Читать книгу GRAHAMS WIDERSTAND (Survivor 3) - A.R. Shaw - Страница 8
Pflichtlektüre
ОглавлениеMacy zog ihre Füße aus den Wanderstiefeln und lehnte sich im Bürostuhl zurück. Mit einem absichtlich lauten Geräusch legte sie ihre Füße, an denen sie selbst gestrickte Socken trug, auf den Metalltisch. Durch die festgesteckte Zelttür war der herabprasselnde Frühlingsregen zu hören. Mit einem lauten Seufzen wandte sie sich dem nächsten Kapitel des Funkhandbuchs zu, das Rick ihr zum Lesen gegeben hatte. Mit Mühe versuchte sie, sich in die mäandernden Texte von jemandem zu vertiefen, den sie für einen absolut verrückten Nerd hielt.
Als Macy las, hörte sie auf einmal ein sehr merkwürdiges Knarren im Funkgerät, das vielleicht ein besonders eigentümliches statisches Rauschen war. Sie hörte eine Weile zu, entschied dann, dass es nichts weiter als eine Störung war, und griff nach dem Lautstärkeknopf, damit sie sich wieder auf dieses nervige Handbuch konzentrieren konnte. Das ganze Ding war voll mit einer für sie nicht verständlichen Fremdsprache. Dreimal las sie den letzten Absatz des aktuellen Kapitels, und dennoch gelang es ihrem Verstand nicht, das Ohmsche Gesetz und seine Formel Strom gleich Spannung geteilt durch Widerstand zu verstehen. Genauso wenig konnte sie nachvollziehen, warum Volt wichtiger als Watt sein sollte, geschweige denn, warum das jetzt überhaupt noch jemanden interessieren sollte. Aber Rick war unerbittlich. Sie wusste, dass er die Standards der alten Welt unbedingt beibehalten wollte, aber das hier, das war einfach lächerlich. »Ach leck mich doch!« Macy warf das Funkhandbuch für ARRL-Techniker genervt zu Boden, was Sheriff aufschreckte, der gerade sein Mittagsschläfchen begonnen hatte.
»Warum sollen wir uns denn noch an diese alten Regeln halten?«, fragte sie Sheriff, der ein wenig grummelig wirkte. Der Hund stellte die Ohren auf und neigte seinen Kopf zur Seite, als wolle er sagen: Verdammt, woher soll ich das denn wissen? Stell mir gefälligst nicht solche bescheuerten Fragen, Mädchen.
Macys Stuhl quietschte leise, als sie sich bückte und ihre Finger in seinem Fell versenkte, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. »Du hast dich auf dieses neue Leben viel besser eingestellt als wir, nicht wahr, Junge?«
Sie glaubte nicht, dass Sheriff sich besonders für ihre Frage interessierte, viel wichtig schien ihm zu sein, dass sie die richtige Stelle hinter seinem linken Ohr fand. Sie sah zu, wie seine Augenlider langsam über den tiefbraunen, seelenvollen Augen nach unten gingen, als sein ganzer Körper entspannt in seine Komfortzone eintauchte.
Als sie das Kraulen gerade unterbrechen und das weggeworfene Handbuch wieder aufheben wollte, kam Rick ins Kommunikationszelt geschlendert. Er sah das Handbuch auf dem Boden, hob es auf und gab es ihr. »Wie läuft es denn so? Irgendwelche neuen Kontakte?«
Als ob!
»Nein, alles wie immer. Da draußen ist niemand, Rick. Es gibt nur uns. Ich weiß gar nicht, warum wir immer noch nach Signalen von anderen suchen«, beschwerte sich Macy.
Er schlug ihr spielerisch auf die Schulter. »Eines Tages könnten wir Glück haben. Auf der anderen Seite könnte genauso gut eines Tages jemand unser Signal auffangen und feststellen, dass es noch mehr Überlebende gibt. Man weiß nie, und ein wenig Glaube und Hoffnung kann doch nicht schaden. Glaube und Hoffnung, Macy. Was ist heute bloß los mit dir? Normalerweise bist du doch eher der optimistische Typ, aber du wirkst etwas niedergeschlagen. Was ist passiert, Mace?«
Sie starrte ihn an. Verdammt, er hat mich. Rick mochte es, Macy zu necken, aber er behandelte sie auch wie eine jüngere Schwester. Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass er sehen konnte, wie sie sich fühlte. Sie hatte ganz vergessen, bei wem sie sich da gerade beschwerte, und nun war sie gezwungen, ihre Gefühle mit ihm zu teilen. Gab es etwas Schlimmeres?
»Nichts, mir geht es gut«, log sie und hoffte, Rick würde endlich von ihr und ihrer leicht melancholischen Stimmung ablassen. Als sie das Handbuch zuklappte und ihre Wanderschuhe anzog, um sich auf den Weg zurück zu Grahams Camp zu machen, vermied sie bewusst seinen Blick.
Rick kratzte sich an seinem bärtigen Kinn, während er sie aufmerksam musterte. Macy konnte geradezu körperlich spüren, wie seine Augen noch immer auf ihr ruhten. »Okay, wenn du jetzt nicht darüber reden willst, ist das deine Sache, aber ich bin für dich da, wenn du mich brauchst. Okay?«
Sie schaute zu ihm hoch und nickte. Es gab eine Menge, was gerade in ihr vorging und was sie auf keinen Fall herauslassen durfte. Sie konnte einfach nicht anders. Sie wollte weder Graham noch Rick mit ihren Problemen belasten, und im Moment war auch ihre Schwester weit davon entfernt, diejenige zu sein, mit der sie sprechen konnte.
Macy fühlte sich in letzter Zeit oft den Tränen nahe. Der lange Winter war vorbei, der Frühling brachte Blumen und Hoffnung, aber es regnete eindeutig zu viel, um sie für längere Zeit glücklich zu machen. Tala würde sie verstehen, aber die hatte gerade genug damit zu tun, ihre Angst um ihr ungeborenes Kind zu bekämpfen. Macy konnte sich ihr jetzt unmöglich anvertrauen. So, wie die Dinge momentan lagen, versuchten sie, Tala so weit wie möglich aus allem herauszuhalten, weil sie alle Hände voll damit zu tun hatte, sich um ihr eigenes Leben zu kümmern. Tala sollte sich lieber soweit wie möglich auf die anstehende, hoffentlich problemlose Geburt konzentrieren, von der ihrer aller Zukunft abhing.
Macy band ihre Stiefel zu Ende und zog dann ihren grünen Regenmantel an. »Danke, Rick«, sagte sie. Von hinten kam jetzt Sheriff angestürmt und stieß gegen ihre Wade, als er an ihr vorbeirannte, um sie nach draußen zu begleiten.
Im Nieselregen vor dem Zelt winkte sie Daltons Jungen, Hunter und Kade, zum Abschied zu. Pflichtbewusst trugen diese gerade Brennholz von einem Ort zum anderen. Der kleine Bruder stapelte dabei die Scheite auf die ausgestreckten Arme seines größeren Bruders. Hunter schaffte es, trotz der Ladung Holz in seinen Armen ansatzweise zu winken und Kade rief ihr hinterher: »Bye, Macy!«
Sie lächelte in sich hinein, während sie sich auf den Weg zur Brücke über den Skagit River machte. In Moment wie diesem gelang es ihr manchmal, die Lücke zwischen dieser und ihrer Welt wieder zu schließen. Zweimal pro Woche ging sie in das Lager der Prepper und übernahm dort ihre Schicht im Kommunikationszelt, um so viel von Rick zu lernen, wie sie nur konnte … und um nebenbei ab und zu aus Grahams Camp herauszukommen. Sie brauchte das, um wieder ein wenig Normalität zu erleben und um vor etwas fliehen zu können, das sie gar nicht benennen konnte.
Als sie sich dem rauschenden Fluss näherte, fiel ihr auf, dass ein Gespräch mit einem menschlichen Begleiter, den es gar nicht gab, weil nur Sheriff neben ihr lief, gar nicht möglich gewesen wäre, denn das Wasser war ohrenbetäubend laut. Seit der Frühling begonnen hatte und die Schneedecke zu schmelzen begann, war nicht nur der Fluss von einem Rinnsal zu einem mächtigen Strom angewachsen, auch die Erde selbst vermischte sich mehr und mehr mit Schmelzwasser und wurde dick und schlammig. Die einstigen Bewohner dieser Gegend hatten diese Jahreszeit unter dem Namen Schlammsaison gekannt.
Der Regen nahm jetzt immer mehr zu, und Macy blieb eine Minute stehen, um ihre Jacke zu schließen, damit ihre Pistole, die in einem Holster an ihrer Seite steckte, nicht nass wurde. Als Sheriff stehen blieb, bemerkte Macy, dass die dicke braune Masse seine Pfoten komplett bedeckte.
Als sie die Brücke erreichten, zögerte Sheriff, ihr zu folgen. Als Macy schon halb auf der anderen Seite war, drehte sie sich um, klopfte sich auf den Oberschenkel und rief ihn zu sich.
»Du bist wirklich ein ganz schöner Angsthase, was?«, fragte sie ihn, als er langsam die Brücke betrat, bevor er so schnell er konnte, an ihr vorbei auf die andere Seite des Flusses rannte. Sobald sie die Holzbohlen der Brücke verlassen hatte, versanken ihre Stiefel sofort wieder in der feuchten Erde, und es bereitete ihr einige Mühe, in dem rutschigen Matsch nicht hinzufallen, bis sie festeren Boden erreichte.
Sie gingen nun weiter in den Wald hinein, wo es den Regentropfen schwerer fiel, durch den immergrünen Baldachin aus Blättern zu dringen. Hier versanken ihre Füße nicht mehr im Schlamm, sondern traten auf ein Bett aus weichen Nadeln, die bei jedem Schritt ein frisches Kiefernaroma aussandten. Dieser Abschnitt des Weges gefiel Macy immer am besten. Hier, tief im Wald, fühlte sie sich im Einklang mit sich und der Welt. Es war fast so, als durchwanderte sie still ihre eigenen Gedanken. Hier konnte sie sich in Ruhe mit ihren Sorgen auseinandersetzen. Wie so oft ließ sie sich auch dieses Mal Zeit auf ihrem Heimweg unter dem grünen Dach des Waldes und siebte und sortierte all die verwirrenden Ereignisse der Vergangenheit und Gegenwart aus. Nachdem Ennis gestorben war, hatte sie die meiste Zeit im Wald verbracht, weil sie sich ihm an diesem Ort am nächsten gefühlt hatte. Graham hatte sie in den Tagen danach mehr als einmal im Wald gefunden. Er hatte gewusst, dass sie Abstand brauchte, und hatte sie lediglich darum gebeten, ihm Bescheid zu geben, bevor sie das Camp verließ.
Macy hatte Grahams Bitte akzeptiert und war nie zu lange draußen geblieben, weil sie nicht wollte, dass er sich Sorgen um sie machte. Obwohl sie immer langsamer ging, näherte sie sich viel zu früh der Helligkeit des Tages, die am Ende ihres Weges durch das immer lichter werdende Blätterdach brach. Macy und Sheriff tauchten in dem Moment aus dem Wald auf, als der Regen nachließ und der Schlag eines Hammers einen Nagel in sein Ziel trieb.