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Der Wunsch, sie zu heilen

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Sheriff rannte voraus, um Bang zu begrüßen, als sie die Lichtung von Grahams Camp betraten. Bang stand in der Nähe der Leiter und wartete geduldig darauf, Graham die nächste Schindel aus Zedernholz hochzureichen, die anschließend ihren Platz neben den anderen auf dem Dach des neuen Anbaus fand. Graham hatte einen Nagel zwischen seine Lippen geklemmt und murmelte ein Hallo, als er Macy sah.

Er bemerkte, dass sie ihm im Gegenzug zwar anlächelte, ihre Körperhaltung aber etwas ganz anderes ausdrückte. Um sie und um Bang machte sich Graham besonders Sorgen. Beide hatten sich nach dem Tod von Ennis komplett aus der Gruppe zurückgezogen. Er vermutete, dass Bang um Ennis trauerte, sich aber zugleich auch schuldig fühlte wegen der Rolle, die er bei Addys Behinderung gespielt hatte – schließlich war er derjenige gewesen, der sie dem Virus ausgesetzt hatte, wegen dem sie jetzt für alle Zeiten taub war. Was Macy anbetraf, nahm er an, dass Ennis Tod ihre Trauer über den Verlust ihrer eigenen Eltern und die Unsicherheit, wie das Leben weitergehen sollte, noch mehr verschlimmert hatte.

Es gab aber leider nichts, was Graham daran ändern konnte, denn Optimismus war Mangelware in dieser Zeit. Er trieb den Nagel mit einem weiteren Schlag ins Holz und zog dann den nächsten aus seinem Mundwinkel, damit er ungehindert sprechen konnte. Als sie sich der Tür der Blockhütte näherte, rief er ihr hinterher: »Hey, Macy?«

Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Ja?«

Die Worte, die er jetzt hätte sagen sollen, fielen ihm einfach nicht ein. Er wollte sie wieder ins rechte Lot bringen, sie heilen, sie wieder ganz machen. Er wollte ihr sagen: Alles wird gut werden, es wird dir bald wieder besser gehen, doch stattdessen starrte er sie nur an, als sie so dastand mit ihren schlammbedeckten Stiefeln, der gerunzelten Stirn und Sheriff an ihrer Seite.

»Was ist los, Graham?«

»Äh, könntest du für Tala die Wäsche von der Leine nehmen? Sie wird in diesem Regen einfach nicht trocknen. Wir besuchen gleich Clarisse.« Ja, das war gut. Etwas zu tun zu haben, wird sie ablenken und ihr helfen, sich besser zu fühlen. War es nicht auch genau das, was seine Mutter immer zu sagen gepflegt hatte? Es war darum gegangen, dass Müßigkeit eine schlechte Sache war und zu viel Zeit zum Nachdenken ließ.

»Na klar, ich kümmere mich gleich darum«, antwortete Macy, die ihren trübsinnig wirkenden Weg die Veranda hinauf fortsetzte, um sich den Wäschekorb zu holen.

Graham warf einen Blick auf Bang und stellte fest, dass dieser den ganzen Morgen mit ihm draußen gewesen war, die ganze Zeit neben ihm gearbeitet hatte, und trotzdem war der Junge immer noch ein Häufchen Elend. Jeder Versuch, Bang aufzuheitern, hatte diesen scheinbar nur noch verschlossener und in sich gekehrter gemacht. Alles, was er versucht hatte, war scheinbar falsch gewesen und nichts schien zu funktionieren.

Das ist doch alles Bullshit, dachte Graham.

Plötzlich kam ihm das Gegenteil von dem in den Sinn, was seine Mutter ihm beigebracht hatte. Er erinnerte sich, wie seine Mutter ihnen immer gesagt hatte: »Reißt euch zusammen«, wenn er und seine Schwester es in der Öffentlichkeit übertrieben hatten – das Ergebnis war natürlich nur weiteres Kichern und Herumkaspern gewesen. Je älter er wurde, desto mehr war er mittlerweile davon überzeugt, dass seine Mutter eine Meisterin in umgekehrter Psychologie gewesen war.

Was zum Teufel sollte das bedeuten?

Dalton hatte das gleiche Problem drüben im Lager der Prepper. Er hatte nicht nur mit dem Verlust seiner eigenen Frau zu kämpfen, sondern musste sich zugleich auch noch um seine zwei trauernden jungen Söhne kümmern. Eigentlich war es das ganze Lager, das den Verlust der vier Mitglieder noch immer nicht verarbeitet hatte. Die Last all dessen machte Dalton, der über die Zeit zu einem echten Freund geworden war, manchmal distanziert und wütend. Er selbst verstand das nur all zu gut.

Graham schlug den nächsten Nagel mit mehr Kraft als nötig ein und griff dann nach unten, um die Holzschindel aus Bangs Hand entgegenzunehmen. Er versuchte ein Lächeln, erwartete aber nicht, dass es funktionierte. »Möchtest du später mit Tala und mir Clarisse besuchen gehen? Vielleicht ist Addy ja auch da. Dann kannst du dich selbst davon überzeugen, wie gut es ihr geht.«

Bang schüttelte den Kopf und wirkte sogar verletzt wegen dieses Vorschlags.

Verdammt, dachte Graham. Jetzt reicht es mir! Ich werde es nicht einmal mehr versuchen. Sie brauchen einfach Zeit, dann kommen sie schon von selbst zu mir.

»Okay. Alles geschafft«, sagte Graham und hämmerte den letzten Nagel ein. Er stieg von der Leiter und zog sie vom Dach. »Geh schon mal vor und sag Tala Bescheid, dass wir gleich zum Lager der Prepper aufbrechen, sobald ich hier aufgeräumt habe.«

Ohne ein Wort eilte Bang davon, während Graham sich in seine Frustration zurückzog. Er klappte die Leiter zusammen und ging zu seiner neuen Werkstatt hinüber, um sie dort hineinzustellen. Zumindest hatten sie es geschafft, beide Gebäude instand zu setzen, bevor der heiße Sommer kam. Mit McCann und Mark, die beide tatkräftig mitarbeiteten, ging alles viel schneller. Obwohl sie größtenteils ohne Strom lebten, hatten sie sich dafür entschieden, für die Elektrowerkzeuge ab und zu den Generator anzuwerfen, was die Arbeit natürlich deutlich beschleunigte.

Es belastete Graham, dass all diese Kinder mit schwindenden Benzinvorräten aufwachsen würden und vollkommen ungewiss war, auf welche Art und Weise sie in Zukunft leben würden. Dalton und er sprachen oft über die jüngere Generation und was die Erwachsenen jetzt tun mussten, um ihnen das Überleben zu ermöglichen. Entweder gelang es ihnen, den Jüngeren beizubringen, ohne die bisherigen Annehmlichkeiten des Lebens wie Elektrizität, moderne Medizin und verarbeitete Lebensmittel auszukommen, oder die nachfolgende Generation würde die Letzte sein. Es war eine schwere Aufgabe, und wenn sie versagten, würde dies enorme Konsequenzen nach sich ziehen. Graham konnte das Gefühl, dass die Menschheit bereits einmal fast alles verloren hatte, weil sie zu abhängig davon gewesen war, die Dinge auf eine bestimmte Art und Weise zu tun, einfach nicht abschütteln. Dies war die einmalige Chance, wieder ganz von vorn zu beginnen. Trotzdem, dachte er, ist es zu früh, sich darüber Gedanken zu machen. Sie hatten sich nämlich immer noch nicht von der letzten Katastrophe der Menschheit erholt.

Graham zog sein verschwitztes Hemd aus, und obwohl die Frühlingsluft noch recht kühl war, bückte er sich und benutzte den Wasserschlauch, um seinen Oberkörper, das Gesicht und den Hals abzuduschen. Als er aufblickte, sah er Tala auf sich zukommen. Ihre Schönheit faszinierte ihn zutiefst und er schreckte unwillkürlich zusammen, als er sie sah. Sie war jetzt im sechsten Monat schwanger, und ihre bevorstehende Mutterschaft ließ sie nicht nur strahlen, sondern machte sie für ihn schöner als jede Frau, die er jemals gekannt hatte. Ihr Lächeln verriet Graham, wie sehr sie seine Beobachtungen zu schätzen wusste.

»Findest du denn nie ein Ende?«, fragte sie. »Nun komm schon, sonst müssen wir nachher noch im Dunkeln zurücklaufen!«

»Wir könnten auch fahren.«

»Das Laufen tut mir gut. Außerdem ist es doch nicht allzu weit.«

Er nahm ein noch klammes Hemd von der Wäscheleine, zog es an und begann es zuzuknöpfen. »Ist das nicht irgendwie komisch? So als würden wir für eine vorgeburtliche Untersuchung zum Arzt gehen.«

»Das geht mir auch so. Ich war zwar immer für eine natürliche Geburt, aber ich hätte nie gedacht, dass ich es ohne die Option, im Notfall in ein Krankenhaus gehen zu können, machen müsste.«

»Wenigstens haben wir Clarisse und Steven, wenn etwas schiefgehen sollte. Die beiden geben sich wirklich alle Mühe«, sagte Graham, während er den letzten Hemdknopf schloss und sein Gewehr über die Schulter hing. Er griff nach seinem Wanderstock, nahm Talas Hand in seine, und zusammen machten sie sich auf den Weg zum befreundeten Lager. Graham war jetzt deutlich langsamer unterwegs als früher, was nicht nur seiner Begleitung, sondern auch dem Angriff des verwilderten Hundes geschuldet war.

»Darüber habe ich übrigens vorhin auch nachgedacht«, sagte Graham. »Was wird wohl Bangs Generation tun, wenn sie in unserem Alter ist?«

»Was meinst du damit genau?«, fragte sie.

»Sie werden nicht wie wir eine Clarisse oder einen Steven haben, der sie medizinisch versorgt, niemanden wie Dalton oder mich, um sie zu führen und auch niemanden wie dich, der so viel über das Konservieren von Lebensmitteln und das Gärtnern weiß.«

»Warum nicht? Ich dachte, das ist genau das, was wir alle gerade tun – unser Wissen an die Jungen weitergeben und ihnen zeigen, wie sie später überleben können. Clarisse bringt Addy gerade alles bei, was sie über Medizin weiß. Hunter und Kade trainieren, wie man Menschen führt und wie man sich verteidigt. Bang wird eines Tages ein Meisterjäger sein und mit ihm in der Gruppe wird niemals jemand hungern müssen. McCann hat gesagt, dass Bang bereits jede Pflanze benennen kann, auf die er zeigt, und mir hilft der kleine Kerl, die essbaren Kräuter und Pflanzen zu sammeln, die es im Frühjahr gibt, ohne dass er dabei tödliche Fehler macht. Ich denke, es wird sich schon alles finden. Jeder Heranwachsende bei uns wird irgendeine Affinität haben, etwas, das er besonders gut kann und mag. Du machst dir eindeutig zu viele Sorgen«, neckte sie ihn.

»Ganz im Gegenteil. Ich glaube nicht, dass ich mir schon genug Sorgen mache. Außerdem bin ich mir sicher, dass wir dabei irgendetwas Überlebenswichtiges vergessen. Ich weiß nur noch nicht, was es ist«, gab er zurück.

Ihre Unterhaltung wurde unterbrochen, als Graham Tala über den laut tosenden Fluss führte. Die Pause gab ihm die Gelegenheit, über das nachzudenken, was Tala gesagt hatte. Er wusste, dass sie meistens recht hatte, aber er konnte einfach nicht anders, als das Gefühl zu haben, dass sie etwas Entscheidendes übersahen. Noch dazu waren sie in ihren beiden Lagern einfach zu wenige, um eine komplett neue Gesellschaft aufzubauen … eine Gesellschaft, die Bestand hatte und die wuchs. Als sie die Brücke überquert hatten, wurde das Rauschen des Wassers leiser und er setzte ihr Gespräch fort.

»Im Moment arbeiten wir von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und das müssen wir auch tun, bis es wieder zu schneien beginnt. Dann werden wir den Stillstand der Natur im Winter nutzen, um unsere Ausrüstung zu reparieren, Leder zu gerben und all das zu tun, was wir bis jetzt vergessen haben oder wofür in den wärmeren Monaten keine Zeit war. Unser Kind«, sagte er und legte seine Hand behutsam auf Talas Bauch, »wird darauf bauen müssen, dass die jüngere Generation es gleich beim ersten Versuch richtig macht. Denn teure Fehler können sich die Menschen jetzt nicht mehr leisten.«

»Ich weiß«, sagte Tala und versuchte immer noch, seine Sorgen etwas zu lindern. »Aber zumindest haben wir jetzt die Prepper. Macy hat von ihnen sogar gelernt, wie man ein Funkgerät bedient. McCann ist gerade drüben und hilft Sam bei der Lederherstellung, und beide Lager arbeiten zusammen, um Kühe für eine Herde zusammenzutreiben. Das alles hier« – sie hob beide Arme und zeigte auf ihre neue und sich weiter verändernde Umgebung – »ist jetzt wie eine kleine Siedlung. Es ist ein vollkommen neuer Anfang. Wir fangen an zu wachsen und zu gedeihen, nicht nur zu überleben. Es wird alles gut werden, Graham.«

»Im Winter wird es die Hölle sein. Wir haben zwei depressive Kinder bei uns, und ich habe furchtbare Angst, dass du das Baby nach Ennis nennen wirst.«

Tala lachte. »Siehst du es denn nicht, Graham? Wir haben es geschafft! Ja, wir haben Ennis verloren, aber dafür haben wir Addy dazugewonnen. Ja, die Kinder trauern immer noch, aber denkst du nicht auch, dass sie einfach nur ihre Zeit brauchen, um über ihren Kummer hinwegzukommen? Sie müssen den Schmerz zulassen können, um das Glück wieder wahrnehmen zu können. Mit der Zeit wird es besser werden. Lass ihnen einfach ihre Trauer, sie brauchen sie«, erwiderte Tala und fuhr ihm mit einer Hand sanft über den Nacken. »Auch du trauerst noch, ich kann es sehen«, sagte sie mit ruhiger Stimme und schmiegte sich an ihn, während sie zusammen weitergingen. »Bis der Sommer kommt, werden sie es überwunden haben, ein neuer Mensch wird Teil unserer Gemeinschaft sein und das Leben wird weitergehen.«

Graham küsste sie auf die Schläfe, und sie gingen weiter den Pfad entlang, der rechts und links mit Frühlingsblumen gesäumt war. Bald schon war zwischen den Bäumen hindurch die Quarantänestation zu erkennen, wenn man wusste, wonach man suchen musste. Sie grüßten die Wache, als sie den Eingangsbereich betraten. »Was, dieses Mal werden wir nicht abgetastet? Ihr werdet langsam nachlässig.«

Der Wachposten zwinkerte Graham zu. »Sie ist wie immer hinten in ihrem Büro.«

»Vielen Dank«, antwortete Tala und grinste ihn an.

Als sie die Tür zu Clarisses Büro erreichten, konnten sie sehen, dass ihre medizinische Expertin tief in Gedanken versunken war. Aufmerksam blickte sie in ihr Mikroskop, und ihre kleinere Ausgabe namens Addy saß auf einem Stuhl neben ihr. Addy las gerade ein Buch, das für ein Mädchen ihres Alters ziemlich groß wirkte. Auch sie war vollkommen in das vertieft, was sie tat.

Graham klopfte an den Türrahmen. »Hallo, Frau Doktor … wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?«

Clarisse sah auf und lenkte sofort ab: »Du kannst einfach bei Clarisse bleiben. Schön, dass ihr heute hier seid.« Als sie aufstand, ließ die Bewegung Addy den Kopf heben. Das strahlende Lächeln des Mädchens zeigte, dass auch sie sich freute, sie zu sehen. Sie ging sofort zu Graham und Tala hinüber und umarmte beide.

Tala gebärdete: Hallo! Was liest du gerade?

Addy hob ihre kleinen Hände und signalisierte einfach nur Buch, hielt dann inne und wirkte etwas ratlos. Sie machte einen Schritt zurück und warf Clarisse einen fragenden Blick zu, wie man Über die Anatomie des Menschen in Zeichensprache ausdrückte.

Graham bewunderte das Mädchen; sie hatte so viel durchgemacht und zeigte dennoch erstaunliche Widerstandskraft. Vor zwei Monaten hatte das gefürchtete Virus, das schon so viele Leben gefordert hatte, beinahe auch Addy geholt. Aber Clarisse hatte mit allen Mitteln dagegen gekämpft und das Mädchen aus der Todeszone zurückgeholt, obwohl sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob das Virus sich nicht doch irgendwann wieder in einer Krankheit manifestieren würde. Addy war jetzt fast acht Jahre alt und eignete sich bereits Wissen und Fähigkeiten an, die weit über das hinausgingen, was Kinder in ihrem Alter üblicherweise lernten. Ihre Taubheit behinderte den Freigeist des Mädchens kein bisschen.

Sogar ihr Vater, Sam, wies jeden zurecht, der Addy zu verhätscheln oder es ihr einfach zu machen versuchte. Ganz im Gegenteil, er ermutigte sie stets, dazuzulernen und mit ihrer Behinderung umzugehen. Jeden Tag nahm er sie mit in den Wald und brachte ihr bei, wie sich an den Vibrationen der Umgebung wahrnehmen ließ, was um einen herum geschah. So zeigte eine leichte aufkommende Brise, die durch die Bäume strich, dass jemand oder etwas in ihrer Nähe vorbeigegangen war. Ein Zittern des Bodens, das sie durch die Sohlen ihrer Stiefel in der Nähe des Skagit Rivers spüren konnte, bedeutete, dass der Fluss durch die zunehmende Schneeschmelze mehr Wasser führte als am Tag zuvor.

Graham wusste, dass Sam alles versuchte, um seine Tochter auf ein Leben ohne den Hörsinn und auf die kommenden Herausforderungen vorzubereiten. Graham hatte noch niemals zuvor eine solche Hingabe bei einem Vater gesehen und hoffte, es dem Mann später mit seinen eigenen Kindern gleichtun zu können.

»Ihr seid also für die gute alte Vorsorgeuntersuchung in der Schwangerschaft hier? Wie absurd sich das anhört …«, sagte Clarisse zu Tala.

»So ist es«, erwiderte Tala. »Das Baby hat mich in letzter Zeit ganz schön getreten.«

»Das sind gute Neuigkeiten«, meinte Clarisse und führte sie in den Untersuchungsraum neben ihrem Büro.

Graham half Tala, auf den Tisch zu klettern, den Clarisse für sie vorbereitet hatte und sich dann zurückzulehnen.

»Wir hören uns zuerst mal, mit diesem speziellen Doppler-Stethoskop hier, den Herzschlag an. Damit kann ich den Herzschlag des Babys viel besser wahrnehmen als mit einem normalen Stethoskop«, erklärte Clarisse, während sie den Kopf des Stethoskops auf dem Ultraschallgel platzierte, das sie auf Talas Bauch aufgetragen hatte. Sofort ertönte ein starkes Rauschen. Behutsam schob sie die Membran langsam hin und her, bis ein starkes Klopfen zu hören war. Graham lächelte, er konnte nicht anders. Sein Blick traf Talas und er dachte: Dieser Moment ist der glücklichste, den wir je hatten, seit all dieser Irrsinn geschehen ist.

Graham erinnerte sich plötzlich daran, wie er diese Situation schon einmal erlebt hatte, mit seiner ersten Frau. Doch er schob die Erinnerung so schnell, wie er konnte von sich. Nicht jetzt. Denn zusammen mit der Erinnerung kam auch der Schmerz und ein seltsames Gefühl des Verrats, obwohl er genau wusste, dass Nelly es verstehen würde.

Er drehte den Kopf und sah, dass Addy an den Türrahmen gelehnt dastand; Clarisse sah sie auch. »Macht es euch etwas aus, wenn sie zuhört? Ich meine, wenn sie dabei ist«, sagte sie sich schnell fangend und zwinkerte Tala zu. »Sie ist immerhin meine offizielle Stellvertreterin.«

»Natürlich nicht«, antwortete Tala, und Clarisse bedeutete Addy daraufhin, zu ihnen zu kommen.

Clarisse legte das Doppler-Stethoskop in Addys Hände, signalisierte ihr die Augen zu schließen und sich auf die Vibrationen zu konzentrieren, die durch das Stethoskop kamen. Graham war erst verwirrt von dieser Geste, aber als Addys Gesichtsausdruck von kontemplativ zu einem strahlenden Lächeln wechselte, verstand er das Ganze. Mithilfe des vibrierenden Geräts in ihren Händen konnte sie den Herzschlag spüren.

»Sie kann die Vibrationen fühlen?«, fragte Graham. Es hatte ihn sehr bewegt, den Herzschlag seines eigenen Kindes zu hören, aber noch mehr berührte es ihn, dass Addy an dieser Erfahrung teilhaben konnte. Eine Erfahrung, von der er gedacht hatte, dass sie Addy vollkommen verloren gehen würde. Sie konnte den Herzschlag des Babys spüren!

Addys Lächeln war so ansteckend, dass auch Graham sich davon mitreißen ließ. Er bemerkte, dass auch Tala sich unauffällig ihre eigenen Tränen des Glücks aus den Augenwinkeln wischte. Addy gebärdete schnell und stark zu Tala, gab das Gerät dann zurück an Clarisse und legte ihre Hand auf Talas Bauch, in der Hoffnung, dort das gleiche Vibrieren fühlen zu können.

Clarisse sprach nun mit ihnen, während Addy weiter mit der Hand Talas Bauch befühlte.

»Der Herzschlag des Babys ist perfekt für diese Phase der Schwangerschaft. Hast du irgendwelche Schmerzen oder kleinere Wehen?«

»Nein, weder noch.«

»Gut. Ich würde jetzt gern eine Blutprobe nehmen und einige Tests durchführen. Du solltest weiterhin die Vitamine einnehmen und nur das tun, wobei du ein sicheres Gefühl hast, und bitte keine anstrengenden Bewegungen.«

Graham ging ein Gedanke nicht aus dem Kopf, doch er wollte eigentlich nicht danach fragen, konnte aber nicht anders. »Haben wir eine Möglichkeit, schon jetzt zu erkennen, ob das Baby das Virus in sich trägt?«

»Ich fürchte, nein. Wir müssen abwarten. Aber es gibt noch etwas, das ich euch unbedingt sagen sollte«, holte Clarisse aus und hielt in Erwartung ihrer Reaktionen unwillkürlich die Luft an.

Graham gefiel das ganz und gar nicht. »Was? Was ist das Problem?«

»Ich habe noch nie dabei geholfen, ein Baby zur Welt zu bringen.«

Graham riss die Augen auf und Clarisse legte sofort eine Hand auf sein Knie, um ihn zu beruhigen.

»Ich habe meinen Teil an Operationen durchgeführt. Was Geburten angeht, habe ich zumindest alles gesehen. Das heißt, ich bin mit allen Komplikationen vertraut und sehr zuversichtlich, dass ich es kann, aber ich habe es eben noch nie selbst gemacht.«

»Okay, das macht mich jetzt in der Tat verdammt nervös«, brachte Graham mühsam hervor, während sein Herzschlag rapide anstieg.

Tala versuchte ihn zu beruhigen. »Ich bin mir sicher, dass Clarisse es gut machen wird, Graham.«

Addy hatte Talas Bauch wieder bedeckt, nachdem sie das Gel sorgfältig abgewischt hatte. Graham sah, wie Tala dem Kind in Gebärdensprache sagt: Du wirst eine wunderbare Ärztin werden.

Dem konnte er nur zustimmen.

Danke, gab Addy zurück, dann huschte sie davon, um sich wieder ihrem Buch zu widmen.

Graham fragte Clarisse: »Ist es ihr am Anfang sehr schwergefallen, nichts mehr hören zu können? Jetzt wirkt es so selbstverständlich für sie …«

»Oh ja. Sam und ich haben uns fast drei Tage am Stück um ein am Boden zerstörtes kleines Mädchen gekümmert. Wir haben in dieser Zeit keine Minute geschlafen und waren rund um die Uhr bei ihr. Am vierten Tag schien sie den Schmerz über den Verlust ihres Hörvermögens einfach hinter sich gelassen zu haben. Ich habe daraufhin angefangen, ihr die Gebärdensprache beizubringen, und Sam zeigt ihr, wie sie das meiste aus ihren anderen Sinnen herausholen kann. Es ist noch gar nicht so lange her, doch sie hat sich schon bemerkenswert gut angepasst. Sie scheint offenbar die Wahl getroffen zu haben, es einfach hinter sich zu lassen.«

»Das ist großartig«, sagte Graham.

»Wie geht es Bang?«, fragte Clarissa. »Das letzte Mal, als wir gesprochen haben, hatte er es immer noch sehr schwer, mit allem klarzukommen.«

»Das hält leider weiterhin an. Ich frage ihn immer wieder, ob er Addy einmal besuchen möchte, und ich erzähle ihm, dass es ihr wirklich gut geht, doch er will sie nicht sehen. Er kämpft noch immer mit dieser Sache und auch mit Ennis Tod. Für Macy war es allerdings auch schwer.«

»Wir müssen ihnen einfach Zeit geben«, antwortete Clarisse.

»Das machen wir ja. Die beiden müssen einfach viel zu schnell erwachsen werden in dieser Welt«, sagte Tala traurig.

»Wie geht es denn Daltons Jungs?«, fragte Graham.

»Sie sind beide sehr unterschiedlich, deshalb geht jeder auf seine eigene Art und Weise damit um.« Sie schüttelte den Kopf und schloss die Augen. »Es ist schrecklich, dass diese Kinder bereits so viel durchmachen mussten. Hoffen wir, dass diese Tage endgültig hinter uns liegen und wir bald wieder nach vorn blicken können.«

Graham konnte dem nur zustimmen. Vielleicht würde dieses neue Leben in Tala ja auch ein neues Vertrauen unter ihnen allen stiften. Wo so viel Tod gewesen war, brachte die Aussicht auf eine Geburt schließlich Hoffnung für alle.

GRAHAMS WIDERSTAND (Survivor 3)

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