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Nasser Sack

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Narsarsuaq, Grönland

»Willkommen in Nasser Sack«, hatte der Pilot bei der Landung gesagt, zumindest klang Narsarsuaq so aus seinem Mund. Einwohner: 102. Mit mir und den anderen Passagieren 202.

Ich ging hinter zwei Frauen, die sich angeregt unterhielten. Sie marschierten mit festem Schritt zwischen nassgrauen Felsen und silbergrau bewachsenen Hängen zum Hafen. Beide waren so gekleidet wie die Leute auf den Werbetafeln im Outdoor-Bekleidungsladen: knollenförmige Wanderschuhe, Rucksäcke, Windjacken und diese Hosen mit dem Reißverschluss, die sich lang oder kurz tragen ließen. Hinter mir schlenderte ein Paar, das sich auf Deutsch unterhielt. Der Himmel leuchtete in einem gepuderten Himmelblau.

Wenn man alleine reist, fällt man auf, weil man immer aussieht wie jemand, dem etwas fehlt. Ein Partner, eine Aufgabe, eine Unterhaltung. Aber vielleicht empfand ich das auch nur so. Vielleicht kümmerten sich die anderen Leute gar nicht um mich. Vielleicht war ich unsichtbar geworden. Eine alleinstehende Unsichtbarkeit.

Wieso überhaupt alleinstehend? Wieso nicht alleingehend oder alleinliegend oder alleinlaufend? Als stünde man die ganze Zeit herum, so alleine. Zu einem Paar würde ja auch keiner sagen: »Ach, Sie sind wohl zusammenstehend.« Eine alleinstehende Person ist eine statische Angelegenheit, ein Verharren, als würde sie darauf warten, dass etwas beginnt.

Die Einwohner von Nasser Sack waren ebenfalls unsichtbar, zumindest sah ich keinen auf der Straße. Vor dunkelroten Holzhäusern, die auf Stelzen in den Fels gebaut waren, parkten Schneemobile und Autos. Es gab keine Gärten, nur Stein in jeder Form: Geröll, Kiesel, Felsen, Sand. Was arbeiteten die Leute hier? Gab es einen Supermarkt? Gab es die Einwohner überhaupt?

Ich könnte hierbleiben. Ich könnte eines dieser dunkelroten Häuser mieten, eins mit Blick auf das türkismatte, milchige Wasser, umgeben von hohen Bergen – in direkter Nachbarschaft zur Eiskappe, die darauf wartete, dass sie verschwand. Mein Verschwinden würden die anderen nicht bemerken. Ich könnte in Zukunft in einem dieser Häuser sitzen, Tee trinken und aufs Wasser schauen. Ab und zu würden Passagiere an meinem Fenster vorbeilaufen, auf dem Weg zu ihrem Schiff, sie würden miteinander plaudern, sich umschauen, vielleicht würde einer von ihnen mein Haus sehen und denken: Was wäre das schön, wenn ich da wohnen könnte. Vor mir sah ich die anderen Passagiere, Männer mit Rucksäcken, weißen Haaren, Frauen in Anoraks, wenigstens bin ich jung, dachte ich, wenigstens bin ich nicht wie die. Aber war ich das, jung? War ich nicht wie die?

In den vergangenen Wochen hatte die Reederei mit einer an Penetranz grenzenden Regelmäßigkeit E-Mails verschickt, in denen sie die Passagiere über die Eisverhältnisse aufklärte, denn auch wenn die Gletscher schmolzen, bedeutete das noch lange nicht, dass zuvor unpassierbare Wege nun passierbar waren. Das hatte etwas mit Luftfeuchtigkeit, Regenmassen, Tiefdruckgebieten und der Polardrift zu tun, die selbst Meeresforscher noch nicht vollständig enträtselt hatten.

Wer wollte, konnte im Vorfeld dieser Reise also Eisspezialist werden, sogenannte Charts lesen, bunte Bilder, die aussahen, als hätte jemand ein »Malen nach Zahlen«-Bild nicht fertig bekommen. Rote Flecken in dem Gewirr aus Strichen und runden Formen waren Gebiete, die zu neunzig bis einhundert Prozent mit Eis bedeckt waren – Eis, so dick und alt wie das von Gletschern. Dunkelgrün war über zwei Meter dickes Meereis. Rot bedeutete mehrjähriges Eis. Unser Schiff konnte einjähriges Eis bis zu einer Dicke von fünfzig Zentimetern schieben, das waren die hellgrünen und die gelben Flecken, doch von denen gab es auf unserer Route zu wenige. Auf der Strecke befanden sich außerdem mehrere Stellen, in die der Wind oder die Strömung jederzeit gewaltige Eismassen hineinschieben konnte.

Die MS Svalbard war eine umgebaute Autofähre mit einem schwarzen Rumpf und einem roten Streifen drum herum. Sie – Schiffe waren weiblich – war so groß wie ein Dreifamilienhaus. Mein erster Gedanke war: Da sollen wir alle draufpassen? Dieses kleine Ding soll uns vor Eis und Stürmen schützen? Sie wirkte im Hafen, als hätte ein Riese sein Spielzeugboot hier vergessen. Vor einer geöffneten Ladefläche setzte ein Gabelstapler Paletten ab. Ein dicker Mann in weißer Uniform lief drum herum, der Koch prüfte die Lieferung: Melonen, Ananas und noch mehr Melonen. Von einer anderen Palette lud ein blonder Typ mit Bommelmütze unsere Koffer ab. Ich ging über eine Gangway an Bord. Vor mir schoben die Frauen ihre Handtaschen durch einen Durchleuchter, so wie ihn die Kontrolleure am Flughafen benutzten. Die eine wurde fotografiert. »Fürhe dasse Borde-ause-weise«, sagte der asiatisch aussehende Mann an der Leuchtschranke. Die erste ging durch. Eine metallene Stimme sagte: »Welcome.«

Meine Kabine lag auf Deck 7 am Ende eines langen Ganges. Links befand sich ein halbrundes Bad, und hinter der Längsseite des Bettes gab es ein großes Fenster, dessen Form an den Bildschirm eines Röhrenfernsehers aus den Sechzigerjahren erinnerte. Auf dem Bett lag mein Koffer, der mich irgendwo zwischen dem Unterdeck und hier überholt hatte. Ich überlegte, auszupacken, doch vor dem Fenster begann die Luft zu flirren, roséfarben und hellgrau. Ich griff meine Kameratasche und rannte nach oben.

Eine Stunde später stand ich noch immer an Deck und starrte wie die anderen Passagiere bedeppert in den Himmel. So in etwa musste man sich wohl einen LSD-Trip vorstellen: Die Welt war ein pastellfarbener Acid-Traum. Eben waren die Felsen noch braun, jetzt schimmerten sie pink. Ich konnte weit schauen, weit hinaus in den Fjord, wo die Konturen der zerklüfteten Felsen und die Bergketten so deutlich zu sehen waren, als hätte sie jemand mit einer Rasierklinge in den eisblauen Abendhimmel gestochen. Selbst das Meer war kein Meer, sondern eine Masse aus zähflüssigem Öl, in der sich in hellsten Neonfarben alles spiegelte: der hellblaue Himmel, die fliederfarben schimmernden Berge, die vom Sonnenlicht gelbgoldenen Wolken. Die Metallverkleidung des Schornsteins leuchtete kupferfarben, der schwarze Rumpf schimmerte lila. Leise zog das Schiff durch den Fjord, wie ein Messer durch weiche Butter. Wir hinterließen schimmernde Rillen im dunkelblau-schwarzen Wasser. Ich schaute zurück und stellte mir ein Band vor, das sich zwischen mir und dem Land spannte und immer dünner wurde, bis es zerriss.

Beinahe Alaska

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