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Оглавление»Du hast was?« Tanja von Dückers beugte sich so weit und so energisch über ihren massiven Eichenschreibtisch, dass einer der Bücherstapel, von denen die komplette Schreibfläche umrandet war, wie eine mittelalterliche Stadt von Burggräben und Mauern, gefährlich ins Wanken geriet. »Zeig her!«
Emma war froh, dass sie nicht auf einem der beiden 50er-Jahre-Cocktailsessel Platz genommen hatte, die Tanja von Dückers anstelle von Stühlen vor ihrem Schreibtisch platziert hatte, zusammen mit einem Beistelltischchen aus dunkel gefärbtem Glas auf gertenartig geschwungenen Messingbeinchen. Einer der Sessel war algengrün, der andere orange. Emma setzte sich grundsätzlich nicht vor Tanjas Schreibtisch. Erstens konnte sie sich niemals entscheiden, welche Farbe sie provozierender fand – das deprimierende Algengrün oder das schreiend optimistische Orange – und zweitens wäre sie sich lächerlich vorgekommen, auf so einem Partysesselchen hingelümmelt vor dem Eichenholzmonster von Schreibtisch, der vermutlich in seinem ersten und eigentlichen Büromöbelleben irgendein weitläufiges, dunkel getäfeltes Bergwerksdirektorenzimmer dominiert hatte. Dort hatte er bestimmt jenseits eines Perserteppichs von den Ausmaßen eines mittleren Vorgartenrasens residiert. Ein Cheftisch par excellence, signalisierend: mach dich klein, du Zwerg, vor deinem Chef und Gott!
Das Imponiermöbelstück passte eigentlich ganz und gar nicht zu Tanja von Dückers, oder allenfalls zum »von« in ihrem Namen, aber das war angeheiratet. Die Verlegerin und Chefredakteurin der Lippe Revue war die personifizierte Freundlichkeit und Unmittelbarkeit. Sie liebte es, ihre Gesprächspartner, gleich ob Mann oder Frau, Volontärin oder Anzeigenkunde, Bürgermeister oder Ministerin, ohne Vorwarnung in den Arm zu nehmen, unterzuhaken, links, rechts und wieder links abzubusseln, vertraut zu zwicken, neckisch zu stoßen. Das tat sie mit einer solch burschikos-eleganten und immer heiteren Selbstverständlichkeit, dass, soweit Emma dies beurteilen konnte, noch niemand abwehrend zurückgewichen war oder sich gestört gefühlt hatte, wenn Tanja von Dückers zu einer ihrer Charme-Offensiven angesetzt hatte. Diese Frau stellte Nähe her, schuf blitzschnell eine Aura der Vertrautheit – die es ihr immens erleichterte, dreiste Fragen zu stellen oder eine teure Anzeigenschaltung vorzuschlagen. Emma bewunderte sie sehr dafür. Tanja von Dückers gäbe eine glänzende TalkshowGastgeberin ab, dachte Emma oft – wenn sie für das heute gängige Infantil-TV nicht gut zwanzig Kilo zu viel auf den Hüften hätte und dreißig Jahre zu alt wäre. Außerdem trug sie gern wallende, ihre Hüften sanft umspielende Leinengewänder und behängte sich mit langen Ketten voller dunkel glitzernder Halbedelsteine: Geschenke ihres sie anbetenden Gatten, die aber alles andere als telegen wirkten.
Hauke von Dückers, ihr Ehemann, war von Beruf Erbe. Er war der letzte aus einer längst von anonymen Investoren abgelösten Dynastie von Bohrhammer-Herstellern. Da ihm das zwar ein Auskommen sicherte, ihn aber in keiner Weise beschäftigte, war er von Beruf eigentlich Gatte. Er selbst nannte sich: Verleger. Er war Verleger an der Seite der Verlegerin. Eine für beide Partner erquickliche Kombination: Der Name von Dückers öffnete Tanja alle Türen, jedenfalls im nördlichen Ruhrgebiet. Und Hauke musste sich auf Partys und bei Premieren niemals wie abgestellt und ausgemustert vorkommen. Der Name von Dückers zierte jede bessere Einladungsliste, die zwischen Düsseldorf, Münster und Dortmund zusammengestellt wurde. Und die Lippe Revue wurde zwar von niemandem journalistisch ernst genommen, lag aber auf Tischchen und Sideboards in beinahe jeder Chefetage aus, in Arztpraxen und Anwaltskanzleien. Das Heft glänzte mit sattbunten Bilderstrecken der Art: »Martin vor der Wülbecke und seine Gemahlin Annegret feierten ihre Silberhochzeit in illustrem Kreis auf Gut Stutenborg«, oder: »Die renommierte Kanzlei Bedenbrock und Sorge heißt jetzt BedenbrockSorgeGroßschmitt: Patriarch Reinhold Bedenbrock öffnete aus Anlass von Umbenennung und Umzug in neue Räume eine Flasche Champagner, »vom Aldi«, wie er mit gequälter Bescheidenheit betonte, und stieß mit geladenen Gästen an. Links im Bild Regierungspräsident Dr. Manfred Borchers neben seiner Gattin Ursula.« Journalismus at its best: jedenfalls in den Augen der Eitlen und Mächtigen. Wie Emma fand – und auf der Hochschule und bei Paul Bärkamp gelernt hatte: triviale Propaganda pur.
Die Lippe Revue spiegelte nach eigenem Anspruch »das gesellschaftliche Leben« im nördlichen Ruhrgebiet wider. Es war ihr Problem und ihre Stärke zugleich, dass es in diesem Siedlungshaufen ein gesellschaftliches Leben im Sinne einer glanzvollen Stadt- und Hofgesellschaft gar nicht gab. Es musste erfunden werden. Das zu tun hatte Tanja von Dückers zu ihrem Daseinszweck erhoben. Damit hatte ihre Revue ein »Alleinstellungsmerkmal«. Jede der Klein- und Mittelstädte des von Planungsbürokraten erfundenen, aber völlig kontur- und mittelpunktlosen Emscher-Lippe-Raums bemühte sich so wenig wie möglich aufzufallen, oder allenfalls durch kleine Triumphe über eine Nachbarin. Von Dorsten oder Waltrop aus gesehen sprühten Städte wie Bochum und Essen, ein paar Kilometer weiter südlich gelegen, nämlich nur so vor Glamour und Reichtum.
Dieser Sumpf aus Minderwertigkeitskomplexen, Neid und verstecktem Stolz – dem Stolz, trotz alledem bislang nicht untergegangen zu sein, nicht zu Geisterstädten oder Slums verkommen zu sein wie ähnliche einstige Zechenstädte in Nordfrankreich, England oder den USA, sondern hier und dort durchaus solide, ja gute Geschäfte zu machen, manchmal sogar weltweit: dieses Biotop war der fruchtbare Nährboden der Lippe Revue, seit mehr als zwanzig Jahren schon.
Emma kannte niemanden, der sicher zu sagen wusste, ob die Lippe Revue wirklich Geld einspielte oder nur ein kostspieliges Hobby des Dückerpaares war. Zahlen wurden nicht veröffentlicht. Die offizielle Anzeigenpreisliste, das hatte Emma bald begriffen, war Fassade. »Über alles lässt sich reden«, war einer von Tanjas Lieblingssätzen. Dabei beliebte sie ihrem Gegenüber – oder auch irgendjemand anderem im Raum – komplizenhaft zuzuzwinkern.
Immerhin zahlte Tanja ihren Autorinnen und Autoren – es gab deutlich mehr Autorinnen und Fotografinnen als männliche Kollegen, eine erfrischende Abwechslung zu den Redaktionen, die Emma ansonsten kennengelernt hatte – anständige Honorare. Bessere jedenfalls als Emma in ihrer Zeit als »Freie« bei Ruhrpott-Blättern je bezogen hatte. Sogenannte freie Journalisten, auch das hatte Emma inzwischen begriffen, waren vor allem frei von jeder Sicherheit. Und so frei, sich neben der Schreiberei oder dem Fotografieren noch andere Einkünfte suchen zu dürfen. Also: zu müssen. Wo keine Eltern bereitstanden, die Anschubfinanzierung in den Journalistenberuf zu finanzieren, blieb nur der Zweitjob als Kellner oder Taxifahrer. Oder sich in einer Agentur zu verkaufen, wie Emma das sah. PR zu machen, das Gegenteil von Journalismus. Public Relations. Emma hatte es immer abgelehnt, gleichzeitig für eine Redaktion und für einen möglichen Anzeigenkunden zu arbeiten. »Sie haben so einen frischen Schreibstil: Wollen Sie nicht etwas für unser Firmenjubiläum schreiben, für die Festschrift?« Solche Fragen waren ihr des Öfteren gestellt worden. Immer hatte sie freundlich verneint. Jedenfalls solange sie mit Jörg zusammengelebt hatte. Der bezog als Lehrer immerhin ein festes Gehalt. Gemeinsam kamen sie über die Runden.
Doch Jörg und seine Sicherheiten lagen jetzt ebenso hinter ihr wie ihre erste und bislang einzige Festanstellung als Redakteurin. Die letzte Ausgabe der Halterner Post war nämlich vor einem halben Jahr erschienen, begleitet von Gewerkschaftsdemonstratiönchen und ein paar wirklich rührenden Nachrufen. Sogar auf der Medienseite der Süddeutschen war das Ende der Halterner Post betrauert worden. Dabei, vermutete Emma, hatten sie in München »Haltern« erst mal googeln müssen.
Da Emma nur einen befristeten Vertrag hatte – wie alle Jüngeren in der Redaktion –, stand sie, anders als die älteren Kollegen, ohne Abfindung da. Sie war arbeitslos. Und so gut wie mittellos. Und deshalb geradezu glücklich, als sich Tanja von Dückers bei ihr meldete: »Mädchen, wie isses, wollen Sie nicht für die Revue schreiben?« Die Lippe Revue war für Tanja von Dückers immer nur »die Revue« oder auch »das Magazin«. Diese Sprachregelung hatte sich längst auch in Rathäusern, Kanzleien und auf Golfplätzen eingebürgert. Tanja von Dückers verbrachte viel Zeit auf den erstaunlich zahlreichen Golfplätzen der Emscher-Lippe-Region. Auch wenn sie selber gar nicht Golf spielte, was sie mit dem immer wieder wirkungsvollen Satz begründete: »Danke, ich habe noch Sex.« Ihr Mann spielte dafür umso leidenschaftlicher, was immer das für das Sexleben des Paares zu bedeuten hatte. Dass Castrop-Rauxel sich, im letzten Jahrhundert schon, einen Golfplatz zugelegt hatte, war Emma in ihrer Heimstadt Herne nicht entgangen. Das stand sogar in der Herner Lokalzeitung, damals, obwohl die sich sonst für Ereignisse außerhalb der engen Stadtgrenzen nicht interessierte. Im Ruhrgebiet gab sich jede Stadt als Kosmos für sich selbst. Eine Sonne, allerdings ohne Trabanten. Eine jede von ihnen wurde über die Jahre fahler als die andere. Sie nahmen sich gegenseitig das letzte bisschen Licht. Was die Stadtoberen aber nicht zu bemerken schienen. Ihre Gehälter flossen ja weiter. Arbeitslos wurden andere. Und leben ließ es sich hier ja durchaus.
Dank Tanja hatte Emma erfahren, dass es im Ruhrgebiet und drumherum längst mehr Golfplätze gab als Zechen. Viel mehr. Sogar mehr als Bundesliga-Fußballvereine. Und das wollte was heißen, im Dreieck zwischen Schalke, Dortmund und dem VfL Bochum.
Emma hatte Tanjas Anfrage in ihrer Mailbox gefunden, gleich nach ihrer fluchtartigen Rückkehr aus Teneriffa. Eigentlich hatte sie auf der Kanareninsel ja Ruhe finden wollen, Distanz, Zeit zum Denken, nach dem Ende der Halterner Post und ihrer Karriere. Stattdessen war sie dort über Leichen förmlich gestolpert und beinahe einem Triebtäter zum Opfer gefallen. Und beinahe hätte sie sich dort verliebt – wäre der Triebtäter nicht dazwischengekommen und all das, was sie über das zweite Leben ihrer geliebten Oma Ilse hatte erfahren müssen. Ilse Schneider, gewesene Fischhändlerin in Wanne-Eickel, als Präsidentin einer Eigentümergemeinschaft Herrin eines Apartmentungetüms in Puerto de la Cruz, hatte Emma in ebendiesem Haus eine Wohnung vererbt. Die gehörte Emma jetzt, immer noch – und immerhin. Neben ihrem ältlichen Auto, ihrem Mac und einigen gediegenen Möbeln stellte sie ihr einziges Vermögen dar.
Vor einem Jahr hätte Emma nur gelacht und ohne weiteres Nachdenken freundlich abgelehnt. Jetzt kam es ihr vor, als sie Tanja von Dückers’ Frage hörte, als habe jemand im Schummer ihrer kleinen Bochumer Wohnung ein Licht angeknipst. Zwar neigte sie spontan dazu, dennoch abzusagen, aber sie nahm die Anfrage als Zeichen: es gibt Licht am Ende des Tunnels! Emma würde nicht zur Dauerarbeitslosen werden, zur Hartzerin gar. Was eine für sie schier unvorstellbare Perspektive war, aber eine realistische, wie sie sich eingestehen musste. Emma kannte mehrere junge Männer und Frauen, die mit ihr an der Fachhochschule in Buer Journalismus studiert hatten und die jetzt »Aufstocker« waren, wie das so euphemistisch hieß; die von Kleinstverdiensten hier und da und im Übrigen von Sozialhilfe oder Spenden der Eltern lebten, mehr recht als schlecht nur dann, wenn nicht alle Einnahmequellen dem Finanzamt bekannt werden mussten.
Immerhin hatte Emma ja dank ihres kanarischen Abenteuers in die richtig große weite Welt des Journalismus hineingeschnuppert. Sie hatte die Bildzeitung beliefern dürfen, zwar nicht mit eigenen Texten – die waren alle umgeschrieben worden –, aber immerhin mit Informationen. Für das Honorar hätte sie in ihrer Zeit als Freie in Wanne-Eickel Dutzende von Lokalteilseiten komplett voll schreiben müssen. Abstrus, fand sie. Abstrus war ihr auch erschienen, was Mike Dorenbeck zu erzählen wusste, aus seiner Zeit bei Gazetten in Hamburg. Mike – eigentlich Michael –, der jetzt, ganz und gar freiwillig und offenbar gern, die Ein-Mann-Redaktion der deutschsprachigen Inselzeitung auf Teneriffa darstellte. Mike, Michael – eigentlich stand ihm der längere, seriösere Name besser, fand Emma –, der um ein Haar ihr – ja was eigentlich, ihr Freund, ihr Geliebter geworden wäre? Wenn sie sich nicht entschieden hätte, Teneriffa fast fluchtartig zu verlassen. Nach ihrer Fast-Vergewaltigung an der Geisterquelle hatte sie nur noch weggewollt von der Insel, Abstand gewinnen. Nie zuvor hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt, so hilflos. Wieder zuhause, hatte sie vor dem Nichts gestanden. Sie hatte keinen Job, keinen Plan, niemanden, dem sie erzählen konnte oder wollte, was da geschehen war, an der Geisterquelle.
Noch immer, viele Monate später, schreckte Emma oft nachts auf, schweißbedeckt, von Geistern bis ins Ruhrgebiet verfolgt. Besonders verstörend fand sie, welche Rolle ihre Oma Ilse in diesen Alpträumen spielte. Emma hatte keine Lust, in ihrer Wohnung herumzuhängen oder sich bei Freundinnen auszuheulen – ja, bei welcher denn eigentlich? Emma wurde klar, dass sie so etwas wie die berühmte »beste Freundin«, der frau alles anvertraut, gar nicht hatte. Nie gehabt hatte. Ihren Eltern mehr zu erzählen, als in den Zeitungen gestanden hatte, das kam für Emma schon gar nicht infrage. Die beiden schienen auch voll und ganz glücklich und beruhigt zu sein, als Emma sich darauf beschränkte, ihr »Abenteuer« ins Komische zu wenden und anzudeuten, Oma Ilse habe auf Teneriffa nicht nur mit dem Golfspiel begonnen, sondern auch »Männergeschichten« gehabt. Als Emmas Erzählung diesen Punkt erreichte, erlosch das Interesse ihrer Eltern an weiteren Details schlagartig. »Ach was. Sag mal, wie war denn das Wetter?« hatte ihre Mutter die Kurve genommen: »Macht sich der Klimawandel auch auf den Kanaren schon bemerkbar?«
Statt also herumzuhängen und sich auszuheulen oder auf einen neuen, sich vermutlich niemals materialisierenden Auftrag der Bildzeitung zu warten, erschien es Emma nach kurzem Nachdenken gar keine so schlechte Idee, das Angebot der Frau von Dückers wenigstens mal auszuloten. Nein sagen konnte sie ja später immer noch.
Zum Nein war es dann nicht gekommen. Emma hatte keine Chance gehabt. Schon, dass Emma zurückrief, deutete Tanja von Dückers als klare Zusage. »Wunderbar, Kindchen, dass Sie anbeißen. Sie machen mich glücklich. You made my day. Apropos anbeißen: Haben Sie heute schon was gegessen? Nein? Wissen Sie was? Ich bin sowieso auf dem Weg nach Bochum. Ich treffe meinen Mann zum Lunch im »Esszimmer«. Kommen Sie doch dazu! Dann haben wir wenigstens ein anderes Thema als immer nur Golf. Meinen Mann kennen Sie doch? Er jedenfalls findet Sie äußerst begabt. Und attraktiv. Aber keine Angst: er ist streng monogam. Wenn er mich betrügt, dann nur auf Greens beim…« An diese Stelle setzte Tanja von Dückers eine kurze, theatralische Sprechpause. Gerade lang genug, um Emma wie gewollt das Wort »Einlochen« denken zu lassen. »Außerdem können Sie uns von Teneriffa erzählen. Da waren wir nämlich schon lange nicht mehr, mein Hauke und ich. Da soll es ja wunderbare neue Golfplätze geben. Und neuerdings sogar Morde!«
Tanja hatte gekichert, und Emma hatte nicht Nein sagen können. Nicht am Telefon und auch nicht später beim Lunch im Esszimmer, wo die Verlegerin und Chefredakteurin Emma zum »Surf’nTurf japonais« überredet hatte – Hummerschwänze mit Entrecote vom Charolais-Rind auf Algensalat – und dazu, am helllichten Tag mitten in der einstigen Malochermetropole Chardonnay zu trinken. »Den Champagner machen wir nachher in der Redaktion auf. Dann stoßen wir auf unsere neue Star-Schreiberin an.«
Die Star-Schreiberin wurde fortan auf Charity-Parties angesetzt, sie interviewte frisch gewählte Mandatsträger, porträtierte »Hidden Champions« und deren Chefs: weithin unbekannte, aber vielfliegende Mittelständler mit gewaltigen Meilen-Konten und entsprechenden Egos. Um den parallelen Anzeigenverkauf kümmerte sich die Chefin persönlich. So konnte sich Emma dem Selbstbetrug journalistischer Freiheit hingeben. Was ihr meist sogar gelang. Sie erschrak gelegentlich vor der Erkenntnis: ihr neuer Job machte ihr Spaß.
Tanja von Dückers’ umarmender Charme war über Emma gekommen wie ein plötzlicher Gewitterregen über eine ausgedörrte Bolzplatzwiese. Sie hatte nur noch nicken und Hauke und Tanja zuprosten können. Man duzte sich vom Start weg auf hanseatisch: »Emma, Sie…« Der Wein schmeckte Emma ausgezeichnet. Und der Champagner erst! Es war »keiner vom Aldi, sondern Eigenimport, direkt aus Metz«, wie Hauke von Dückers versicherte: »Von diesem kleinen Champagnerhaus hat schon mein Urgroßvater die Firma beliefern lassen. Und damit haben wir auch auf den Verkauf der Firma angestoßen. Was allerdings ein Akt der Vergeudung war. Die Chinesen haben den Tropfen nicht zu schätzen gewusst. War ihnen wohl nicht süß genug. Wir hätten Cola untermischen sollen. Oder Ginseng.«
Ansonsten beteiligte sich Hauke von Dückers selten am Gespräch. Er beschränkte sich auf waches Zuhören und gelegentliche, spöttische Einwürfe. Die allerdings saßen, nicht selten übrigens auf Kosten seiner Ehefrau. Worauf Hauke seine Tanja kokett anzublinzeln pflegte. Worauf wiederum sie, schamhaft den Blick senkend, leicht zu erröten schien.
Emma konnte sich nicht helfen: Sie bewunderte dieses Paar vom Start weg und willigte nur allzu gerne ein, als Tanja ihr vorschlug, doch besser gleich zum echten Du zu wechseln, später würde »so ein steifes Gestelze daraus und womöglich würde Hauke mit dir sogar Bruderschaft trinken wollen, der alte Wüstling.« Bruderschaft wurde natürlich dennoch geschlossen, prostend, einander umarmend, à trois. Hauke deutete einen züchtigen Wangenkuss an. Tanja tat wachsam und alarmiert. Großartig, wie die beiden sich inszenierten, fand Emma, und das nach mehr als 30 Jahren Ehe! Wie sie aufeinander eingespielt waren, sich ergänzten und dabei gegenseitig interessant machten! Ob ihr jemals Ähnliches gelingen würde? Mit wem?
Komisch, dass sie ausgerechnet in diesem Moment an Michael Dorenbeck denken musste. Es hatte einfach Spaß gemacht, mit ihm zu reden, rumzuflachsen, zu flirten. Er war ganz anders als Jörg. Dunkler, ernster, aber zugleich auch heiterer. Aufregender.
Jetzt konnte Emma den Bücherstapel gerade noch daran hindern, sich auf den zwar großflächig zerkratzten, aber sichtbar soliden Parkettboden der Villa Dückers zu senken, in der Tanja und ihr Hauke nicht nur wohnten, sondern in der auch Redaktion und Verlag der Lippe Revue residierten. Wobei die herrschaftlichsten Räume der Beletage voller Schreibtische standen, bei permanent geöffneten Flügeltüren: Verlag und Redaktion waren Eins und teilten sich konsequenterweise ein Großraumbüro. Die Chefredakteurin und Verlegerin begnügte sich mit einem quadratischen Raum zur Gartenseite hin. Dank großer Fenster und hoher, mit Ranken-Stuck geschmückter Wände wirkte er zwar durchaus herrschaftlich, andererseits war er mit Möbeln nur so zugestellt. Neben dem wuchtigen Eichenholzschreibtisch und der Cocktailgarnitur hatte Tanja, die als leidenschaftliche Sammlerin eigenwillig geformter Möbelstücke Epochengrenzen und Geschmackstabus souverän ignorierte, noch eine Art-Deco-Bartheke, einen klobigen amerikanischen Safe und einen grobhölzernen, abgeschliffenen Bauerntisch hier untergebracht, der von vier verschiedenen Designerstühlen à la Bauhaus umgeben war und als Konferenzort diente.
»Zeig!«
Tanja umrundete mit einer für eine so wuchtige Persönlichkeit frappierenden Geschwindigkeit ihr Schreibtischmonster und lehnte sich an Emmas Schulter an. Wie die beiden Frauen, die schlanke junge und die Rubens-hafte ältere, sich über das Display von Emmas Smartphone beugten und kicherten, hätten sie zwei Schulfreundinnen sein können; Teenager, die sich über den peinlichen Schnappschuss eines Lehrers freuen. Das Foto auf Emmas Handy zeigte einen Hosenschlitz und mitten drin ein männliches, leicht erigiertes Geschlechtsorgan: einen Penis in Vorfreude.
»Das ist Lambert Schulte-Bückendorfs Ding? In Echt?« Tanja Dückers sprühte vor Freude und Gemeinheit. Emma glaubte, den Geist von Woodward und Bernstein zu spüren, den Geist der legendären Watergate-Skandal-Enthüller. Der Helden aller nachgeborenen Investigativ-Journalisten. Woodward und Bernstein und die aufrechte, sich keinem Druck beugende Redaktion der Washington Post hatten einst den Rücktritt von Richard Nixon erzwungen, des mächtigsten Mannes der Welt, des US-Präsidenten. So sollten Journalisten sein! So konnte, so musste Journalismus sein! Hatte Emma gedacht.
»Ist der entzückend! Und LSB hat ihn rausgeholt, einfach so, mitten in seinem Büro? Wie Bill Clinton bei Monica Lewinsky?«
»Ich weiß nicht, wie das bei Clinton war. LSB hat jedenfalls vorher noch rasch im Vorzimmer Bescheid gegeben: er wolle nicht gestört werden. Und dann stand er auch schon vor mir.«
»Stand?« Tanja gluckste vor Vergnügen. »Naja. Und? Wie ist es dazu gekommen? Du solltest ihn doch interviewen und ihm mitnichten einen Blowjob anbieten. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern.«
»Ich hab ihm überhaupt nichts ›angeboten‹!« Emma war ein wenig pikiert. Und überrascht. Wie konnte Tanja auch nur auf den Gedanken kommen! »Wir haben uns unterhalten, er saß hinter seinem Schreibtisch, ich davor, mit Block und Handy. Züchtig. Er allerdings hat allerlei Anzüglichkeiten von sich gegeben. Und das einzige, was ich ›getan‹ habe, war, nichts zu tun. Was er als strikte Zurückweisung seiner Andeutungen auffassen musste. Das reichte, ihm den Eindruck zu vermitteln, vor ihm säße keine Journalistin, sondern ein Stück Fleisch, das er sich grabschen kann. Hab ich übrigens alles auf dem Smartphone.«
Tanja holte tief Luft und sagte, für sie ungewöhnlich genug, erst einmal gar nichts. Langsam und nachdenklich kehrte sie zu ihrem Chefsessel zurück und ließ sich fallen. Modernstes Bürodesign, ein Schweizer Fabrikat. Sie lehnte sich so weit nach hinten, wie der Stuhl es hergab und sah Emma ungewohnt nüchtern in die Augen. »Du weißt schon, was das heißt?«
Emma wusste offensichtlich nichts. Bis Tanja ergänzte: »Ich muss dich feuern. Am besten jetzt gleich. Sonst tut’s am Ende noch richtig, richtig weh.«
»Aber erst feiern wir mal. Mensch, ich ruf Hauke an. Wir köpfen eine Flasche Champagner. Auf die gute Zeit, die wir miteinander hatten. Auch wenn’s leider eine kurze war.«
Emma war dermaßen geplättet, dass ihr nichts anderes einfiel, als stumm zu nicken. Und so fand sie sich denn, ohne recht zu wissen, wie ihr geschah, ein Stündchen später auf der Terrasse des Bueraner Schlossrestaurants wieder. Tanja orderte Champagner und Austern, »und dann Gambas, gegrillt, dann sehen wir weiter«. Ihrem Hauke habe sie am Telefon nichts davon erzählt, was auf Emmas Handy zu sehen war, versicherte sie Emma. Aber ordentlich neugierig habe sie ihn schon gemacht. Hauke von Dückers und Lambert Schulte-Bückendorf kannten sich nicht nur vom Golf, sie waren auch im selben Rotary-Club.
»Nun, Mädchen, zeig’s ihm schon. Der gute Hauke platzt uns sonst vor Neugier. Wie sähe das denn aus auf dem gepflegten Kiesbeet hier?«
Irgendwie hoffte Emma noch immer, sie habe sich verhört, vorhin in Tanjas Büro. Schließlich: sie war doch die »Star-Schreiberin« der Revue! »Unser Goldfederchen«, hatte Tanja sie gern vorgestellt. Und mehr als das, sie fühlte sich befreundet mit den beiden. Außerdem: hatte sie nicht gerade einen echten Scoop gelandet? Die Geschichte ›Reifenhändler zieht vor Reporterin blank‹ würde die Revue in aller Munde bringen. Solche Publicity hatte Tanja noch nie. Das war doch Geld wert, Rotary-Freundschaft hin oder her. Am Gelde hängt, zum Gelde drängt doch alles – war das von Goethe? –, auch im nördlichen Ruhrgebiet. Nein, mit einem Glas Champagner in der Hand und Hauke von Dückers beobachtend, wie der das Display auf Emmas Handy fixierte, dabei erst die Augen weit aufriss, dann die Mundwinkel verzog, zu einem breiten Grinsen, da war sich Emma ganz sicher: sie musste sich verhört haben, vorhin.
Bis Hauke anfing, auf dem Handy herumzuklimpern. Emma reagierte alarmiert. »Was machst du da?«
»Was ich mache? Ich lösche das Foto. Das mache ich, für dich. Dir dürfte es schwerer fallen. So, jetzt ist es weg.«
Emma lehnte sich zurück und wusste mit einem Mal mit ihrem halbvollen Champagnerkelch nichts anzufangen. Irritiert stellte sie das Glas auf den Tisch. Der Kellner servierte die Austern.
»Sylter. Köstlich. Die sind um Klassen besser als die Fines de Claires aus der Bretagne. Probier mal, Emma! Wertvolles Eiweiß. Fast so frisch wie das von LSB.« Tanja schlug sich vor Freude über den eigenen Scherz auf die Schenkel, dann klatschten sie und ihr Hauke sich ab wie amerikanische Basketballspieler. Emma hockte noch immer verdattert daneben.
»Bei aller Liebe, Hauke, aber du kannst doch nicht meine Fotos auf meinem Handy löschen, einfach so«, raffte sie sich schließlich auf und griff nach ihrem Handy. Hauke überließ es ihr ohne Widerstand und ohne ein weiteres Wort.
»Emma, Mädchen, jetzt hör mir mal gut zu.« Tanja wurde ungewöhnlich ernst. »Ich kann ja verstehen, dass du stolz auf dich bist. Hauke und Tanja sind auch mächtig stolz auf dich, das kannst du mir glauben.« Hauke nickte Emma zu, seiner Frau ausnahmsweise keine Widerworte gebend. »Wie du unseren drögen LSB dazu gebracht hast, diese Nummer zu reißen, das war super. Echt super. Ganz offensichtlich warst du nicht die Erste, bei der er in seinem Büro die Hosen runtergelassen hat. Das hast du super gemacht. Große Klasse. Dem Hauke musst du das gleich alles noch mal haarklein schildern. Aber erst nach den Austern. Ich bin auch ganz sicher, dass unsere Leser die Geschichte verschlingen würden, Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Sie würden die Buchstaben förmlich ablecken. Und nicht nur unsere Leser. Die Revue wäre in aller Munde…«
»Ob das jetzt das geeignete Sprachbild ist?«, fiel Hauke seiner Frau ins Wort, mit gespielter Sorge. Tanja grinste ihn an, dann wandte sie sich wieder Emma zu, schlagartig ernst werdend: »Aber nur einmal. Danach wären wir raus aus dem Geschäft. All unsere feinen Anwälte, Doktoren, Unternehmenslenker und auch die Politiker und ihre Gattinnen, Haukes rotarische Freunde: sie alle würden sich das letzte Heft der Revue gut aufheben. Wir müssten nachdrucken lassen. Und dann würden sie ihr Abo kündigen.«
»Was so schlimm nicht wäre«, mischte sich Hauke ein: »Dann könnte Tanja endlich mal was Seriöses machen. Zum Beispiel Golf spielen. Oder sich zuhause um den Abwasch kümmern. Aber du, Emma, du würdest durch den Dreck gezogen.«
»Bitte?«
Etwas anderes fiel Emma nicht ein. Selten hatte sie sich derart klein und dumm gefühlt.
»Denk doch mal nach!« Hauke rückte mit seinem breiten Korbstuhl enger an Emma heran und legte ihr die Hand fest aufs Knie. Derartiges hatte er noch nie getan, aller Flirterei zum Trotz. Die Geste war offenkundig väterlich gemeint. »Der gute Lambert ist ein Arschloch. Wer ihn kennt, wusste das schon immer. Er ist, das war mir allerdings so klar bisher noch nicht, auch ein Schwein. Und ein Idiot. Sich vor einer Journalistin zu exhibitionieren, darauf muss man erst mal kommen.« Damit zog Hauke seine Hand zurück.
Emma konnte sich nicht erinnern, dass Hauke jemals zuvor so eindringlich, ernsthaft und so wortreich mit ihr geredet hatte. Oder in ihrer Gegenwart mit irgendjemandem sonst.
»Aber Lambert Schulte-Bückendorf ist nicht nur ein großes Arschloch, er ist unser großes Arschloch. Er wird alle Register ziehen. Und er kann sich darauf verlassen, dass ihm zwar keiner glaubt, aber jeder so tun wird, als ob. Wahrscheinlich hockt er jetzt schon in irgendeiner teuren Anwaltskanzlei und lässt sich beraten. Ich kann mir gut denken, was er dort hört. Fakt ist, von mir könnte er den Rat billiger bekommen – würde er aber nicht. Was er tun wird, ist folgendes: er wird behaupten, und zwar noch bevor du auch nur eine Zeile in die Tastatur gegeben hast, er sei von dir gelinkt worden. Du hättest ihn verführt und provoziert. Wahrscheinlich hast du ihn geradezu vergewaltigt, ihm den Hosenlatz gegen seinen Widerstand aufgerissen, dem armen, harmlosen Lambert. Der ja schließlich auch nur ein Mann ist und in einer schwachen Minute – er hat ja so viel um die Ohren – sich fast hätte gehen lassen. Fast.«
»Lambert und seine Anwälte werden dich als Schlampe dastehen lassen«, übernahm Tanja: »Womöglich werden sie sogar die Teneriffa-Story infrage stellen. Warst du damals wirklich so unschuldig, wie du behauptet hast? Der arme Mann, von dem du angeblich fast vergewaltigt worden bist, der ist schließlich tot. Und du lebst. Und jetzt hast du dich an den nächsten rangemacht. Der ehrenwerte Lambert Schulte-Bückendorf! Fast wäre er dein Opfer Nummer 2 geworden. Wenn seine ehrenwerten Anwälte nicht rechtzeitig dazwischen gegangen wären. Und LSB persönlich natürlich auch, der gelinkte, aber tapfere Mann. Er hätte den Vorfall sofort seiner Frau gebeichtet, kleinlaut und reuig. Und die hätte ihm vergeben, ganz die treue Gattin an seiner Seite. So etwa wird die Story laufen.«
Hauke nickte ernst. Emma starrte abwechselnd Tanja und Hauke an, zu keiner weiteren Reaktion fähig.
»Dein Privatleben würde durchleuchtet werden, wahrscheinlich von Detektiven«, nahm Hauke wieder den Ball auf. »Und von Reportern, allen voran die von der Bildzeitung. Die hätte die seltene Gelegenheit, sich zerknirscht zu geben: ›Hat die schöne Bild-Reporterin gelogen?‹ oder so ähnlich. Und Lamberts Anwälte würden dich mit Unterlassungsklagen beschießen, dass du nicht mehr stehen kannst. Und schneller pleite wärst, als du dich umdrehen kannst. Auch wenn der Journalistenverband dir Rechtsschutz gewähren sollte. Falls er das täte. Denn ob der Verband sich mit solchen investigativen Methoden identifizieren will, wie du sie offenbar angewandt hast…« Hauke wiegte zweifelnd das Haupt. »Aber jetzt lasst uns erst mal die Austern genießen. Die werden vom Rumstehen schließlich nicht besser.«
Tanja griff sich eine der Muscheln, tröpfelte etwas Zitronensaft darauf und schlürfte sie genussvoll aus der Schalenhälfte. Sie schob die Platte näher an Emma heran. »Mädchen, greif zu!«
Emma ignorierte die Aufforderung. Sie war baff. Und empört. Und fand endlich wieder Worte. »Dann soll ich jetzt also wohl dankbar sein, dass Hauke mein Foto gelöscht hat? Immerhin das einzige Beweismaterial dafür, dass dieser Mini-Clinton von Herten das Schwein ist und nicht ich! Und bei euch beiden sollte ich mich womöglich dafür bedanken, dass ihr mich die Story nicht habt schreiben lassen, über Haukes ehrenwerten rotarischen Freund! Ihr seid wahrhaft edle Menschen! Ihr macht euch Sorgen um mich, um meine Reputation und meinen Kontostand! Und kein bisschen um euren Kontostand! Um euer elendes Promiblättchen und die Einladungen zu Empfängen und Galas und Bussi-Bussi-Events. Die ihr womöglich sausen lassen müsstet, wenn ihr hinter mir ständet, wie es sich gehören würde! Wenn ihr euch mit eurem LSB anlegen würdet. Nein, darum geht es euch nicht. Wisst ihr was? Ich könnte kotzen.«
Und damit sprang Emma auf und steckte ihr Handy ein. Sie nickte den beiden höflich zu, schob ihren Korbstuhl ordentlich an den Tisch zurück und lächelte den Kellner freundlich an, der aus gebotenem Abstand die Szene interessiert beobachtet hatte.
Kerzengerade verließ Emma das gekieste Areal, mit weichen Knien. Wissend: sie war jetzt wieder arbeitslos. Aber den aufgenommenen Text, den hatte sie noch!
Emma konnte gerade lange genug die Haltung bewahren, bis sie um eine der mannshohen Hecken gebogen war, die den Restaurantgarten vom restlichen Schlosspark abschirmten. Dann kamen ihr die Tränen. Sie schossen einfach hoch. Emma konnte sich dagegen nicht wehren. Ihre Knie fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Sie suchte Halt an einer Parkbank, setzte sich. Zwei ältere Damen, die einen molligen Kurzhaardackel spazieren führten, blickten sie erstaunt an und wirkten, als wollten sie Hilfe anbieten. Emma lächelte ihnen zu, auch wenn es sie anstrengte, und winkte ab.
Sie musste nachdenken. Aber erst sollte sie vielleicht mal nachsehen, ob Hauke die Fotos wirklich gelöscht hatte. Wer weiß, vielleicht hatte er sich in der Taste vergriffen, so techniktrottelig wie er sich gerne gab.
Emma hatte es natürlich schon geahnt: Hauke gab sich gern trottelig, aber er war es beileibe nicht. Die Fotos waren gelöscht. Jedenfalls waren sie für Emma unauffindbar. Konnte irgendein Nerd sie womöglich wieder herzaubern? Aber wollte sie das? Sollte sie das wollen? Und welchen Nerd kannte sie, dem sie diese Aufgabe anvertrauen könnte? Dem sie so sehr vertrauen könnte, dass er die Geschichte hinter dem Foto für sich behielt. Denn natürlich würde er, wer immer »er« war, Fragen stellen.
Die von Dückers hatten wahrscheinlich recht, auch wenn es ihnen natürlich darauf ankam, die feine Fassade zu wahren. Sie konnten jetzt Haukes rotarischem Golffreund einen Gefallen tun und so ihr kleines, mieses Geschäft nicht nur nicht gefährden, sondern auf diese dezente Weise sogar beleben. Die Reifenhandlung Schulte-Bückendorf würde bald vermutlich ganzseitige Anzeigen schalten. Aber dass LSB, wenn es anders käme, Anwälte einschalten und alles tun würde, um sie fertig zu machen und es gar nicht erst dazu kommen zu lassen, ihre Version der Geschichte – die wahre Version! – zu verbreiten, das leuchtete ihr ein. Die Wahrheit, das wusste sie spätestens seit dem Ethik-des-Journalismus-Seminar auf der Fachhochschule, gab es nicht, jedenfalls nicht in der Welt der Medien, sondern immer nur Wahrheiten. Konkurrierende Wirklichkeiten. Welche Wirklichkeit – welches Narrativ – würde sich durchsetzen, hier in Herten und Umgebung und auf dem blut- und spermatriefenden Boulevard: ihre oder die des erfolgreichen Geschäftsmanns und sorgenden Familienvaters Lambert Schulte-Bückendorf? Klar: auch ihrer, Emmas Version, würde Raum gegeben werden. Sie zu ignorieren, sie nicht mindestens für möglich halten zu wollen, sie nicht ausbreiten und durchkauen zu wollen: dafür war sie zu saftig. Und dafür war die Bereitschaft, hinter jeder noch so sauberen Fassade Schmutz zu wittern, viel zu groß. Überall. Das Internet würde sprudeln vor Geifer.
Aber wollte sie das? Wollte sie das wirklich? Sie, Emma Schneider aus Herne? Wollte sie, dass die »Teneriffa-Geschichte« – so hatte Hauke ihre traumatische Fast-Vergewaltigung doch genannt – jetzt noch einmal durch die Medienmühle gedreht würde? Denn das würde sie natürlich. Aber jetzt mit anderen Untertönen. Dafür würden LZBs Anwälte und die Instinkte der Boulevard-Kollegen schon sorgen. Von den »sozialen Medien« gar nicht zu reden. Nein, das wollte sie nicht. Bei Lichte und nüchtern betrachtet, wäre sie, Emma, darauf wahrscheinlich auch von selbst gekommen. Die Wahrheit war, dass sie noch gar keine Zeit gehabt hatte, sich zu überlegen, wie sie ihre Begegnung mit dem lüsternen Reifenhändler journalistisch verarbeiten könnte. Oder sollte, müsste? Müsste oder sollte sie nicht das wahre Gesicht des LSB vor aller Welt offenbaren, allein schon um andere Frauen davor zu bewahren, von dem Schwein zu sexuellen Gefälligkeiten genötigt zu werden?
Nein. Emma, wer hat dich dazu aufgefordert? Wer hat dich zur Staatsanwältin und Richterin zugleich ernannt? Woher kannst du wissen, dass dieser LSB wirklich ein Schwein ist? Vielleicht ist er ein liebevoller Familienvater und sorgender Chef – der einfach gerne zugreift, wenn ihm etwas angeboten wird? Hatte sie ihn nicht tatsächlich animiert, zu glauben, sie verständen einander und sie sei ganz wild darauf, an seinem Schwänzchen zu lutschen? Ja, das musste sie sich eingestehen: sie hatte sein Spiel mitgespielt. Aber sie hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass der Reifenhändler mehr als anzüglich flirten wollte. Und es war alles viel zu schnell passiert.
Emmas Handy piepste. Sie hatte eine Whatsapp-Mitteilung erhalten.