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Das Kinderthema

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Der Prince Regent Inlet war noch verstopft, sagte der Eispilot. Unmöglich, da durchzufahren. Im Larsensund löste sich das Eis hingegen langsam auf.

Er räusperte sich und trat einen Schritt zurück, wie einer, den ein paar Sätze schon ziemlich anstrengten. Ich schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Er hatte ein verlässliches Gesicht, so wie ein Handwerker, dem man seine Waschmaschine anvertraut. Doch man merkte, wie unwohl er sich fühlte. Seine Aufgabe war es, Satellitenbilder auszuwerten, mit anderen Schiffen Kontakt zu halten und die meiste Zeit auf der Brücke nach vorne zu schauen, aufs Meer. Kein Wunder, dass ihm das nicht passte, hier in der Bar von Passagieren angegafft zu werden. Sicher wollte er wieder in seinen Sessel und aufs Wasser sehen. Wer hätte das nicht gewollt? Da war ein Glitzern und Funkeln, das die Sonne auf das Blau warf, Abertausend Diamanten, die das Meer in einen gigantischen Lurexteppich verwandelten.

Die Bar war eingerichtet wie ein Casino aus den Achtzigern: beige-braun gemusterte Teppichböden, indirektes Licht, Plexiglas, chromverschraubte Tische und farblich abgestimmte Drehsessel. Die Expeditionsleiter packten die orangen Anzüge wieder ein, die wir anziehen sollten, wenn das Schiff sank, obwohl niemand gesagt hatte, »wenn das Schiff sank«, so wie im Flugzeug niemand sagt, »wenn wir abstürzen«. »Im Fall eines Druckverlustes in der Kabine« hieß hier, »wenn das Notsignal ertönt«. Drei Mal kurz, fünf Mal lang. Die Rettungskapseln waren auf Deck 5.

In den folgenden Tagen würden wir Vorträge hören, gelegentlich an Land gehen und wieder Vorträge hören. In der Arktis galt ein Verhaltenskodex: nichts pflücken, abbrechen, mitnehmen. Nicht in fremde Fenster fotografieren. Keinen Müll liegen lassen und in den Gemeinden möglichst nicht auf die Toilette gehen, wegen der Wasserknappheit. Die Expeditionsleiter waren zwischen dreißig und Ende sechzig und stammten aus Deutschland, Kanada, Polen, Frankreich, Norwegen und Großbritannien. Sie waren Geologen, Vogelkundler, Meeresbiologen, nur der blonde Typ mit der Bommelmütze war Snowboarder und Life Coach, und er kannte sich ein bisschen mit Eisbären aus.

Die meisten Passagiere hatten die Bar bereits verlassen. Ein Pärchen unterhielt sich auf dem Weg nach draußen. Sie sagte: »Dasch mit den Eis, ich glaub dene dasch net, die wolle uns doch verarsche.«

Als hätte er darauf gewartet, dass ich in seine Richtung blickte, räusperte sich der Mann neben mir. »Machen Sie diese Reise auch zum ersten Mal?«, fragte er mich auf Englisch.

Die Frage, die er mir gestellt hatte, entsprach dem Knigge für Kreuzfahrten. Es gab nicht viele Themen, die man auf einem Schiff am Kapitänstisch besprechen durfte, und der Kapitänstisch war auf See das Maß aller Dinge. Erlaubt waren: Essen (neue Restaurants, interessante Köche). Kochen (selber kochen, Rezepte und lustige Kochpannen). Reisen (wo man schon mal war, wo man als Nächstes hinfuhr). Zu vermeiden war alles, über das man streiten konnte oder was andere möglicherweise zum Weinen brachte: Fußball, Politik, Krankheit, Tod. Auch Familie war als Thema heikel. Nicht jeder hatte Kinder, nicht jeder mochte Kinder, die wenigsten Kinder waren interessant. Über seinen Beruf durfte man sprechen, vorausgesetzt, man war kein Fußballer, Politiker, Arzt oder Bestatter.

Ich schätzte ihn auf etwa siebzig, er hatte grau-schwarz melierte Haare und ein rundes, freundliches Gesicht. Neben seinem Stuhl lehnte ein weißer Spazierstock.

Da ich nicht sofort antwortete, warf er einen Blick in mein Skizzenbuch, in das ich die Umrisse der Küste gezeichnet hatte.

Ob ich mich für Landschaften interessiere, fragte er, kramte in seiner Hosentasche und holte ein Handy hervor.

Hier, diese Bilder hatte er gemacht, am Computer! Er zeigte mir eine Reihe von alienhaften Gegenden mit gelben, zerklüfteten Felsen, roter Erde und einem türkisblauen Himmel mit violetten Monden. Beinahe hätte ich gerufen: Ach, daher haben die Outdoorfritzen diese irren Farben! Aber ich beherrschte mich.

Hier, dieses Motiv hatte ihm ein Buchverlag für das Cover eines Fantasyromans abgekauft. Das Buch könne er mir aber nicht empfehlen. Schlechte Physik. Das Foto hatte er in Andalusien aufgenommen, ob ich schon mal in Andalusien war, nein? Ich sähe ein bisschen spanisch aus. Sie hatten dort neben einem Bauern gewohnt, der einen Esel hatte. Die ganze Nacht schrie er, der Esel, nicht der Bauer, was war das für ein Lärm, wie eine gequälte Tür, die nicht auf- und nicht zuging.

George sprach über die Ohrenform und die Fellfarbe besagten Esels, von dem seine Frau Agnes, die gute Agnes, heute noch behauptete, es sei ein Muli gewesen.

Ich fragte mich, wem und wie oft George diese Geschichte wohl schon erzählt hatte. Vielleicht war ich Nummer neunundneunzig in einer Reihe nickender Gesprächspartner, die gedacht hatten: »Esel, Esel, mir doch egal, aber der Typ ist irgendwie nett«, oder »Esel, Esel, wie spät ist es, was mache ich hier, kann mal mein Telefon klingeln?«. Das Problem bei Männern wie George war, dass man sie mögen musste. Er sprach leise, seine Augen schauten mit einer gewissen Wachsamkeit, aber nicht abwertend, sondern ganz ohne Arg. Sofern man also kein engherziger Mistvogel war, benahm man sich gefälligst angemessen freundlich. Also nickte ich und dachte: »Esel, Esel, ja, dann eben ein Esel.«

Wie ich denn den Vortrag von eben gefunden hätte. Er zweifele ja stark daran, dass uns diese dünnen Overalls vor dem eiskalten Wasser schützen würden.

Ich musterte ihn. Er wirkte nicht wie jemand, der sich mal eben in den komplizierten Schlaufenmechanismus der Rettungsanzüge hineinwinden könnte.

Natürlich, sagte ich, waren diese Anzüge total fehl am Platz.

Für ihn waren die sowieso nichts. Der dritte Schlaganfall hatte alles verändert. Er kam einfach nicht mehr mit. Die Menschen sprachen schneller, die Autos fuhren schneller, und die Tage rasten dahin. Man wachte auf, und kaum hatte man gefrühstückt und sich über den Tag gefreut, war es schon Nachmittag, es gab Kaffee und Kuchen, immer um vier, darauf bestand die gute Agnes, sie liebte ihren Butterkuchen, und dann war es ja meistens auch bald sechs und Zeit für Schnittchen, dann schalteten sie den Fernseher ein, Nachrichten, ein Film, dann war es zehn und Zeit fürs Bett. Er dachte immer mal wieder daran, dass die gute Agnes sicher etwas anderes wollen würde, als sich ständig um ihn zu kümmern. Aber das tat sie. Sie kümmerte sich um alles. Sie kaufte ein, sie besorgte den Haushalt, sie half ihm beim Waschen, sie zog ihn an, sie füllte seine Medikamente ab, erinnerte ihn daran, sie zu schlucken. Sie fuhr sogar Auto, obwohl sie Autofahren immer gehasst hatte.

Gut, seit drei Jahren kam eine Putzhilfe, weil sie ein bisschen kurzatmig geworden war. Die Tochter, nein, die konnte das nicht auch noch. Die hatte inzwischen selber zwei Kinder, beides Mädchen, sieben und neun, und alle Hände voll, das könne man nicht erwarten, die langen Wege, immerhin war das eine ganze Stunde Fahrt. Der Sohn wohnte ja in Frankreich.

Die Schiffsreise war ein Geschenk zum Hochzeitstag gewesen, erzählte George. Sie hatten sie von den Kindern bekommen. Agnes sei erst dagegen gewesen. Er würde das nicht mehr schaffen. George deutete auf sein Bein. Schaffen. Aber natürlich schaffte er das! Ja, sicher, es gab schon ein paar Möbel, die waren nicht für Leute wie ihn entworfen worden. Dieser braune Drehstuhl etwa. Ihm graute schon vor dem Aufstehen, aber das Schwanken des Schiffes kam ihm zupass. Dann ging es wenigstens allen so wie ihm, haha.

Ich lachte mit.

Einen Schlaganfall, den verkraftete man noch, sagte er. Zwei Schlaganfälle vielleicht auch. Aber drei, es war ein Wunder, dass nur eine Seite gelähmt war, und die auch nur unterhalb der Hüfte, es war ein Wunder »und die liebevolle Pflege Ihrer Frau«, wie die Ärzte meinten, da waren sich alle einig.

Ich fragte mich, ob man bei einem Schlaganfall auch einen Schlag bekam. Schlug eine Faust von innen an den Brustkorb, als wollte sie hinaus? Fiel man hintenüber, obwohl man stand? Kannte George dieses Gefühl? Wie sich alles zusammenzog, unter dem Hals, als wäre nicht mehr genug Platz im Brustraum? Wie es schlagartig kalt wurde? Jahrelang hatte ich angenommen, dass es Schicksalsschlag hieß, weil man diesen Schlag bekam.

George hatte ein Riesenglück, dass er eine so liebevolle Frau hatte. Und die Kinder, natürlich. Ob ich Kinder hatte?

Ich verneinte.

Kinder waren alles, sagte er. Das würde man eigentlich nur verstehen, wenn man selber welche hatte. Sie veränderten alles. Alles war schöner. Auch anstrengender. Man stand Ängste aus, das könne ich ihm glauben. Aber Kinder waren wirklich alles. Er könne mir nur empfehlen, welche zu bekommen.

Da war es wieder, das Kinderthema. Ich nickte mein Nicken. Das hatte ich in der Schule gelernt und in den Jahren darauf perfektioniert. Der Trick war, dass man langsam genug nickte. Zu schnell wirkte aufgesetzt. Aber auch nicht zu langsam, sonst erweckte man den Eindruck, man wäre geistig nicht ganz auf der Höhe. Es gab kaum Auswege aus so einem Gespräch.

Mit der brutalen Variante stieß man harmlose Stoffel vor den Kopf, wurde aber übergriffige Grobiane los: Ich hasse Kinder. Dann gab es meistens eine Pause, und danach war die Unterhaltung schnell zu Ende.

Weicher war: Ich mag keine Kinder. Ich wollte nie Kinder. Doch dann fragen sie einen immer: Och Gott, warum denn nicht? Wie das denn?, und dachten: Was ist denn mit der kaputt?

Die dritte Variante, die aber nicht garantierte, dass man in Ruhe gelassen wurde, war: Ich kann keine Kinder bekommen. Oder: Es hat nicht geklappt. Aber selbst da gab es Menschen, die nachfragten. Wie man es drehte oder wendete, Kinder waren nur dann ein Thema, wenn man selber welche hatte.

Doch genug von ihm, sagte George. Er würde mich ja langweilen. Aber ach, da kam sie ja schon.

Ich drehte mich zur Tür und sah die gute Agnes, eine Katastrophe um die sechzig mit schwarz gefärbtem, schulterlangem Pagenkopf, auf uns zusteuern. Sie trug eine braun-blaue Fleecejacke, graue Regenhosen und Wanderschuhe. Das blasse, rechteckige Gesicht zerteilte eine ebenfalls rechteckige schwarze Brille, ihre Mundwinkel hingen. Sie ging, wie ein Wagen der Straßenreinigung fuhr. Gerade, ohne anzuhalten. Sie grüßte mich nicht unbedingt freundlich, ihr Grunzen war eher auf der mürrischen Seite von unfreundlich.

Ich nahm es ihr nicht übel. Wenn man jemanden pflegte, saß man im Zug des Lebens mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Man sah nicht nach vorn, man schaute in die Welt des Abschieds, der Krankheit. Man sah Windelsorten. Dekubitus-Matratzen. Wundverbände. Rollatoren. Krankenhausparkplätze. Wartezimmerstühle. Man führte Gespräche mit Menschen, die man als Gesunder nie treffen würde. Andere Angehörige. Krankenschwestern. Pfleger. Sanitätshausvertreter. Wundverbandassistenten. Ein kranker Mensch färbte einem die Wäsche. Es war in etwa das Gegenteil vom Kinderhaben, dieses ständige gemeinsame Schauen ins Ende.

Ich lächelte. Agnes verzog keine Miene, dachte wohl, ich wolle mich lustig machen. Man sah mir nicht an, dass ich ihre Welt nur zu gut kannte. Sie musterte mich von oben bis unten wie jemand, der etwas nicht kaufen wollte, und sagte zu George, nun sei es aber höchste Eisenbahn, seine Spritze, was das denn solle, dass er hier unten rumsäße, mit jungen Damen plaudern könne er ja wohl auch zu Hause. Sie zog ihn aus dem Sessel. Er pfiff, schnaubte und keuchte. Sie ging einen Schritt zur Seite. Er angelte nach dem Stock, drehte sich noch mal zu mir um und sagte mit gepresster Stimme: »Einen schönen Abend noch!« Die gute Agnes stand bereits an der Tür. Sie pfiff nach ihm wie nach einem Hund und machte ein Zeichen, er solle sich beeilen. George humpelte schneller.

Ich packte meine Sachen zusammen und ging an Deck. Eine weiche Brise strich über mein Gesicht. Neben dem Schiff sah ich die Küste, ein rabenschwarz gefüllter Umriss in einer dunklen Welt. Ich atmete tief ein. Die Luft roch nach nichts.

Beinahe Alaska

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