egobezogene Art seine Liebe zum Erkalten gebracht hat. Ich vermute, dass er wirklich nicht gern chinesisch essen gegangen ist, dass aber das Entflammtsein für dieses junge Mädchen seine Vorbehalte hinweggefegt hat und er sich hat umstimmen lassen.

Der ganz normale Wahnsinn

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