Читать книгу Beinahe Alaska - Arezu Weitholz - Страница 8

Eismitte

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War das der Himmel? Ich schaute hinab auf eine gewaltige weiße Fläche. Es war ein Weiß, das ich so noch nie gesehen hatte. Es war unwirklich, hell, es leuchtete aus sich heraus und reichte bis zum Horizont, wo sich die Ebene wölbte, sodass ich die Erdkrümmung erkennen konnte. Ich griff zur Kamera, legte sie wieder weg, man konnte das nicht fotografieren oder filmen. Es war ein gänzlich blindes Weiß. Einsamkeit, dachte ich, vielleicht sah so die Einsamkeit aus.

Wir flogen über die Gletscher von Grönland, die größte zusammenhängende Eisfläche der Welt. Wenn sie schmolz, würde der Meeresspiegel um sechs Meter steigen, so gewaltig war die Eismasse, die auf dem grönländischen Kontinent saß wie eine Kugel Eis in einem sehr flachen, sehr weiten Becher. Die Geräusche im Flugzeug rückten in den Hintergrund, das Geschwätz der Menschen, das Brummen der Motoren. Dort unten war Alfred Wegener erfroren. Er hatte bewiesen, dass die Kontinente früher eine zusammenhängende Landmasse gewesen waren. 1930 war er von seiner Forschungsstation Eismitte aufgebrochen, weil die Vorräte nicht gereicht hätten. Unterwegs waren er und sein Assistent von den Winterstürmen überrascht worden. In letzter Zeit fühlte ich mich immer öfter wie Wegeners Urkontinent – als wäre ich zerbrochen und meine Teile drifteten nun langsam, aber unwiderruflich voneinander weg.

Ein Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Als ich wieder hinausschaute, sah ich im Flugzeugfenster winzige Rillen, als hätten die Wolken von außen mit spitzen Fingernägeln an die Scheibe gekratzt. Ich griff zum Skizzenbuch, doch ich konnte den Blick nicht von dem Weiß hinter den Kratzern lösen. Es leuchtete bis in die hinterletzte Ecke meines Kopfes und entblößte die Dinge, wie sie waren.

Da unten wartete keiner mehr. Ich hatte meine Eltern verloren, ich hatte mein Kind verloren, obwohl verloren das falsche Wort war, denn es klang, als hätte man etwas verbummelt oder verlegt, aus Schusseligkeit ist es einem aus der Tasche gefallen, durchs Netz oder durch ein Loch im Mantel. Verloren klingt, als hätte man beim Roulette auf die falsche Zahl gesetzt. Meine Eltern sind mir abhandengekommen. Das klang schon anders. Mein Kind ist mir nie geschehen. Auch das klang besser. Damit konnte man leben.

Meine Mutter starb vor einigen Jahren einen qualvollen Tod. Davor kamen mir andere Menschen abhanden, darunter ein Vater, eine große Liebe und mehrere Verwandte, die ich gerne als Erwachsene kennengelernt hätte, aber so darf man nicht denken. Man soll nach vorne sehen, die nächsten Schritte gehen, das Kreuz in den Wind drehen, damit der Sturm die alten Gedanken aus dem Kopf pustet, den Staub, den Moder, damit sich nichts festsetzen kann, so wie im Körper feststeckende Knoten irgendwann zu einem Geschwür werden können, das einen das Leben kostet. Man muss nach vorne schauen.

Mein Beruf gestattete es mir, dauernd nach vorne zu sehen. Ich sollte Bilder aus der Arktis mitbringen. Fotos, Skizzen, Zeichnungen, egal, Hauptsache, sie fingen die Stimmung ein. »Wie ist es da?«, hatte meine Verlegerin die Luft zwischen uns gefragt. »Was sieht man da? Wie fühlt sich das an?« Und so saß ich nun in dieser nach vorne schauenden Verfassung, einer klaren und rundum unverwandten, also anhanglosen Verfassung, an Bord eines Flugzeugs und flog über die Eiskappe Grönlands.

Ich hatte gelesen. Über die Eisdrift, den Eisblink und den magnetischen Nordpol. Über Schweröl und den Permafrost, über die Inuit und Nilas-Eis, über John Franklin und über die schwarz-weiße Labrador-Ente, die leider ausgestorben war, so wie der Große Alkvogel und der Dodo.

Ich hatte eingekauft. Warme Socken, eine dicke Jacke, Handschuhe, eine neue Mütze, ein neues, besseres Objektiv für meine alte Nikon, warme Unterhosen und noch mal dicke Socken, man konnte nie wissen.

Ich hatte mich verabschiedet. Meine Bekannten demonstrierten in Berlin gegen den Klimawandel. Ich würde ein Schiff besteigen, das eine Route fuhr, die überhaupt nur wegen der Erderwärmung langsam schiffbar wurde. Die Nordwestpassage.

Wir würden von der Südspitze Grönlands nach Norden fahren, bis zur Diskobucht, dann westwärts über den Atlantik und durch das arktische Labyrinth der kanadischen Küste bis nach Alaska. Die Reise sollte zweieinhalb Wochen dauern. Das Schiff war ein Passagierschiff, aber vergleichsweise klein, es passten nur einhundert Passagiere drauf. Die Reederei hatte diese Reise als Expeditionskreuzfahrt verkauft, das bedeutete: wenig Unterhaltung, kein Ballermanntourismus, dafür Vorträge, Landausflüge und große Panoramafenster. Das Schiff hatte sogar einen Hybridmotor und fuhr ohne Schweröl, doch es war immer noch – da hatten die Bekannten nicht unrecht – eine ökologische Sauerei. Sie waren aber nicht wegen meines CO2-Fußabdrucks schockiert, ein Thailandflug hätte sie kaltgelassen. Sie empörten sich, weil man in der Arktis aus nächster Nähe beobachten konnte, wie die Welt vor die Hunde ging. Weil die Arktis, der letzte unberührte Ort, bisher unzugänglich, unwirtlich und karg, nun in greifbarer Nähe war. Der letzte weiße Wal, am Haken.

Ich schaute nach vorn. Das Blau über dem Eis stand dem Weiß in seiner Klarheit in nichts nach.

Beinahe Alaska

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