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Herr Mücke

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Vor dem Restaurant empfingen uns ein Mann in dunkelblauer Uniform und der Koch. Jeder hielt einen Bestäuber in der Hand. Unschlüssig blieb ich stehen.

»Das ist Desinfektionsmittel, damit wir uns nicht alle mit Grippe anstecken«, sagte eine weibliche Stimme hinter mir. Ich drehte mich um.

»Nun gehen Sie doch schon weiter, Sie halten den ganzen Verkehr auf.« Die kleine rothaarige Frau schaute mich von unten an, sie wedelte mit ihrer Hand nach vorne, als sei ich ein Page und ihr im Weg. Ihre Augenbrauen waren gezupfte Halbmonde, die Oberlippe ein feiner Strich, ein mürrischer Lippenstiftbogen hing zwischen prallen Wangen, die sich geweigert hatten, mit dem Rest des Gesichts zu altern.

Ich ging einen Schritt vor, hielt dem Koch meine Hände hin, ließ mich besprühen und fragte mich nicht zum ersten Mal vergeblich, woran andere deutschsprachige Menschen sahen, dass auch ich einer war. Ich sah nicht deutsch aus. Ich hatte dunkelbraune Augen und eine prominente Nase, die manche Leute apart, ich hingegen auberginenförmig fand. Mein Teint war eher oliv als rosa, und ich hatte lange dunkle Haare. Ich sah türkisch aus, spanisch, italienisch, portugiesisch. Ging ich deutsch? Zog ich mich deutsch an? Ich sah an mir hinunter. Graue Jeans, braune Wanderschuhe, weißes T-Shirt, schwarzer V-Neck-Pulli. Ich sah nicht aus wie die anderen Menschen hier und schon gar nicht wie die mit den roten Haaren. Oder doch? Hatte ich mit Mitte vierzig bereits den Blick für mich verloren? Das Tragische am Älterwerden war ja, dass man es als Letzter merkte, wenn es einen erwischte. Viele meiner Kollegen sprachen vom Alter als unheilbarer Krankheit und benahmen sich zugleich, als seien sie dagegen immun. Männer Ende vierzig leasten plötzlich Maseratis, lästerten aber über gleichaltrige Frauen, die es wagten, ihre gute Figur zu behalten: »Hinten Lyzeum, vorne Museum.« Es war sinnlos, ihnen erklären zu wollen, dass das Älterwerden bei Frauen anders ablief: Frauen hatten keine Krisen. Frauen hatten Gedanken.

Vor den Fenstern des Restaurants zog die Aussicht vorbei: ein violetter und golden-pinker Himmel, der von weißen Wolkenschlieren und pastellfarbenen Wischflächen durchzogen wurde. Darunter schwappte lackledernes Wasser, doch langsam verschwand der Glanz aus den Farben, als würde jemand Puder über die Welt tupfen.

Passagiere in Funktionskleidung warteten mit leeren Tellern an den Vitrinen und Tresen. Ein stetes dumpfes Brummen mischte sich mit Stimmengemurmel und dem Klappern von Besteck auf Porzellan. Ich spazierte um das Buffet. Von allem gab es zu viel: Fisch, Fleisch, warm, kalt, süß, salzig, Vorspeisen, Kaffee, Brot, Käse. Ich betrachtete die anderen Gäste und fragte mich, was jeden einzelnen von ihnen dazu bewogen hatte, an die fünfzehntausend Euro zu bezahlen, um hier zu stehen.

Ich hatte irgendwann eine Theorie entwickelt, warum Menschen wegfuhren. Ein Drittel der Menschen ging auf Reisen, um etwas zu entdecken (betrüblicherweise wussten sie oft vorher, was). Das zweite Drittel reiste, um sich von zu Hause zu erholen (es war unwichtig, wo sie hinfuhren, Hauptsache, das Andere war angenehmer, wärmer und freundlicher als ihr Zuhause). Der Rest fuhr hinterher. Also: Die Frau wollte irgendwohin, der Mann dann auch. Oder: Die Nachbarn waren schon mal da, in dieser Saison fuhr man dorthin und so weiter und so fort.

Doch die Leute hier? Es mochte daran liegen, dass sie sich ähnlich kleideten, viele im gleichen Alter waren, um die sechzig. Sie trugen Praktisches in knalligem Petrol, leuchtendem Gelb, grellem Violett. Der Tarnung konnten diese Farben nicht dienen, es sei denn, sie hatten vor, jede Nacht durch den Sonnenuntergang zu fliegen. Vielleicht gab es bei Expeditionskreuzfahrern so wie bei Surfern eine Art Kleidungskodex – hier, so ziehen wir uns an, damit ihr wisst, wer wir sind. Wir sind die, die wandern. Wir sind die, die im Regen und in der Kälte nicht frieren. Wir suchen die Kühle, die Nässe, die Hänge, wir haben Wadenmuskeln, ihr habt Handtaschen. Wir sind aktiv, ihr seid bloß interaktiv. Aber interessierte sich das Pärchen am Pfannkuchenstand für die Nordwestpassage? Hatten sie Die Entdeckung der Langsamkeit gelesen oder Meine Reise mit der Gjöa? Kannte der Mann am Käse das arktische Licht und wollte wieder hin, in diese ferne Region, die man als Nicht-Wissenschaftler am einfachsten mit Passagierschiffen wie diesem hier erreichte? Freuten sich Mutter und Tochter am Gulasch auf die Klimavorträge? Oder auf das Gulasch? Wer von ihnen würde am Fenster stehen und dem tauenden Permafrost dabei zusehen, wie er taute, und dabei denken: Hier stimmt doch was nicht?

In Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis gibt es ein Restaurant am äußersten Ende der Zeit, dessen Gäste jeden Abend den Untergang des Universums beobachten. Kurz bevor alles in einem Schwarzen Loch verschwindet, fliegen sie mit Lichtgeschwindigkeit in Sicherheit, und am nächsten Abend nehmen sie erneut ihre Plätze ein, um den Untergang zu beobachten. So würde es hier nicht sein. Es gab kein Raumschiff, das uns in Sicherheit bringen würde. Die Welt ging auch nicht mit einem Knall unter, sondern Zentimeter um Zentimeter. Die Erosion fraß die Küsten, die Eiskappen schmolzen, die Temperatur stieg. Ich sah hinaus. Da war eine Küste, da war das Meer, da war der Himmel.

Ich fand einen freien Platz ohne direkte Nachbarschaft zu Pärchen oder Gruppen, zwängte mich zwischen zwei festgeschraubten Tischen bedrohlich nah an den Weingläsern vorbei und entschuldigte mich bei dem älteren Herrn, der am Fenster saß und sich höflich erhob, als ich mich neben ihn setzte. Er hieß Herr Mücke, war so um die siebzig, trug einen roten Pullunder, darunter ein gestreiftes Hemd. So stellte ich mir Alfred Wegener vor, so akkurat.

Ich wünschte ihm guten Appetit, und er widmete sich wieder seinem Hühnerbein, das er sorgfältig mit Messer und Gabel zerteilte. Ich fand es herrlich, wenn jemand ein Hühnerbein mit Messer und Gabel aß, so wie ich es nicht ausstehen konnte, wenn Menschen keine Tischmanieren besaßen. Selbst in den guten Restaurants saß man zwischen Schaufelbaggern, Buckligen und Gichtkranken, die ihr Besteck so hielten, als wollten sie damit jemanden erdolchen.

Ich bestellte einen Wein und ignorierte meinen knurrenden Magen. Buffets setzten mich unter Druck. Allein im Restaurant zu sein, setzte mich unter Druck. Es müsste ein Schild für alleinstehende Frauen geben: »Bitte nicht füttern, anbaggern oder anstarren«. Im Kleingedruckten stünde da noch: »Liebe Gattinnen, diese Frau hat kein Interesse an Ihrem Mann (Echt nicht! Behalten Sie ihn bitte!). Liebe Mütter kleiner Kinder, dieser Frau geht es nicht automatisch besser, weil sie ausschlafen konnte. Bitte stellen Sie Ihre Kinder auf lautlos und führen Sie sie an der Leine.« Obwohl, nein. Es müsste kostenfreien Roomservice für allein reisende Frauen geben. Weltweit, in allen Preisklassen. Kommen Sie mir nicht mit Anschluss und Leute kennenlernen oder irgend so einem Gefühlsmist. Wenn man einsam ist, bleibt man einsam, auch im Ausland. Urlaubsbekanntschaften sind Bekanntschaften, die in den Urlaub gehören. Wer in den Neunzigern die wahre Liebe zum griechischen Kellner im Robinson Club auf Samos erlebt hat, weiß, wovon ich spreche. Keiner muss einmal quer über den Globus fliegen und ein halbes Jahresgehalt verprassen, um das zu begreifen. Hinterher ist man doch nur noch einsamer als vorher.

Mit einem Mal schwamm eine Riesenpavlova am Fenster vorbei. Ein weißes Baiser, mit Blue Curaçao übergossen.

»Ein Eisberg«, rief ich.

Herr Mücke drehte seinen Oberkörper zu mir und zog die Augenbrauen hoch wie ein Forscher, der einen seltenen Wurm entdeckt hat. »Ist das Ihr erster?«

Ich nickte.

Er hob sein Bier. »Darauf trinken wir.«

Auf solchen Schiffen gebe es für jeden Unsinn ein Ritual, sagte er. Wer den Polarkreis überquerte, bekam eine Schöpfkelle Eiswasser über den Kopf. Am Äquator wurde man mit Fischöl eingeseift und abgeduscht, eine widerliche Sache, das. Nur bei Eisbergen gab es nichts, was im Grunde genommen schade war. Vielleicht waren es inzwischen einfach zu viele. Und das da, das war ja nur ein Eisbergchen. Ich sollte mal die dicken Tafeleisberge sehen, die vom Schelfeis abbrachen. Das waren vielleicht Kaventsmänner. Manche waren tausend Kilometer lang!

»Ach«, sagte ich.

Die hier kamen aus dem Norden und trieben gegen den Uhrzeigersinn um Grönland herum. Der die Titanic erwischt hatte, war auch aus dem Norden gekommen. Aber psst! Laut sagen durfte man das Wort nicht.

»Welches Wort: Eisberg?«, fragte ich.

»Nein.« Er flüsterte: »Tih-tah-nic«, und sah sich um wie Schlemihl aus der Sesamstraße, der mir ein unsichtbares Eis verkaufen wollte.

Ich lächelte.

»Auf einer meiner ersten Schiffsreisen sind wir in einen Orkan geraten«, erzählte Herr Mücke. »Mit der Bremen auf dem Weg in die Antarktis. Da hat mir das einer erzählt.«

»Sind Sie öfter auf Schiffen unterwegs?«

»Oh ja. Ich war schon sieben Mal in der Antarktis. Drei Mal bin ich den Amazonas hoch und einmal um Spitzbergen herum, mit einem Russen. Das Schiff, mit dem ich zum ersten Mal in der Antarktis war, ist vor zehn Jahren gesunken. Die Explorer. Die hatte 45 Grad Schlagseite.«

»Gesunken?«

»Nicht mit mir drauf! Da war ich nicht dabei. Und es ist auch keiner ertrunken. Haben Sie nicht davon gelesen? Vor ein paar Jahren südlich von Kap Hoorn. Das war vielleicht ein Spektakel. So ein Schiff, das sinkt ja nicht von hinten nach vorne, sie liegt schräg im Wasser. Schauen Sie, so.«

Er hielt seine flache Hand vors Gesicht und drehte sie schräg. Ich folgte der Bewegung und neigte den Kopf.

»Auf der unteren Seite ließen sie die Boote ins Wasser. Aber auf der oberen Seite, hier oben, da rutschte ja nichts. Da war ja nicht genug Neigung. Wissen Sie, wie die das gemacht haben?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Als alle drinsaßen, sollten sie ans Heck krabbeln. Da wurde die Aufhängung gelockert. Das Boot rutschte ein Stück runter und hing nun schräg an der Außenwand. Sehen Sie, so. Dann mussten die Passagiere ans andere Ende krabbeln, dann wurde da die Aufhängung gelockert, und das Boot sackte dort hinab. Das haben sie im Wechsel gemacht, hin und her und hin und her, und so kam das Rettungsboot nach und nach runter ins Wasser. Das hat mir der Pole erklärt, der Tomek. Der war damals auch mit dabei. Die Rentner, hat er gesagt, die waren plötzlich alle ganz gelenkig.«

Ich musste grinsen. Herr Mücke machte das wie ich: immer schön auf die Bezugsgruppe schimpfen.

Herr Mücke stammte wie ich aus Berlin und hatte vor seiner Pensionierung erst als Uhrmacher, später als Lehrer an der Berufsschule gearbeitet. Nach dem Tod seiner Frau war er losgefahren, einfach losgefahren, und seitdem kaum noch zu Hause. Man dürfe sich da nichts vormachen, das kostete eine Stange Geld, aber mit der richtigen Vorbereitung ging das.

»Ich war schon vier Mal am Annapurna, aber nicht oben, wir sind immer nur bis zum Basislager gekommen. Beim letzten Mal habe ich dort eine junge Frau kennengelernt. Die sagte: ›Herr Mücke, wenn Sie mal in die Mongolei wollen, rufen Sie mich an. Ich organisiere das für Sie.‹ Und ich sage Ihnen, das müssen Sie vorbereiten! Das geht vom Auto – kriegen Sie mal ein Auto in der Mongolei, da gibt es keine Mietwagenfirmen, keine Tankstellen, keinen ADAC, entweder Ihr Auto fährt, oder Sie bleiben liegen, bis zum nächsten Frühling, wenn Sie Pech haben. Jedenfalls geht das vom Auto bis hin zu den Münzen, die man braucht, um ein Gebetstuch für die Geister zu kaufen. Egal, wo man hinkommt, immer muss man ein Gebetstuch aufhängen, um die Ahnen zu besänftigen, denn das Land gehört den Toten. Das glauben die Mongolen jedenfalls, und deswegen muss man dauernd irgendwelche Tücher aufhängen, die Geld kosten. Ich wollte meine Führerin zu den Tüchern einladen, aber sie hat gesagt, das geht nicht. Jeder muss selber bezahlen. Hier ist das ganz einfach, hier sind wir auf dem Meer. Hier müssen wir keine Tücher aufhängen.«

Ich sah aus dem Fenster und ließ meinen Blick über die tiefgraue wogende Masse Wasser wandern.

Weißer Salbei, hatte man mir geraten. Ich sollte Weißen Salbei abbrennen, dann würden die Träume aufhören. Also hatte ich im Esoterikladen am Heinrichplatz ein paar Kräuterkegel gekauft und stand irgendwann im Wohnzimmer meines Elternhauses, Rauch in sämtliche Ecken wedelnd. Ich hatte das Gebäude seit Jahren nicht betreten, in den letzten Wochen aber mehrfach von meinen Großeltern und Eltern geträumt. Das Haus war schon vor Jahren verkauft worden, nun stand es leer, der neue Besitzer wollte es abreißen lassen. Ich ging durch die Räume, die mir sonderbar klein vorkamen. Im Keller war alles von einem weißen Flaum bedeckt, als hätte es geschneit. Auf den Stufen, der Fensterbank, in den morschen Regalböden wuchs Schimmel, feinste weiße Fäden, die zitterten, wenn ein Windhauch darüber hinwegstrich. Immer mal wieder spürte ich einen kühlen Luftzug, der durch die Zimmer und Flure huschte, als wollte er die Erinnerungen aus den Räumen wehen, doch sie wehrten sich, sie wollten da wohnen bleiben, nur gab es nichts mehr, woran sie sich festhalten konnten. Kein Möbelstück, kein Mensch, noch nicht mal ein vergessener Müllsack. Im Schlafzimmer hatte ich kurz das Gefühl, jemand stehe hinter mir. Ich drehte mich um. Nichts. Ich ging weiter, in andere Räume, wedelte Rauch. Draußen fuhren Autos vorbei, Menschenstimmen kamen näher, entfernten sich. Auf dem Steinfußboden in der Waschküche lag ein toter Vogel. Ich glaube, es war ein Spatz.

Draußen hatte sich das Meer für ein mattes Anthrazit entschieden. Die Umrisse der Küste stachen hervor. Ich hatte mein Skizzenbuch mit an Bord genommen, auch den Farbkasten, obwohl ich wusste, dass ich ihn nicht benutzen würde. In der letzten Zeit malte ich nur noch Striche, Umrisse. Das war noch nicht mal Absicht. Erst hatte ich kein Rot mehr benutzt, dann verging mir die Lust auf Gelb, Grün, Blau. Irgendwann ließ ich auch die Schatten weg. Bei Fotos fiel das nicht auf, bei farbigen Illustrationen nahm ich inzwischen den Computer zu Hilfe.

»Man denkt ja immer, auf dem Wasser wird es stockfinster, aber das stimmt nicht«, sagte Herr Mücke, der meinen Blick bemerkt hatte. »Wenn es stürmt, ist die Dunkelheit ganz unheimlich. So war das auf der Bremen. Da hatten wir fast fünfzig Knoten Wind. Oder waren es fünfzig Kilometer pro Stunde? Wir waren jedenfalls auf halbem Weg von Südamerika in die Antarktis. Sie brachten mich auf die Krankenstation, so schlecht war mir, dann mussten die Pfleger weg, und ich lag allein da unten. Rauf und runter ging es, und dieser Lärm. Ich dachte, gleich ist es aus.«

Er faltete die Serviette, legte sie neben den Teller, wischte mit der Hand ein paar Krümel vom Tisch. »Nun schauense doch nicht gleich so bange. Noch ist ja kein Seegang. Der Wind bläst in Fahrtrichtung. Wir kommen vielleicht sogar schneller über den Teich, wenn das so weiterpustet.«

Er stand auf, nickte mir aufmunternd zu.

Beinahe Alaska

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