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Die Hausaufgaben-Debatte der 1980er Jahre


1982, also 22 Jahre später, war es erneut der „Spiegel“, der das Hausaufgabenthema aufgriff – in Form einer Titelgeschichte („Schularbeiten – Alptraum der Familie“) und unter der plakativen Überschrift „Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch“3. Da war die Rede von Schülern, die mehr Stunden pro Woche beschäftigt waren als ihre Vollzeit arbeitenden Eltern; von strengen und leistungsorientierten Vätern und Müttern, die ihren Nachwuchs zu Hause noch durch zusätzliche Übungsstunden triezten, damit sie nur ja gute Schulleistungen erreichten; von der vermeintlichen alten Weisheit, dass nur Übung den Meister mache. Und schon damals, vor über 30 Jahren, stellten die Autoren fest: „Wissenschaftler haben erhebliche Zweifel an der gängigen Hausaufgaben-Praxis.“ Die Frage muss erlaubt sein: Warum um alles in der Welt hören wir dann heute immer noch dieselben, schon lange widerlegten Argumente? Warum sind die Hausaufgaben nicht längst flächendeckend abgeschafft, besser noch, schulgesetzlich verboten worden?

Argumente hätte es schon Anfang der 1980er Jahre genug gegeben – und zwar nicht nur auf der Ebene individueller Anekdoten von Schülerinnen und Schülern, die täglich an Nachmittagen und Abenden unter der Last von mehrstündigen schulischen Arbeitsaufträgen stöhnten, sondern auch von wissenschaftlicher und schulpraktischer Seite. So hatte die Arbeitsstelle für Schulentwicklungsforschung an der Universität Dortmund schon damals herausgefunden, dass ein Fünftel aller Schüler täglich mehr als zwei Stunden für die Erledigung der Hausaufgaben benötigte; dass fast die Hälfte der Schüler zwischen einer und zwei Stunden täglich zu Hause über den Schulbüchern saß; dass sogar knapp 40 Prozent der Grundschüler mindestens eine Stunde lang Hausaufgaben machen mussten.

1980 hatte hatte ein Kölner Erziehungswissenschaftler in einer anderen Studie verglichen, wie sich ein unterschiedliches Hausaufgabenpensum bei Schülerinnen und Schülern in deren schulischen Leistungen niederschlug − nämlich so gut wie gar nicht. Und einige der Schüler mit vielen Aufgaben schnitten sogar schlechter ab, mutmaßlich wegen Arbeitsüberlastung. „Im Grunde unzumutbar“ sei diese Arbeitsbelastung, schimpfte der Hildesheimer Psychologieprofessor Dieter Lüttge damals. Doch allen erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz konnten sich die Hausaufgabenkritiker mit ihren Einschätzungen nicht durchsetzen – unter anderem auch wegen der Eltern, die ja selbst in aller Regel mit Hausaufgaben als selbstverständlichem Teil des Schullebens aufgewachsen sind und bis heute zusammen mit den Lehrern zur stärksten Lobbygruppe gegen die Veränderung der Hausaufgabenpraxis gehören. Eigentlich erstaunlich, denn die heutigen Eltern gehörten in den frühen 80er Jahren mit einiger Wahrscheinlichkeit genau zu der Generation von Schülerinnen und Schülern, die im „Spiegel“-Artikel über die hohe Arbeitsbelastung klagten.

Heutige Mütter und Väter übernehmen damit Positionen, die schon ihre Eltern bezogen haben. So berichtet der Artikel über eine Umfrage unter Eltern einer Gesamtschule im rheinland-pfälzischen Kastellan, bei der 71 Prozent der Erziehungsberechtigten davon überzeugt waren, dass „die Fülle des Stoffes nicht zu bewältigen“ sei, wenn die Kinder keine Hausaufgaben zu erledigen hätten. Und bei einer Untersuchung des Pädagogen Thomas Hardt aus Münster4, für die er 1978 knapp 1000 Eltern von Kindern aus den Klassen sechs und neun befragt hat, zeigen sich sogar mehr als 95 Prozent der Mütter und Väter davon überzeugt, dass Hausaufgaben nützlich sind. Ein knappes Drittel der Eltern hält sie sogar für „unbedingt notwendig“. Dass Hausaufgaben dazu dienen, den Schulstoff zu vertiefen und sich einzuprägen und dass sie darüber hinaus das selbstständige Arbeiten trainieren, ist für die allermeisten der Befragten völlig klar. „Und neun von zehn Eltern halten Hausaufgaben auch für geeignet, dem Kind Ordnung und Arbeitsdisziplin beizubringen“, heißt es in dem aufschlussreichen Artikel.

Weitgehend ausgeblendet wurde offensichtlich schon damals, was für eine enorme Zumutung Hausaufgaben für die Familien bedeuten – dass sie, damals wie heute, Stress und Spannungen auslösen, Konflikte heraufbeschwören und ganz nebenbei den Eltern die Verantwortung für das Gelingen der kindlichen Schullaufbahn in einem Maß aufbürden, wie das aus schulpädagogischer Sicht zwar seit Jahrhunderten praktiziert wird, erziehungswissenschaftlich aber kaum seriös zu begründen ist. Dass Eltern die Hausaufgaben wahlweise überwachen oder miterledigen, sich für die schulische Heimarbeit verantwortlich fühlen und als unangenehme Antreiber ihrer Kinder auftreten, ist kein neues Phänomen und war auch vor fünf Jahrzehnten bereits gang und gäbe. Wo heute die Rede von überehrgeizigen Helikopter-Eltern ist, spottete 1982 der Hamburger Erziehungswissenschaftler Wolfgang Schulz über „Diplommütter“, die die Förderung ihrer Kinder als „Management“ verstünden – ein Begriff, der zumindest damals so gar nicht zur Vorstellung von Kindheit passte. Und ein Beamter des Düsseldorfer Kultusministeriums formulierte während der Recherche der „Spiegel“-Reporter jenen schon erwähnten Schlüsselsatz, der bis heute Gültigkeit hat: „Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch.“ Der hessische Ministerpräsident Holger Hörner nannte die Eltern wegen deren selbstverständlicher Eingebundenheit in die Hausaufgabenerledigung „Hilfslehrer der Nation“, für den Tübinger Pädagogikprofessor Walther Eifreund waren sie gar die „Sklaven unserer Schulen“. Der Erziehungswissenschaftler wählt scharfe Worte: „Sie sind es, die sich von einem steinzeitlichen Ausbildungssystem terrorisieren lassen, sich aber trotzdem arrangieren, weil sie ja ihre Kinder – koste es, was es wolle – irgendwann durch die Schule bringen müssen.“ Eltern als Getriebene eines Bildungssystems, die sich dem Druck auf ihre Kinder nicht entgegenstellen, sondern ihn noch verstärken – das klingt nicht unbedingt nur nach Anfang der 1980er Jahre.

Vielleicht aber ist so zu erklären, dass viele Eltern diese Erwartungshaltung der Schule einfach adaptierten und sich zu willfährigen Handlangern der Lehrerinnen und Lehrer machten: Sie entwickelten selbst den Ehrgeiz, dass ihre lieben Kleinen besonders gut und erfolgreich sein sollten. Und befürworteten und unterstützten dann die Hausaufgaben, diesen flächendeckenden und massiven Zeitdiebstahl an der Freizeit der Kinder. So bewerteten 56 Prozent der befragten Eltern in der Studie von Thomas Hardt die Tatsache, dass ein Kind pro Tag weniger als eine Stunde Hausaufgaben erledigen muss, als Indiz dafür, dass dieses Kind von der Schule nicht ausreichend gefordert wird.

Schließlich wird Eltern seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten, eingetrichtert, dass das häusliche Pauken am Nachmittag, in den Abendstunden und am Wochenende irgendwie der Reifung und Bildung der Kinder dient und dass die Hausaufgaben eine wichtige erzieherische Wirkung haben. Nur – welche das sein soll und ob sie tatsächlich eintritt, diesen Nachweis haben die Anhänger der Hausaufgaben nie geführt. Es reichte ihnen stets, mit schwammigen Formulierungen die Festigung des Erlernten zu beschwören und darauf zu verweisen, dass es schließlich schon immer so gemacht worden sei und dass die eigene Hausaufgabenzeit ja wohl niemandem geschadet habe. Eine Aussage, die bezweifelt werden darf – die aber in ihrer unspezifischen Belanglosigkeit fast wie ein Totschlagargument wirkt (und so ja auch wirken soll).

Versuche der Aufklärung hat es immer wieder gegeben. So etwa durch den Lehrer Nilmar Schwemmer, der 1980 das Buch „Was Hausaufgaben anrichten“ herausbrachte, in dem er mit zahlreichen Beispielen und Erfahrungen aus seiner Arbeit die Folgen von Hausaufgaben schildert5. Intensiv setzt er sich mit „der Fragwürdigkeit eines durch Jahrhunderte verewigten Tabus in der Hausaufgabenschule unserer Zeit“ auseinander, befragte fast 500 Schülerinnen und Schüler und wertete die Bestimmungen der Bundesländer in der damaligen BRD aus. Schwemmers Fazit war eindeutig: Hausaufgaben sind „eine latente Gefahr für den Aufbau positiver, den Lern- und Erziehungsprozess begünstigender Beziehungen“, zusätzlich stellen sie „eine Beeinträchtigung der physischen Gesundheit der Schüler [dar], weil sie deren Rekreationsphase erheblich verkürzen und den notwendigen Bewegungsausgleich zur Sitzbeanspruchung während des Unterrichts einschränken“. Außerdem seien die Aufgaben „eine ständige Gefährdung der moralischen Entwicklung der Schüler, weil sie negative Verhaltensreaktionen wie das Lügen und Betrügen provozieren können“ – dann nämlich, wenn es darum geht, ob die Schüler die Aufgaben denn alle alleine geschafft haben. Doch auch ohne diese negativen Auswirkungen bei den Kindern und in deren Familien fehle die didaktische Grundlage für Hausaufgaben, argumentiert Schwemmer: Das Gießkannenprinzip der Hausaufgaben, bei dem alle den gleichen Arbeitsauftrag erhalten, könne schon wegen des individuellen Lerntempos und der unterschiedlichen Konzentrationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler nicht funktionieren. Die Aufgaben seien deshalb ein von Lehrerinnen und Lehrern oft völlig falsch eingeschätztes, weil „äußerst schwierig zu handhabendes methodisches Instrument“. Mit anderen Worten: Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst besser die Finger davon!

Schwemmer bestätigte damit Untersuchungen früherer Jahrzehnte, die den Sinn von Hausaufgaben schon in Zweifel gezogen hatten. Dazu gehören beispielsweise Studien, mit denen der pädagogische Experimentalpsychologe Ernst Meumann Ende des 19. Jahrhunderts begann. Meumann hatte bereits als Lehrer gearbeitet, bevor er 1891 promovierte und sich danach als Schüler von Wilhelm Wundt in Leipzig habilitierte. 1896 wurde er als Professor an die Universität Zürich berufen, wo er das Psychologische Laboratorium aufbaute und immer wieder Leistungsexperimente, unter anderem mit Schülern, durchführte. Die Vorlesungsverzeichnisse der Universität belegen, wie stark Meumann an experimentell erhobenen Daten interessiert war: Im Wintersemester 1898 bot er einen „Praktischen Kursus in der experimentellen Psychologie“ an, im Sommersemester 1900 ein „experimentell-psychologisches Praktikum im psychol. Laboratorium“. In dieser Zeit entstand auch eine Studie, die Ernst Meumann 1904 veröffentlichte. In dieser Publikation stellt er fest, dass die Leistungen von Schülern, wenn sie sie zu Hause und im Rahmen der Hausaufgaben erbrachten, „nach der materialen und formalen Seite im Durchschnitt beträchtlich minderwertiger“ waren als die Lösungen, die die Kinder in der Schule während des Unterrichts erarbeitet hatten. Meumann führte das auf zwei wesentliche Gründe zurück: Einerseits sei in der häuslichen Umgebung die Selbstmotivation viel schwerer zu erreichen, andererseits gebe es einen natürlichen „Gesellschaftstrieb“ des Kindes, das Aufmunterung durch den Lehrer brauche, nicht aber „Dreinreden“ und Ablenkung durch Geschwister oder Eltern. Bei den Hausaufgaben vergaßen die Kinder „öfter als in der Klasse das Großschreiben der Anfangswörter der direkten Rede“ und ließen „doppelt soviel Buchstaben und nahezu doppelt soviel Wörter aus wie in der Klasse“. Deshalb, so Ernst Meumann, sei es „prinzipiell verwerflich, dass man der Hausarbeit auch nur die Befestigung der in der Schule erworbenen Kenntnisse überlassen will“.

Hausaufgaben ? Nein Danke!

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