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VII.

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Inhaltsverzeichnis

Das Gutachten Venturis beantwortet in so erschöpfender Weise alle Fragen, welche sich über die pathologische Persönlichkeit des Antonino M… erheben könnten, daß ich kein Wort hinzufügen werde.[4]

Venturi hatte gleichzeitig mit Lombroso darauf hingewiesen, daß in dem geborenem Verbrecher ein atavistisches Produkt, eine Fusion der Epilepsie und des moralischen Irrsinns vorliegt. Später, in seinem Buch über die Degenerazioni psicosessuali stellte er als biologisches Merkmal des instinktiven Verbrechertums (des geborenen Verbrechers Lombrosos) nicht mehr die erbliche Perversität, sondern die Tendenz der Rasse und der Art zur Selbstvernichtung auf, vermittelst Individuen, welche dazu gehören, und welche, indem sie sich selbst oder anderen schaden, entgegengesetzt wie das Genie handeln.

Jetzt hat Venturi Gelegenheit, in M…, dessen Biographie ich veröffentliche, die wahrhafte Verkörperung des Typus des geborenen Verbrechers vorzustellen, in welchem die Krankhaftigkeit und die bösartige Tendenz zum Schlechten, die von selbst ohne erkennbaren Nutzen für den Handelnden, in Thätigkeit tritt, vereinigt sind, wodurch M… als ein antibiologisches, antisoziales Wesen erscheint.

Dies vorausgeschickt gelange ich dazu, einige Worte über die Selbstbiographie des M… zu sagen.

Es ist nichts Gewöhnliches, daß die Verbrecher ihre Memoiren schreiben, und ich will dreist behaupten, daß der Fall einer so genauen und detaillierten Schilderung, die mehrere Male unterbrochen und wieder aufgenommen wird, äußerst selten ist.

Professor Lombroso hat in seinen Palimsesti del Carcere einige dieser Schriften gesammelt, die alle sehr verworren sind und oft den Eindruck der Verrücktheit machen. Zum großen Teil stammen sie von Verbrechern, welche pathologisch dem M… ähnlich, d. h. moralisch irre und epileptisch sind.

M… ist kein Schriftsteller, um so wunderbarer ist seine mechanische Art zu erzählen und sein Versuch, den Ereignissen und den begleitenden Umständen eine gewisse objektive Darstellung zu verleihen. Er hat Phantasie im Übermaß, oft entdeckt man in der verschwommenen Form die Tendenz, zu abstrakten Begriffen zu gelangen, aber, wie er sagt, seine Feder vermag dem Faden seines Gedankens nicht zu folgen.

Wenn man ihn genauer definieren will, so ist er ein Graphomane; die regelmäßige, gedrängte Schreibart, die in langen und geraden Linien seine großen Blätter bedeckt, die Vorliebe für gewisse Konstruktionen, die Wiederkehr der Widmungen und die Wiederholung gewisser Phrasen in einer gegebenen Form lassen es vermuten. Aber was mich in dieser Ansicht noch mehr bekräftigt, sind folgende zwei Thatsachen.

1 Die vollständige Nutzlosigkeit der Memoiren, die anstatt ihn zu rechtfertigen bezüglich der Verbrechen, wegen deren er bestraft wurde, noch andere nicht minder schwere ans Licht bringen, wie z. B. das schamlose Verhältnis mit dem Korporal Alfonso S… und den Mordversuch auf den Lieutenant.

2 Die zweite Thatsache ist etwas verwickelter. Die Thätigkeit des Schriftstellers richtet sich nach gewissen Graden der Kulturhöhe und des sozialen Nutzens. Ein Volk fängt an, Bücher zu besitzen, wenn es zu einem gewissen Grade der Entwicklung gediehen ist, wo diese Form einer präziseren geistigen Manifestation sich ihm als ein Fortschritt darstellt. Die wilden Völkerschaften schreiben keine Bücher, so lange ihr Dach bedroht, ihr Lebensunterhalt dürftig und ihr Leben stets gefahrumgeben ist. Die Abessinier, welche doch das erste Volk Afrikas sind, haben als ganze Litteratur einige Gebetbücher, welche nur von den Priestern verstanden werden. Und die Buschmänner hatten einige Fabeln und Sprichwörter in den Zeiten ihres Glücks, aber nach ihrem Verfall verloren sie auch diese primitive Litteratur. So geht es auch mit den Menschen. Wenn ein Individuum ohne Bildung, ohne höheres Wissen, dessen Existenz stets eine Kette von Elend war, litterarisch thätig ist, so ist das entschieden eine anormale Erscheinung.

Er mag ein Genie sein, aber da die Genies sich leider nicht an jeder Straßenecke finden, so wird er in 999 Fällen unter 1000 ein Narr sein.

Antonino M… konnte kein regelrechter Schriftsteller sein, da er es auch nicht als Mensch war, höchstens konnte der Mangel an moralischem Bewußtsein ihm den Vorzug einer auffälligen innerlichen Aufrichtigkeit geben …

Unter diesem Gesichtspunkt sind seine Memoiren ein wichtiges Dokument für das Studium gewisser »Aufrichtigkeiten« alter und neuer Schriftsteller. Von den Bekenntnissen J. J. Rousseau's bis zu den Memoiren Casanovas, bis zu gewissen Hymnen Paul Verlaine's auf sein péché radieux, um von anderen übel berufenen Zeitgenossen zu schweigen, und bis zu dieser Selbstbiographie herab – das psychologische Phänomen ist immer dasselbe und läßt sich in zwei Formeln zusammenfassen: Mangel an moralischem Bewußtsein und Eitelkeit.

Ich glaube, daß die Intelligenz sehr wenig mit dem moralischen Bewußtsein zu thun hat: Pritchard, Pinel, Nicholson, Maudsley, Tamassia – alle stimmen darin überein, daß sie bei den moralisch Irren den Intellekt vollständig in Ordnung fanden. Höchstens könnte nach Zelle, Mac Ferland, Gray eine gewisse Schwäche oder Unregelmäßigkeit vorliegen oder nach Campagne eine Absonderlichkeit[5], die sich aber, wie Morel bemerkt, in einem besonderen intellektuellen Habitus, in einer Gewandtheit im Sprechen, Schreiben oder einer Kunstfertigkeit mit Vorherrschung der Tendenz zum Paradoxen äußern kann. Und Venturi glaubt, daß, während bei Verbrechern die gewöhnliche Intelligenz mangelhaft ist, die höhere Intelligenz nicht selten vorkommt.

Das Wort Aufrichtigkeit ist eines von denen, deren Bedeutung oft mißbraucht werden: es kann nicht absolut verstanden werden, weil die Aufrichtigkeit meist eine subjektive ist, sie ist, sozusagen dem Lügen entgegengesetzt. Aufrichtigkeit besteht trotz gewisser konventioneller Formen, wie z. B. die Scham, der Anstand &c., welche die Wahrheit verbergen und dennoch nicht Lüge genannt werden können; wie übrigens auch der Wilde und das Kind immer lügenhafter sind, als der zivilisierte Mensch, trotzdem sie durch Scham oder Anstand nicht befangen sind.

Venturi macht gegenwärtig in einer Abhandlung, welche in der von Tonnini in Palermo veröffentlichten Revue erscheint, die Lüge zum Gegenstand des Studiums und faßt sie als ein Phänomen der Degeneration auf, das seinen Ursprung in den Familien hat, aus denen die Lügner hervorgehen. Ebenso möchte ich sagen, weshalb könnte nicht auch die Aufrichtigkeit, wenn sie sich mit unwiderstehlicher Tendenz und ohne Nutzen für das Individuum selbst äußert, eine Thatsache degenerierter Anlage sein, eine jener Äußerungen des Verbrecher-Charakters, der sich oft mit der Eitelkeit vermengt, einer jener Defekte, deren die Verbrecher so voll sind?

Ich will hier keine Psychophysiologie der Aufrichtigkeit schreiben, um so weniger, als es für das, was ich sagen will, mir genügt, eine anerkannte Wahrheit anzuführen: nämlich daß wir mit Vernunft aufrichtig sind, insofern wir unnütze Vorurteile bekämpfen, aber daß das keine normale und gesunde Aufrichtigkeit mehr ist, die nicht die Bedeutung fühlt, welche gewisse Gewohnheiten mit dem Gange der Entwicklung genommen haben. Wer nicht den Druck der Scham empfindet, wenn er seine sexuellen Schändlichkeiten aufdeckt und sich ohne Schaudern einer Blutthat rühmt, der thut nicht mehr und nicht weniger als der Wilde, in dem das Gefühl der Scham noch nicht erweckt ist und der barbarische Krieger, der sich den Skalp der getöteten Feinde als Trophäe an den Gürtel hängt.

Diese Dinge mit liebevoller Genauigkeit zu erzählen und mit Wohlgefallen zu anatomisieren, das ist etwas, was der normale Mensch vergebens versuchen wird. Jeder wird in seinem Leben seinen abnormalen Impuls gehabt haben, aber er wird sich bemühen, ihn zu vergessen; und nicht einmal einer besonderen Anstrengung wird es dazu bedürfen, denn bei den nicht degenerierten Menschen unterdrückt die Vernunft, der kritische Sinn gewissermaßen automatisch die Abnormalität des Aktes.

Den moralisch Irren fehlt dieser kritische Sinn, die Intelligenz gehorcht den Impulsen und hemmt sie nicht, sie dient ihnen gern und sucht sie zu rechtfertigen. Sie töten – und sie werden beweisen, daß das Leben eines Menschen das eines andern wert ist. Sie verführen ein unerfahrenes Mädchen und verlassen es – und sie werden das Recht der freien Liebe predigen. Sie sind Päderasten – und sie werden sagen, es ist erlaubt, weil es möglich ist.

Im Leben stellt sich das deutlicher dar, als geschrieben. Denn beim Schreiben schärft sich die Intelligenz, ein Schimmer von Verständnis für das, was schändlich und unehrenhaft ist, bricht sich Bahn, es giebt keinen Menschen, er sei denn Idiot, der so niedrig ist, daß er nicht ein Streben nach etwas besserem oder weniger Unvollkommenem fühlt. Aber ein anderes ist die Moralität, ein anderes die Erkenntnis des Moralischen.

Zuweilen giebt sich wohl ein solch kleiner Fonds von kritischem Sinn zu erkennen, und daraus resultieren dann die lyrischen Stellen, die anscheinenden Gewissensbisse. Aber die Erzählung geht weiter, ohne Rückhalt, und der Verfasser zeigt sich in der Aufdeckung der Thatsache, so wie er wirklich ist, mit einer Selbstgefälligkeit, wie sie nur ein Exhibitionist haben kann, der seine Geschlechtsorgane zeigt.

Die Eitelkeit ist das erste Agens; ihre autobiographischen Erzählungen entspringen der Vermutung, daß sie hervorragend interessante Individuen sind, und daß ihre Erlebnisse große Bedeutung haben. Und da sie einen großen Teil ihres Seelenlebens ausmachten, so empfinden sie das Bedürfnis, sie sich wieder vor ihr geistiges Auge zu führen.

Es ist dasselbe Bedürfnis, welches viele ungebildete Menschen empfinden, sich den Namen ihrer Geliebten oder ihre Verbrechen in die Haut zu tätowieren. Es wird genügen, das schöne Beispiel eines Verbrechers zu zitieren, den Prof. Santangelo[6] beschreibt und der 106 Tätowierungen auf dem Leib trug, aus denen man seinen ganzen Lebenslauf rekonstruieren konnte.

M… ist ein vollendeter Typus des moralisch irren und epileptischen Schriftstellers; der Mangel an kritischem Sinn und Gerechtigkeit tritt klar hervor, und die Eitelkeit zeigt sich auf jeder Seite des Buches. Wenn er studiert hätte, würde er als Schriftsteller manchem Zeitgenossen ebenbürtig zur Seite treten. Die Kenntnis der Moral würde tiefer gewesen sein und festeren Halt gewonnen haben. Statt dessen mußte er nun notwendiger Weise auf dieser Stufe litterarischer Entwickelung stehen bleiben, wo der Intellekt die Dinge in der Gestalt sieht, wie sie den andern erscheinen; die unbewußte Nachahmung hat noch nicht der unmittelbaren selbständigen Anschauung Platz gemacht, welche die Originalität ausmacht.

So ist für ihn der große Meister des Stils Francesco Mastriani, jener populäre Zola, der den Naturalismus zur Trivialität und die Romantik zur weichlichen Sentimentalität herabgezogen hat.

Und diese Empfänglichkeit, diese unbewußte Zugänglichkeit für fremde Einflüsse zeigt sich besonders in seinen Dichtungen. Neue Wörter, die er liest, bleiben ihm haften, wenn er ihnen auch nur schwer einen ihm verständlichen Sinn beizulegen vermag, den er durch eine volksetymologische Deutung zu ermitteln und durch entsprechende orthographische Abänderungen festzuhalten sucht.

Deshalb scheint mir, könnten diese Memoiren auch für das Studium des Phänomens eines in der Bildung begriffenen Schriftstellers von Interesse sein.

Der Roman eines geborenen Verbrechers Selbstbiographie des Strafgefangenen Antonino M...

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