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Horst Hanisch sah ganz anders aus, als Emma ihn von Wahlplakaten und Zeitungsfotos in Erinnerung hatte. Er war untersetzt, aber drahtig, trug eine bordeauxrote Khakihose und darüber ein offenes weißes Hemd. Seine unbestrumpften Füße steckten in lässig, aber edel wirkenden Leinenschuhen. Rund um seinen braungebrannten Hals schimmerte ein dünnes, goldenes Kettchen. Seine zwischen dunkelblond und beige-grau changierenden Haare ließen zwar eine sehr hohe Stirn frei, fielen drum herum aber in kräftigen Locken über die Ohren. Emma hätte in dem Mann, der ihr aufmerksam entgegenkam, die Hand reichte und ihr einen Stuhl zurechtrückte, eher einen Dirigenten vermutet, der auf seinen Auftritt im Auditorio wartete, als einen ehemaligen deutschen Bundestagsabgeordneten. Mit denen assoziierte sie gedeckte Anzüge und langweilige Krawatten.

»Frau Schneider! Offenbar ist Ihr Flieger pünktlich gewesen. War der Flug angenehm?«

Emma bestätigte. Vier Stunden und zehn Minuten hatte er gedauert, exakt wie angekündigt. Die Flugbegleiter waren unaufdringlich, der Platz neben ihr war frei geblieben. Nur kurz vor der Landung hatten ein paar kräftige Böen die Maschine kurz flattern lassen. Keiner Aufregung wert.

Horst Hanisch und Emma sahen sich eine gefühlte Minute lang schweigend an. Emma kam sich vor wie im Western. High Noon. Auge in Auge mit, ja: mit wem? Mit einem Bösewicht oder dem Sheriff? Einem Widersacher, Nebenbuhler? Wer zog zuerst? Wer brach den Blickkontakt ab und beendete das Schweigen?

Ihr Gastgeber schmunzelte und winkte einen Kellner herbei. »Was möchten Sie trinken? Ich empfehle ein Glas Weißwein, einen fruchtigen, trockenen Tropfen aus dem Valle de Güímar, gleich hier um die Ecke. Und etwas essen sollten Sie auch. Ich nehme an, im Flieger sind Sie eher nicht satt geworden.«

Das stimmte. Das ihr dort zum Fraß vorgeworfene Sandwich – »Käse oder Salami?« – hatte Emma dankend abgelehnt. Ihre letzte Mahlzeit war ihr Frühstück gewesen. Aber ob sie jetzt schon Wein trinken sollte… Überhaupt war das womöglich eine Test- oder Fangfrage. Hanisch könnte ihre Selbstdisziplin und Arbeitsmoral ausloten wollen. War das hier nicht ein Vorstellungsgespräch, wenn auch eines auf ungewöhnlicher Bühne?

Er schien ihr anzusehen, was sie dachte. »Trinken Sie ruhig Wein! Schauen Sie, mein Glas ist schon halb leer! Wenn Sie auch Wein bestellen, verschafft mir das ein Alibi, ein zweites kommen zu lassen, also! Wissen Sie schon, was Sie essen wollen? Sie sind natürlich eingeladen.«

»Danke. Was können Sie empfehlen?«

»Hier gibt es lauter leckere Kleinigkeiten. Die Ravioli mit Gorgonzola-Füllung in Steinpilzsauce zum Beispiel sind ganz ausgezeichnet. Aber sehen Sie sich die Karte an!«

Emma orderte Kalbstartar mit pikanter Salsa, Hanisch die Ravioli.

»Sie sind sehr großzügig. Das Essen und der Flug und das Hotel, für drei Nächte gleich! Das Taxi. Das läppert sich. Und alles womöglich für nichts und wieder nichts. Wenn Sie feststellen, dass ich doch nicht Paul Bärkamp bin.«

Hanisch grinste. »Das sehe ich, dass Sie nicht Paul Bärkamp sind. Oder er hätte sich sehr zu seinem Vorteil verändert. Die Geschlechtsumwandlung nicht zu vergessen. Journalistisch aber sieht er in Ihnen eine Gleichgesinnte, das hat er mir versichert. Die Frau Schneider, hat er gesagt, das ist noch eine, die sich an Regeln hält und an Absprachen. Außerdem hat sie einen Blick für Menschen, ist unerschrocken, unbestechlich und kann, nicht zuletzt, toll schreiben. Hat er gesagt. Er hält große Stücke auf Sie, der Herr Bärkamp.«

»Tut er das? So ähnlich hat er das tatsächlich auch in mein Zeugnis geschrieben, als wir beide aufhören mussten, bei der Halterner Post. Aber Sie wissen ja, was von Zeugnissen zu halten ist. Da steht immer nur Gesülztes drin.«

»Das hat Herr Bärkamp auch noch versprochen: dass Sie Humor hätten und sich nichts vormachen ließen. Eine echte Ruhrgebietspflanze, hat er gesagt.«

»Und er hat Ihnen auch verraten, dass ich arbeitslos bin, nehme ich an.«

»Jedenfalls hat er angedeutet, dass Sie einen Job bei der Revue aufgegeben haben. Aber warum, das hat er mir nicht gesagt.«

Emma schwieg. Der Kellner erschien mit Gläsern, einer Flasche Wasser, Servietten und Bestecken.

»Allerdings habe ich ein wenig recherchiert«, nahm Hanisch das Gespräch wieder auf: »Mit mageren Ergebnissen. Entweder bin ich im Recherchieren nicht so gut wie Sie, oder wir haben es mit einem formidablen Schweigekartell zu tun.«

»Ich denke, Schweigekartell trifft es ganz gut. Vielleicht sollten wir es dabei auch belassen. Ich war sehr froh, den Job bei der Revue zu finden, als die Halterner Post geschlossen – gemeuchelt – worden war. Aber eigentlich bin ich nicht der richtige Typ für Gutwettergeschichten.«

»Gutwettergeschichten. Nett gesagt. Die Revue ist natürlich ein Schlabberblatt. Das wissen wir beide. Das Wertvollste an ihr ist das Papier, auf dem sie gedruckt wird. Hochglanz und bunt: wie eine schicke Verpackung rund um lauwarme Luft. Die Revue gibt’s ja auch nur, damit die Fürstin eine Aufgabe hat und ihr Göttergatte in Ruhe Golf spielen kann. Ich finde, es zeichnet Sie aus, dass Sie im Schleimen für die Revue nicht ihre journalistische Bestimmung sehen, Frau Schneider.« Aha, auch Hanisch nannte Tanja »die Fürstin«. Diese Gemeinsamkeit mit Paul Bärkamp ließ Hanisch in Emmas Augen gleich noch ein Stück sympathischer wirken. Aber misstrauisch blieb sie, trotz alledem.

»Aber PR erwarten Sie doch auch schon von mir? Ich nehme nicht an, dass Sie mich anheuern wollen, um in Ihrer Vergangenheit zu wühlen und schmutzige Wäsche ans Licht zu zerren.«

Hanisch schmunzelte schalkhaft. »Woher wollen Sie das wissen? Es muss ja nicht meine Wäsche sein. Da ist zwar auch nicht immer alles ganz sauber. Sie wird aber regelmäßig gewaschen. Im Ernst: man sagt mir manches nach, einiges vielleicht sogar zu Recht, aber niemand hat je behaupten können, ich sei korrupt oder täte nicht das, was ich sage.«

»Stimmt. Das ist es nicht, was Ihnen nachgesagt wird.«

»Oh, da bin ich aber gespannt. Nun? Was wird mir denn nachgesagt? Ich vermute, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.«

»Wenn ich direkt sein darf und Sie darin keine Unhöflichkeit sehen, wo Sie mich doch eingeladen haben…« Emma wartete die Antwort nicht ab: »Sie sind abgehoben, arrogant, übrigens auch in Berlin nicht gut gelitten, anders als Sie das an der Heimatfront zu verbreiten belieben. Außerdem extrem egozentrisch, oft aufbrausend. Als Arbeitgeber eine Plage. Selbst Ihre Ehefrau hat es mit Ihnen nicht mehr ausgehalten. Und auch Ihr gemeinsamer Sohn will von Ihnen nichts mehr wissen. Reicht Ihnen das? Fürs Erste?«

»Oh ja. Vielen Dank. Vor allem für das mit der Plage. Das stimmt wohl. Bedauerlicherweise. Davon können Sie sich ja dann womöglich demnächst Ihr eigenes Bild machen. Nur eines stimmt nicht, das muss ich dementieren: mit meinem Sohn Max verstehe ich mich prächtig. Der ist übrigens auch gerade auf der Insel. Er ist ungefähr in Ihrem Alter.«

Der Kellner servierte das Essen, Hanisch bestellte für sich ein drittes Glas Wein. Emma winkte ab. Ihr Glas war ohnehin noch halb voll.

»Lassen Sie uns erst essen. Dann sage ich Ihnen, was ich von Ihnen erwarte. Im Falle, dass wir uns einig werden. Und dann können Sie sagen, ob Ihnen das passt. Übrigens werde ich zwar nachtragend sein, falls ich Sie anheuern wollen sollte, Sie aber ablehnen. Nur ändert das nichts an unserem Arrangement. Ich trage die Kosten Ihres Aufenthaltes hier, basta. Wenn wir nicht zusammenarbeiten, machen Sie sich einfach ein paar nette Tage. Das Wetter ist jedenfalls besser als in Herten oder Bochum. Sie wohnen doch in Bochum, sind aber eigentlich Hernerin, stimmt’s?«

»Stimmt. Ich bin ein ideeller Gesamtruhri. Also: Bedingungen akzeptiert! Guten Appetit!«

»Ideeller Gesamtruhri – wo haben Sie das denn her?«

»Ist mir grade so eingefallen. In Anlehnung an den ideellen Gesamtkapitalisten. Das ist doch der bürgerliche Staat in Ihren Augen. Sie waren doch bei den Jusos ein Stamokap, stimmt’s? So nannte man das doch?«

»Respekt. Gut recherchiert. Das ist ja schon lange her, fast drei Jahrzehnte, war also lange vor der Google-Zeit. Ich hätte gedacht, dass junge Menschen aus Ihrer Generation mit Begriffen wie Stamokap nichts anzufangen wissen.«

»Wusste ich auch nicht. Ich habe nachgelesen und ein paar Senioren befragt. Staatsmonopolistischer Kapitalismus, abgekürzt Stamokap. Danach vertritt im Kapitalismus der Staat, egal welche Partei gerade dran ist, die Interessen des Kapitals, als ideeller Gesamtkapitalist eben, stimmt’s?«

Hanisch kniff anerkennend die Lippen zusammen und nickte. Emma fuhr fort: »Was ich nicht kapiere, ist, dass daran jemand zweifelt. Das galt als ziemlich links. Marx und so, igitt. Ein Juso-Bundesvorsitzender ist sogar aus der SPD ausgeschlossen worden, weil er sich zur Stamokap-Theorie bekannt hat, richtig?«

»Was Sie alles wissen! Ja, aber das war vor dem Fall der Mauer, in einer anderen Welt. Damals waren Stamokap-Anhänger verdächtig, heimlich der DKP zu folgen, indirekt also der SED hörig zu sein. Was ja nicht völlig verkehrt war: die DDR hat sich viel Mühe gegeben, soziale Bewegungen in der BRD zu finanzieren und zu steuern. Das Geld wurde gern genommen, die organisatorische Unterstützung auch, nur mit dem Steuern hat das nicht wirklich geklappt.«

»Waren Sie IM oder so was, für die Stasi?«

»Ohgottogott, nein!« Hanisch lehnte sich zurück und schüttelte heftig den Kopf. »Ich hab’ als Juso eine Delegationsreise in die DDR mitgemacht. Vorher habe ich es schon geahnt, aber danach war mir sonnenklar: aus dem Staat dort konnte nichts werden. Vermutlich komme ich in den Stasi-Akten vor, die Reise wurde sicher überwacht, und wir haben viele ziemlich offene Gespräche mit Jungen Pionieren geführt, mit Studenten, Nachwuchskommunisten. Für mich war diese Reise ganz wichtig. Erstens wusste ich danach, was Freiheit bedeutet. Dass das kein leeres Wort ist. Und zweitens habe ich dabei meine spätere Frau kennengelernt.«

Emma fand, es war an der Zeit, wieder in die Gegenwart zurückzufinden. »Sie wollten mir sagen, was Sie von mir erwarten. Also: warum bin ich hier?«

»Was ich Ihnen jetzt erzähle, erzähle ich Ihnen sozusagen als Vorschuss auf unsere Vereinbarung. Paul Bärkamp hat sich für Sie ins Zeug gelegt, und alles, was ich bisher gesehen und gehört habe, gibt ihm recht. Aber noch kenne ich Sie ja nicht wirklich. Also bitte verstehen Sie, dass ich vorsichtig bleibe.« Hanisch griff in die Innentasche des himmelblauen Sakkos, das er über die Lehne seines Stuhls gehängt hatte. »Ich habe eine Vertraulichkeitserklärung vorbereitet. Bevor ich ins Erzählen komme, bitte ich Sie, zu unterschreiben. Erschrecken Sie nicht: darin werden drastische Geldstrafen angedroht – beziehungsweise vereinbart – für den Fall, dass Sie die Vertraulichkeit brechen sollten. Ich hoffe, Sie verstehen. Ich will mir Unannehmlichkeiten ersparen und auch keine Prozesse führen wie Helmut Kohl. Was nicht heißt, dass ich Ihre journalistische Freiheit einschränken will. Sie können und sollen das, was ich Ihnen erzählen werde, journalistisch so verarbeiten, wie Sie es für richtig halten. Aber noch haben wir ja keinen Vertrag miteinander. Diese Vertraulichkeitserklärung wird ungültig, sobald wir einen richtigen Vertrag unterzeichnet haben. Der ist vorbereitet, liegt schon beim Notar.«

Emma warf einen Blick auf das Papier. Der kurze Text war rasch überflogen. Im Kern stand darin, sie müsse 50 Tausend Euro an Hanisch zahlen, sollte sie unautorisiert aus Gesprächen mit ihm zitieren, direkt oder indirekt.

»Das unterschreibe ich nicht.«

Emma faltete das Blatt sorgsam wieder zusammen und schob es über den Tisch. »Erstens habe ich keine 50 Tausend Euro und werde sie wahrscheinlich niemals besitzen. Sie scheinen sich falsche Vorstellungen über die Einkünfte freier Journalisten zu machen. Und zweitens haben Sie entweder Vertrauen zu mir oder Sie haben keins. Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen. Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen keinen Schaden zufügen werde. Punkt. Aus dem, was Sie vorhaben, mir zu erzählen, werde ich keinen Nutzen zu Ihren Ungunsten ziehen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Wenn Sie Wert darauf legen, können wir das auch gerne per Handschlag besiegeln, wie auf dem westfälischen Pferdemarkt. Wenn Ihnen das nicht reicht, bedanke ich mich für den netten Empfang, das gute Essen und die sonstigen Spesen.«

»Uff!« Hanisch wirkte verblüfft und erheitert zugleich. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Das habe ich mir zwar anders vorgestellt – oder vielmehr, der Ehrlichkeit halber: mein Anwalt hat sich das anders vorgestellt, und er würde mir, wenn er hier jetzt mit am Tisch säße, vermutlich raten, Ihren Dank anzunehmen und das Gespräch ansonsten abzubrechen.«

Emma schwieg, wartend.

»Aber ich bin kein Anwalt. Mir gefällt die Art, wie Sie auftreten. Und auch wenn auf westfälischen Pferdemärkten meines Wissens nur Geschäfte unter Männern getätigt wurden: hier ist meine Hand! Und was die 50 Tausend Euro betrifft: Schaumermal.«

Hanisch beugte sich vor und streckte Emma seine Rechte über den Tisch hinweg zu. Sie schlug nach kurzem Zögern ein und gab sich Mühe, Hanischs sehr festen Händedruck angemessen zu erwidern.

Der Kellner räumte die Teller ab und fragte, ob sie noch etwas wünschten. »Café? Cortado?« Hanisch sah Emma fragend an. Sie nickte. »Cortado wäre gut.« Der Kellner bestätigte: »Dos Cortados.« Er zog sich wieder zurück.

»Also. Zunächst einmal: ich könnte jetzt sagen, ich will mich an niemandem rächen, ich will niemandem schaden. Ich wolle nur aufschreiben – aufschreiben lassen –, wie es wirklich gewesen ist. Aber wir zwei beide müssen uns nichts vormachen: ich will natürlich, dass meine Sicht der Dinge wahrgenommen wird. Und wenn dabei jemand zu Schaden kommt, dem ich das durchaus gönnen würde, dann hätte ich nichts dagegen. Ich bin auch nur ein Mensch. Zwar getauft, aber aus der Kirche auch wieder ausgetreten, und die Sache mit der linken und der rechten Wange hat mir noch nie so richtig eingeleuchtet. Manche Menschen verdienen einfach ein paar kräftige Watschen.«

Der Kellner stellte zwei Tässchen mit milchschaumbekröntem Kaffee vor den beiden ab und verschwand erneut. Emma blickte sich um und fühlte sich gut. Ihre Entscheidung, nichts zu unterschreiben, hatte sie ganz spontan gefällt. Und es war richtig gewesen so, ganz offensichtlich. Und hey! Sie saß auf Teneriffa, in edlem Ambiente, zwischen Ozean und Bergen, umweht von einer leichten Brise. Perfekt. Keine fünfzig Meter von ihrem Bühnenplatz entfernt sah sie Menschen in Badekleidung, sich auf Steinen sonnend. Dann und wann stieg jemand Stufen hinunter ins kristallklare Wasser und schwamm ein paar Züge. Auch zwei Schnorchler fielen ihr auf.

»Wie kann man an einem so schönen Ort an Rache denken?« Emma imitierte die Geste einer Maklerin, die ihrem Kunden Terrasse und Garten einer Prachtvilla präsentiert. »Das klingt vielleicht komisch: aber sollten Sie nicht dankbar sein, jetzt hier zu leben und nicht im gräulichen Ruhrgebiet oder zwischen all den Wichtigtuern in Berlin?«

»Gute Frage. Aber erstens ist das Ruhrgebiet, wie wir beide wissen, nicht nur grau, und Berlin ist auch ganz nett, jedenfalls wenn man Anlass hat zu glauben, man gehöre zu den Wichtigen dazu. Und Politik ist, das können Sie vielleicht nicht verstehen, weil Sie auf der anderen Seite arbeiten und noch sehr jung sind, aber Politik ist eine Droge. Ein Aphrodisiakum. Im übertragenen und für manche auch im eigentlichen Sinn. Sie glauben ja nicht, wie attraktiv sogar ein Mann meines fortgeschrittenen Alters auf junge ehrgeizige Frauen wirkt. Auf manche. Da stört auch mein Bäuchlein nicht, das ich hier so angenehm mit einem weiten Hemd kaschiere. Macht – oder die Vermutung der Macht – wirkt betörend. Und von mir weiß jetzt leider jeder – und jede: der hat keine Macht mehr. Der ist erledigt. Es ist aus. Und vorbei.«

Emma fand, dass Hanisch, während er ihr dies erzählte, keineswegs erledigt aussah. Sondern höchst lebenslustig und agil. Und aus Sicht mancher Frauen sicher auch nicht unattraktiv.

»Sie gucken so zweifelnd. Vielleicht überzeugt es Sie eher – Sie scheinen ja ein sehr westfälisch nüchtern veranlagter Mensch zu sein –, wenn ich sage, dass ich sehr gern Einfluss nehme. Einfluss genommen habe. Mehr ist das ja nicht, was Macht bedeutet. Jedenfalls im demokratischen Rechtsstaat. Ich wollte die Welt verändern, als ich jung war. Verbessern. Gerechter machen. Für weniger Ungleichheit sorgen. Chancen für alle. Mehr Demokratie wagen. Abschaffung der letzten Privilegien. Aufstieg durch Bildung. Darum ging es uns. Auch um die Bewahrung der Umwelt. Kampf der Atomindustrie! Stoppt den Rüstungswettlauf! Und dann hat der Kapitalismus gewonnen, 1989ff. Und was wir jetzt erleben, ist, wie er seinen Triumph voll auskostet. Aber auch das, da bin ich mir sicher, wird vorübergehen. Denn wenn ihn niemand festhält und ihm Regeln aufzwingt, dem Kapitalismus, dann geht er durch wie ein wilder Hengst in der Prärie. Occupy Wall Street und all dies: das sind nur die ersten Zeichen, dass sich wieder was rührt. Und im Übrigen: natürlich agiert der demokratische Staat als ideeller Gesamtkapitalist. Immer. Das muss sogar so sein. Er tut das umso unbelästigter, je direkter der Einfluss des Geldes auf die Auswahl der Politiker ist. Sehen Sie sich die USA an! Entweder Sie haben Millionen oder Sie haben die Unterstützung von Multimillionären und Konzernen, sonst kann aus Ihnen dort nichts werden, in der Politik. Dass wir davon noch ein ganzes Stück entfernt sind – und dass wir dahin nie kommen werden, glauben Sie einem etwas älteren Mann –, das ist kein Zufall. Das ist das Ergebnis von Politik. Von Kampf. Das Kapital wird nur im permanenten Kampf gebändigt. Dafür haben tapfere und kluge Menschen, die vor uns gelebt haben, tapferere und klügere, große Opfer gebracht. Und wir haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, verdammt noch mal, dass diese Opfer wenigstens nicht vergeblich waren.«

»Wow!« Emma deutete stumm Applaus an. Hanisch hatte sich in Rage geredet. »Schade, dass Politiker heute selten so reden wie Sie gerade. Ich jedenfalls würde Sie wählen, nach dieser Rede.«

»Danke. Und weil ich es sehr schade finde, dass Sie diese Wahl nicht mehr haben, deshalb sitzen wir beide jetzt hier zusammen. Und Sie werden aufschreiben, was ich Ihnen sonst noch zu erzählen habe. Deal?«

»Deal.«

Emma schreibt

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