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Gut, dass sie eine Verabredung hatte. Pflichterfüllung ist die große Schwester des Verdrängens. Emma stand auf, duschte, zog sich an. Sie hatte definitiv zu wenig Wäsche mitgebracht! Ein Irrsinn zu denken, sie könne sich mit dem Rucksack begnügen. Schließlich war sie nicht auf dem Campingplatz. Sie verkroch sich auch nicht in Oma Ilses Apartment – in ihrem Kopf gehörte es noch immer Oma Ilse, auch wenn im spanischen Kataster inzwischen ihr Name stehen sollte. Gab es hier eigentlich so etwas wie ein Kataster? Egal. Sich im La Palma zu verkriechen, das hätte ihr jetzt gefallen. Niemanden sehen zu müssen, einfach das Meer zu beobachten. Aus ihrem Zimmer im Victoria sah sie, über den Balkon hinweg, den Innenhof mit dem Pool, eine weiße Villa, Palmen und dahinter den wild gezackten Bergrücken. Anders als am Abend zuvor konnte sie nichts davon entzücken.

Zu ihrer Beruhigung war Emma im Frühstücks-Restaurant nicht die Einzige in Jeans und T-Shirt. Sie ließ sich ein Omelett mit Tomatenwürfeln, Chorizo- und Chilistücken zubereiten. Auch der Café con Leche war vorzüglich. Das Personal behandelte sie genauso freundlich und zuvorkommend wie alle anderen Gäste, ob sie nun Business-Kostüme, Anzüge oder Designerkluft trugen. Das half ihr erheblich, sich nicht deplatziert vorzukommen. Oder derangiert.

Um zehn Uhr sollte sie zu ihm ins Candela II kommen, hatte Horst Hanisch gesagt. Sie möge einfach ein Taxi nehmen. Lieber wäre sie gelaufen, aber dazu reichte jetzt die Zeit nicht mehr. Emma nahm sich das für den Rückweg vor.

Das Hochhaus kam Emma, als sie davorstand, vor wie eine uneinnehmbare Burg. Nirgends Vorsprünge, an denen Eroberer hätten hochklettern können. Es erwartete sie auch keine weitgeöffnete Pforte, sondern eine bündig in die kühle Fassade aus mattem Stahl und dunklem Glas eingelassene, relativ unscheinbare Tür. Daneben kein Namensschild, sondern eine leicht zu übersehende Tastatur. Nur Ziffern, keine Buchstaben. Hanisch hatte ihr eine gut merkbare Ziffernfolge genannt. Als hätte sie ein Zauberwort ausgesprochen, ertönte ein sonores Summen. Emma drückte nur leicht gegen die Tür, den Rest erledigte ein gut verborgener Elektromotor. In der Eingangshalle saß ein junger Mann hinter einem niedrigen Schreibtisch und blickte ihr freundlich entgegen. Emma sagte, sie wolle zu Señor Hanisch. Der junge Mann telefonierte, wobei er nicht aufhörte, sie freundlich anzulächeln, nickte, legte den Hörer wieder auf und deutete auf die Wand mit den Aufzügen. Er trug einen Knopf im Ohr und keine Uniform, wie Emma erwartet hätte, sondern Jeans und T-Shirt, wie sie. Er sprach sie auf Englisch an: »Please take Elevator Number 3. It will bring you to the 22nd Floor. Apartment 2203. You will be expected«.

Hanisch erwartete sie vor der Aufzugtür. Auch er in Jeans und T-Shirt. Heute war offenbar der Jeans- und T-Shirt-Tag, dachte Emma und belobigte sich: alles richtig gemacht! Irgendwie half ihr das, sich besser zu fühlen.

Bevor Emma Zeit hatte sich umzusehen, noch auf dem Weg vom Aufzug zur Apartmenttür, ließ Hanisch wie nebenbei fallen: »Gestern war von 50.000 Euro die Rede. Ich zahle Ihnen 60.000. Wie gefällt Ihnen das?«

Emma zog überrascht die Augenbrauen hoch. Das war wahnsinnig viel Geld. Für sie. Tanja hatte ihr bei der Lippe Revue 2.000 Euro brutto im Monat gezahlt. Plus Fahrtkosten. Emma erschien es am klügsten, erst mal gar nichts zu sagen und unbeeindruckt zu tun.

»Plus Spesen natürlich. Ein Drittel bekommen Sie sofort. Nachdem wir einen Vertrag unterschrieben haben. Der ist schon vorbereitet. Er liegt beim Notar. Es fehlen nur noch Angaben zu Ihrer Person. Das zweite Drittel, wenn Ihre Recherchen beendet sind und eine Erstschrift des Manuskripts vorliegt. Das letzte Drittel, wenn Sie die Endfassung abliefern und wir alle zwei zufrieden sind. Das Geld wartet beim Notar auf Sie. Früher hätte man gesagt, auf einem Anderkonto. Klingt das fair?«

War das fair? Emma schalt sich naiv. Sie hätte sich beraten lassen sollen, vor ihrem Flug nach Teneriffa. Aber von wem? Sie kannte niemanden, der schon mal als Ghostwriter für einen Prominenten gearbeitet hat. Vom Journalistenverband? Ob es Tarifempfehlungen für Ghostwriter gab? Wohl eher nicht.

Hanisch deutete Emmas Zögern falsch. »Wenn Ihnen das nicht ausreichend scheint und sich alles länger hinzieht als, sagen wir, ein Jahr, können wir über eine Zulage reden. Aber momentan kann ich Ihnen einfach nicht mehr bieten. Mehr Bares habe ich nicht. Oder ich müsste noch einen Kredit auf mein Apartment hier aufnehmen. Übrigens, vielleicht sollten wir hineingehen.« Hanisch deutete auf eine offen stehende Tür aus dunklem Holz. »Ich weiß nicht, was die Leute Ihnen über mich gesagt sagen, Frau Schneider, aber ich bin nicht reich – auch wenn die Aussicht aus dem Fenster hier Ihnen etwas anderes suggerieren sollte. Vielleicht hätten wir uns, so gesehen, lieber in einer schäbigen Tapas-Bar zusammensetzen sollen. Aber hier habe ich nun einmal meine Akten.«

Die Aussicht aus dem Panoramafenster in Hanischs spärlich möbliertem Apartment hatte Emma sich grandioser vorgestellt. Zwar lag ihr Santa Cruz zu Füßen – oder besser, als hielte ihr jemand einen mit Häusern und Straßen bestickten Teppich entgegen. Dank des ansteigenden Geländes musste sie den Blick nicht senken, um auf Häuser zu sehen. Aber wo war das Meer? Und auch der Teide hielt sich versteckt. Die Möbel kamen Emma vertraut vor. Der schwedische Elch ließ grüßen.

»Die Summe ist schon okay. Aber ich bin mir noch gar nicht sicher, ob ich Ihr Angebot überhaupt annehmen sollte. Ich habe keine Erfahrung als Ghostwriterin. Bisher habe ich immer unter meinem eigenen Namen geschrieben. So, wie es mir richtig erschien. Klar wurden meine Texte lektoriert, korrigiert, redigiert. Aber Zensur fand nicht statt. Hier geht es jetzt aber gar nicht um meine Meinung oder meinen Stil, sondern um Sie. Ich weiß nicht, ob ich Ihren Stil treffen kann…«

Hanisch schüttelte energisch den Kopf. »Das sollen Sie gar nicht. Das haben Sie missverstanden. Oder ich habe mich nicht klar ausgedrückt. Oder Paul Bärkamp hat mich falsch wiedergegeben. Ich habe gar kein Interesse daran, in den PEN-Club aufgenommen zu werden. Ich will mich nicht lächerlich machen. Nicht lächerlicher jedenfalls, als ich ohnehin schon wirke: als abgehalfterter Politiker, der nicht spürte, wie der Boden unter ihm zu wanken begann. Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich nicht schreiben kann. Also Briefe schon, natürlich, auch Aktenvermerke. Ich bin gut in Aktenvermerken. Das werden Sie feststellen. Auch, wie hilfreich es ist, sich beizeiten Notizen zu machen. Aber ein Buch zu schreiben, das traue ich mir nicht zu. Übrigens engagiere ich Sie auch gerade deshalb, damit Sie Ihre Sicht der Dinge zwischen Buchdeckel bringen, nicht meine. Wobei ich natürlich hoffe, dass sich Ihre Sicht der Dinge, um die es hier geht, mit meiner decken wird, jedenfalls weitgehend, sobald Sie erst mal alle Akten und Fakten kennen und mit Leuten gesprochen haben. Ich verspreche Ihnen: ich werde keine Zensur ausüben. Deshalb die Drittelregelung. Wenn wir nach zwei Dritteln des Weges nicht übereinstimmen, dann steige ich aus. Sie haben 40.000 Euro und können mit dem Manuskript machen, was sie wollen. Vorausgesetzt, ich habe alle Zitate autorisiert, also alles, was Sie mir in den Mund zu legen gedenken. Sonst bleiben Sie auf 20.000 Euro sitzen. Die sind Ihnen in jedem Fall sicher. Na?«

»Okay. Das klingt fair. Ich würde mich aber gern mit Paul Bärkamp beraten, bevor wir irgendetwas unterschreiben. Geht das in Ordnung?«

»Sicher. Meinen Vorschlag habe ich übrigens mit Bärkamp zusammen entwickelt. Ich würde mich sehr wundern, wenn er Ihnen raten würde, ihn nicht anzunehmen.«

Dieser Hinweis vor allem überzeugte Emma. Sie fühlte sich mit einem Schlag sicher genug zu fragen: »Sie haben von Akten gesprochen. Was sind das für Akten?«

»Also: sind wir im Geschäft?«

Emma nickte.

Hanisch erhob sich aus dem halbovalen Kunstledersessel – Kleipan? Tröllop? Oder wie hieß das Modell? Ob das echte schwedische Wörter waren? Was sie wohl bedeuten mochten? Oder sollte das nur schwedisch klingen, nach Bullerbü und nordischer Exotik?

Hanisch öffnete eine Schranktür (Billy), und Emma blickte auf ein gutes Dutzend sauber beschrifteter Leitzordner. »Voilà, meine Dokumentensammlung. Man könnte auch sagen: meine Giftsammlung. Die möchte ich Ihnen gern überlassen. Hier steht sie nicht gut.«

»Wie meinen Sie das: Hier steht sie nicht gut? Brauchen Sie den Schrank für andere Dinge?«

»Ha! Als wenn ein alter Sack wie ich noch irgendetwas sammeln sollte. Ich werde auch kein Rosenthal-Service mehr kaufen. Nein: ich fände es nicht gut, wenn die Akten gestohlen würden. Es sind Originale. Ich rege an, dass Sie alles scannen und hochladen, möglichst bald, und am besten in mehreren Sicherheitskopien. Für junge Leute wie Sie ist das doch ein Klacks. Ich wüsste gar nicht, wie man einen Scanner bedient. So was hat immer meine Sekretärin für mich erledigt.«

»Wer sollte diese Akten denn stehlen wollen?« Emma erschien Hanischs Sorge etwas theatralisch. Machte er sich wichtig?

»Die Antwort auf diese Frage werden Sie finden, wenn Sie die Akten studieren. Jedenfalls hat schon einmal jemand versucht, hier einzubrechen. Er – oder sie? – ist nur offenbar gestört worden. Die Spuren an der Tür waren jedenfalls eindeutig, hat die Polizei gesagt. Zum Glück sind die Apartmenttüren in diesem Haus extrem gut gesichert, mit Stahlplatten und dreifachen Bolzenschlössern. Aber dennoch, ich fürchte, wer Angst vor dem Inhalt dieser Akten hat, den schrecken auch Stahlbolzen nicht ab.«

»Ein versuchter Einbruch? Hier bei Ihnen? Nur hier? Oder wurden auch andere Türen aufgebrochen – oder versucht aufzubrechen?«

»Nein, andere Spuren als hier an meiner Tür fanden sich nicht. Letzte Woche ist das gewesen, am helllichten Tag, als ich einen Notartermin hatte.«

»Und Sie sind sicher, dass der oder die verhinderten Einbrecher es auf Ihre Akten abgesehen hatten?«

»Auf was denn sonst? Sehen Sie sich hier um! Sehen Sie hier irgendwelche Wertgegenstände? Auch im Safe liegt weder viel Bargeld noch Schmuck. Dieses Kettchen hier«, Hanisch fasste sich an den Hals, »und meine Armbanduhr trug ich bei mir. Falls Ihnen das Kettchen albern vorkommt: ich trage es nicht aus Eitelkeit, sondern aus Sentimentalität. Als Erinnerung. Woran, das erzähle ich Ihnen vielleicht, wenn Sie mit den Akten durch sind.«

»Finden Sie nicht auch, dass Sie mir erst einmal die Geschichte erzählen sollten, die ich aufschreiben soll? In groben Zügen wenigstens? Damit ich weiß, wonach ich in den Akten suche? Was treibt Sie an? Wofür wollen Sie so viel Geld ausgeben? Wenn Sie so uneitel sind, wie Sie sagen, was ist es dann? An wem wollen Sie sich rächen? Und warum?«

»Das gefällt mir. Jetzt sind wir beim Thema. Los geht’s! Aber erst sollten wir einen kleinen Ausflug machen, zum Notar. Und dann werde ich Ihnen meine Geschichte erzählen? Haben Sie ein Tonbandgerät?«

»Ein Aufnahmegerät und mein Smartphone. Tonbänder sind zwischenzeitlich aus der Mode gekommen.«

Und Horst Hanisch erzählte. Sie hatten am Esstisch in seinem Apartment Platz genommen, nach der Rückkehr vom Notar.

»Ich will gar nicht erst behaupten, es ginge mir nicht um mich. Um mein Bild in der Öffentlichkeit. Doch, auch ich bin eitel. Und ja, ich bin enttäuscht, ich bin verbittert, ich ärgere mich über meine Ohnmacht. Das ist alles wahr. Und ich will Gerechtigkeit, auch für mich. Anderes zu behaupten, wäre naiv oder verlogen. Und Sie würden es mir ohnehin nicht abnehmen. Was übrigens auch ein Grund dafür ist, dass ich nicht selber ein Buch schreiben will. Ich hoffe einfach, dass Ihre Sicht der Dinge meiner ähneln wird, wenn Sie erst einmal die Fakten kennen. Und Ihnen glaubt man dann natürlich eher als mir, dem Betroffenen, dem es scheinbar nur um Rechtfertigung und Rache geht.«

Emma schwieg. Sie hatte ihr digitales Aufnahmegerät mitten auf den Tisch gelegt, ihr Smartphone daneben und kontrollierte nur von Zeit zu Zeit, ob die Dinger noch Strom hatten.

»Aber wenn es hier nur um mich ginge, dann könnte ich ein paar Journalisten ein paar Gemeinheiten stecken – glauben Sie mir, da hätte ich genug zu bieten – und mich an den Berichten ergötzen. Und mir von dem Geld, das ich Ihnen gebe, einen schönen Tag machen.

Auch wenn das jetzt hohl und aufgeblasen oder pathetisch klingen mag in Ihren Ohren: es geht mir um Gerechtigkeit. Es geht mir um unsere Demokratie. Um den Rechtsstaat. Es geht mir um all die Dinge, derentwegen ich mal in die Politik gegangen bin. Um die Dinge, derentwegen ich Politik gemacht habe – auch wenn die hehren Grundsätze und Ziele uns im Alltag schon mal aus dem Blick geraten. Ja, auch mir. Trotzdem: ich behaupte von mir, ich bin Demokrat, durch und durch. Und mehr als das: Sozialdemokrat. Das sind die unter den Demokraten, die im Zweifel immer den eigenen Kopf hinhielten, wenn andere ihn schon eingezogen hatten. Die immer wieder in Erinnerung rufen, dass alle Menschen gleiche Rechte haben. Arme wie Reiche. Menschen ohne Beziehungen genauso wie Mitglieder von Lions- und Rotary-Clubs. Und dass jede Macht in der Demokratie immer nur geliehen ist, vom Volk. Und immer nur auf Zeit verliehen wird. Das unterscheidet uns von Kommunisten.«

»Das ist jetzt schon die zweite Grundsatzrede, die Sie mir halten. Wäre es nicht besser, Sie hielten die im Bundestag?«

»Glauben Sie etwa, da hätte ich aufmerksamere Zuhörer als jetzt hier? Und mehr? Dass Sie sich da mal nicht täuschen. Was glauben Sie, wozu ein Neuling im Bundestag, wie ich es war – ich hatte ja nur eine Legislatur – sprechen darf, vor dem Plenum? Da geht’s ums Komma hinterm Komma. Die großen Themen und die guten Sendezeiten sind den dicken Fischen vorbehalten. Der Kanzlerin, wichtigen Ministern, den Fraktionschefs. Gerade eben so noch den stellvertretenden Fraktionschefs. Dahinter wird’s duster.«

»Wenn das so ist, dann sollten Sie doch gar nicht enttäuscht sein, kein MdB mehr zu sein.«

»Hm! Guter Punkt. Aber erstens: die Diäten sind nicht zu verachten. Ich habe in meinem Leben nie so gut verdient wie in den vier Jahren, die ich MdB gewesen bin. Zweitens: die Altersversorgung. Davon können Normalarbeitnehmer nur träumen. Um dieses Privileg in Anspruch zu nehmen, war ich allerdings nicht lange genug dabei. Aber die Altersversorgung ist ein starkes Incentive, wiedergewählt werden zu wollen, mindestens zwei Mal. Dann hast du ausgesorgt. Keiner redet drüber, aber jeder weiß es. Das ist ein sehr effizientes Führungsinstrument. Wer nicht kuscht, wird nicht wieder aufgestellt. Und perdu ist die kommode Alterssicherung.«

»Das heißt, Sie haben nicht gekuscht? Das ist der Grund, warum Sie nicht wieder aufgestellt wurden? Es heißt aber, Sie hätten die Bodenhaftung verloren.«

»Klar. Das heißt es in solchen Fällen immer. Wenn Sie nachzählen, wie oft ich im Wahlkreis war, wie viele Sprechstunden ich dort abgehalten habe: da dürfte ich ziemlich sicher im Durchschnitt liegen, mindestens. Ich kenne jedenfalls eine Menge Abgeordnete, für die vor Ort im Wahlkreis praktisch alles ihr Assistent erledigt, außer im Wahlkampf natürlich. Und die dennoch immer wieder aufgestellt werden. Und gewählt.

Wichtig ist, in welche Ausschüsse man kommt. Ich wollte unbedingt in den Verkehrsausschuss. Da wird nämlich richtig viel Geld bewegt. Bauen und Verkehr: da kann man Einfluss nehmen und was für seinen Wahlkreis tun. Die Schwarzen wissen das genau, wussten das schon immer. Sozis neigen immer dazu, sich für Sozialpolitik zu interessieren, oder Umweltschutz oder Familienpolitik. Alles ganz wichtig, aber die wirksamste Sozialpolitik ist die Bau- und Verkehrspolitik. Bleibt Wohnraum erschwinglich? Werden unsere Innenstädte zu Gettos für Reiche? Wird Mobilität zu einem Privileg? Das sind meine Themen gewesen.«

»Das klingt doch gut. Wieso hat das Ihre Genossen vor Ort nicht beeindruckt?«

»Erstens: es dauert, bis bei einem Bauprojekt Geld fließt. Es dauert lange. In einer Legislatur kannst du rödeln, wie du willst, da kommt noch kaum etwas in deinem Wahlkreis an. Und zweitens: ich habe ein paar Dinge durchschaut, dank meiner Tätigkeit im Ausschuss und dank den Recherchemöglichkeiten, die du als Abgeordneter hast. Ich fand plötzlich Antworten auf Fragen, die ich mir immer schon gestellt hatte.«

»Nämlich?«

Hanisch seufzte und holte tief Luft. »Warum im Vest, also im Kreis Recklinghausen, immer zwei ganz bestimmte Baufirmen beteiligt sind, wenn öffentliche Gelder ausgegeben werden. Warum das in meiner Partei und Fraktion niemanden aufregt, ja noch nicht einmal interessiert. Warum es in jeder Runde immer gleich ganz still wird, wenn man danach fragt, ob es keine anderen Bauunternehmen im Vest und drum herum gibt? Wo doch europaweit ausgeschrieben werden muss. Ist doch komisch. Aber offenbar findet das keiner komisch außer mir. Und dass die gute Manu May die Nichte des Inhabers einer dieser beiden Firmen ist: Schulterzucken. Interessiert niemanden. Auch nicht die sogenannte Opposition übrigens. Auch nicht die Presse, die in unserer Gegend ja, Pardon, ein Witz ist.«

Emma zog ein beleidigtes Gesicht.

»Ich will damit nichts gegen Sie sagen, um Gottes Willen nicht. Kriegen Sie das nicht in die falsche Kehle. Schon gar nicht gegen Paul Bärkamp. Das ist ein ernsthafter und ehrenhafter Journalist, so wie ich mir Journalisten vorstelle. Vorgestellt habe. Leider habe ich von diesem Kaliber nicht allzu viele kennengelernt, jedenfalls nicht bei uns in der Provinz. In Berlin oder Hamburg oder München mag das anders aussehen.«

Emma fand, etwas für die Ehre ihres Berufstandes tun zu müssen. »Es räumen auch immer wieder Reporter von Regionalzeitungen Journalistenpreise ab, weil sie Affären aufgedeckt und Skandale enthüllt haben.«

»Sicher. Immer mal wieder. Und Skandale: klar, dafür interessiert sich jeder. Wer hat mit wem? Dieses Zeug. Die wahren Skandale sind leider für Einsdreißignachrichten zu kompliziert. Da müsste man, um auf der sicheren Seite zu sein, wochenlang recherchieren. Hatten Sie die Zeit dazu, bei der Halterner Post?«

Eine rhetorische Frage. Emma blieb stumm. Natürlich fehlte im Alltag einer Lokalreporterin die Zeit für gründliche, längere Recherchen, jedenfalls jetzt, im social-media-Zeitalter, wo jeden Tag neben Berichten für die Zeitung zwei, drei Postings im Netz von dir erwartet wurden.

»Und Sie wissen doch so gut wie ich, liebe Frau Schneider, dass Skandale selten ans Licht kommen, nur weil fleißige und misstrauische Journalistinnen wie Sie beim unermüdlichen Schnüffeln und Buddeln darauf gestoßen sind. Sondern weil sie einen Tipp bekommen haben! Von Whistleblowern, wie das heute heißt. Durchstechereien nannte man das früher. Heute gibt’s ja im Internet Plattformen dafür. Da kann jeder seinen Eiter loswerden. Nur: für den provinziellen Recklinghäuser Eiter interessiert man sich da auch nicht wirklich.«

»Okay. Verstanden. Der Punkt geht an Sie. Sie sind also der Whistleblower, und ich soll für Sie sein, was der Guardian für Edward Snowden ist.«

Hanisch schmunzelte. »Snowden? Ha! So ungefähr. Aber ich schlage wirklich vor, Sie nehmen die Akten mit und studieren sie. Wenn die drei Tage nicht reichen, bleiben Sie länger. Besitzen Sie nicht ein Apartment auf der Insel? Paul Bärkamp hat, glaube ich, so was erwähnt. Jedenfalls sollten Sie die Akten an einem Ort deponieren, der nicht mit mir in Verbindung gebracht wird. Dass ich Ihr Zimmer im Victoria gebucht habe, ist leicht herauszufinden.«

»Dass ich ein Apartment in Puerto besitze, allerdings auch. Jedenfalls sobald man Sie und mich in Verbindung gebracht hat.«

»Mag sein. Aber Sie sind findig, Frau Schneider. Sie werden einen Ort finden, der sicher ist. Ich muss gar nicht wissen, wo das ist.«

»Du meine Güte. Das klingt jetzt richtig konspirativ. Und gefährlich. Ich komme mir vor wie in einem Hollywoodfilm. Ist das nicht ein bisschen übertrieben?«

»Ich verstehe Ihre Skepsis, Frau Schneider. Sie glauben, ich blase mich auf und übertreibe meine eigene Bedeutung. Oder Ihre. Ich finde, Sie sollten wirklich erst mal die Akten studieren. Und kopieren! Aber vor allem darin lesen. Dann reden wir weiter. Morgen oder übermorgen. Nehmen Sie sich Zeit!«

Emma schreibt

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