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Aktuelle Versuche zur Abschaffung der Hausaufgaben in der Schweiz

Es ist schon mehr als erstaunlich, dass es angesichts dieses jahrzehntelangen Diskussionsvorlaufs bis zum Jahr 1993 dauern sollte, bis im deutschsprachigen Raum erstmals eine Gebietskörperschaft flächendeckend Abstand vom jahrhundertelang gepflegten Hausaufgabenschreckgespenst nahm. Im schweizerischen Kanton Schwyz wurde damals, auch unter dem Eindruck immer neuer hausaufgabenkritischer Studien, vom Bildungsdepartement der Beschluss zum Ausstieg gefasst. Die Lerninhalte der Aufgaben, so die Vorgaben der Schulpolitik, seien fortan in die Unterrichtszeit zu integrieren; die Wochenstundenzahl für die Kinder wurde dafür um eine Stunde erhöht. Nicht nur die Schülerinnen und Schüler jubelten über die freie Zeit zu Hause, auch die Erziehungswissenschaftler und Schulforscher waren von der Abschaffung angetan – hofften sie doch, nunmehr erstmals auf breiter Basis zeigen zu können, wie stark sich die Schul- und Lernleistungen von Kindern mit und ohne „Ufzgi“, wie die Hausaufgaben in der Schweiz genannt werden, tatsächlich unterscheiden. Erste Ergebnisse deuteten bald schon auf positive Folgen der Abschaffung hin (siehe unten).

Doch die Akteure hatten bei ihrer revolutionären Neugestaltung des Schulalltags einen Faktor unterschätzt: das Beharrungsvermögen einer überwiegend bildungskonservativ eingestellten Öffentlichkeit und Elternschaft. Ob die veröffentlichte Meinung tatsächlich den gesellschaftlichen Mehrheitsverhältnissen entsprach, sei dahingestellt – Fakt ist jedenfalls, dass der Druck der Öffentlichkeit durch kritische Medienberichte, Leserbriefe, Wortmeldungen in Gremien und Eingaben von Eltern so groß wurde, dass die Verantwortlichen 1997, also nach nur vier Jahren, eine Kehrtwende hinlegten und die Hausaufgaben im Kanton wieder einführten. Allerdings gibt es seither klare Vorgaben: Die kantonalen Bestimmungen für die Volksschule sehen vor, dass die Hausaufgaben individuell dem Lern- und Leistungsvermögen der Kinder angepasst werden müssen. Auch dürfen sie kein Ersatz für Übungsphasen während der Unterrichtszeit sein und, ganz wichtig: Es gibt nun zeitliche Obergrenzen. So sollen Schülerinnen und Schüler der ersten beiden Klassen nicht mehr als eine bis eineinhalb Stunden pro Woche Hausaufgaben machen müssen; die Belastung steigert sich mit zunehmendem Alter bis zu den Schülern der 7. bis 9. Klasse, für die maximal vier Stunden Hausaufgaben pro Woche vorgesehen sind.16

Die Debatte war damit freilich nicht erledigt, denn die ausführlichen Untersuchungen zur Abschaffung der Hausaufgaben wurden erst publiziert, nachdem sie bereits wieder eingeführt worden waren. So erschien im Jahr 2000 eine Auswertung von Tina Hascher und Franziska Bischof17, in der die Forscherinnen die Leistungsentwicklung im Fach Mathematik von Viert- und Sechstklässlern in Schwyz und Zug vergleichen. Sie finden mit Blick auf die Kompetenz keine Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne Hausaufgaben – wohl aber im Hinblick auf deren Befindlichkeit: Die aufgabenfreien Schwyzer Kinder fühlten sich geringer belastet und höher motiviert als ihre Altersgenossen im Kanton Zug.

Obwohl die hausaufgabenfreie Zeit in Schwyz mittlerweile rund zwei Jahrzehnte zurückliegt, flackert die Debatte immer mal wieder auf. So ging im Herbst 2009 die Stadtzürcher Sozialdemokratische Partei mit einer Petition an die Öffentlichkeit, Titel: „Aufgabenstunden statt Hausaufgaben“. Die SP argumentierte mit mangelnder Chancengleichheit bei den Hausaufgaben und plädierte dafür, „Aufgabenstunden“ an den Schulen einzuführen – ganz so, wie das bereits vier Jahre lang in den 1990er Jahren gehandhabt worden war. Erneut erhob sich daraufhin ein öffentlicher Sturm der Entrüstung: Von „Zwang“ für die Schülerinnen und Schüler und „Bevormundung der Eltern“ war die Rede und davon, dass die Partei „die Kinder den Familien wegnehmen“ wolle. „Das Gegenteil ist der Fall! Ihre Kinder werden von der Schule heimkommen und einfach nur Kind sein und keine Mini-Studentinnen und -Studenten“, wehrte sich Lina Bär von der SP, „nicht alle Eltern haben studiert. Viele können dem Schulstoff ihrer Kinder nur schlecht oder gar nicht folgen. Dieser ungleichen Verteilung von Ressourcen wollen wir ein gerechtes Modell entgegensetzten.“18 Doch die Petition scheiterte. Wieder war das Beharrungsvermögen der Reformverweigerer zu groß – und das, obwohl mittlerweile auch einflussreiche Medien wie die „Neue Zürcher Zeitung“ behutsam ins Lager der Reformer gewechselt waren. „Hausaufgaben: Ein ‚pädagogisches Ritual‘ überlebt“, titelte die NZZ etwa im September 201319. Autor Peter Krebs zitiert darin unter anderem den Kinderheilkundler und Autor von Erziehungsratgebern Remo Largo mit der klaren Hausaufgabenschelte „Sie bringen gar nichts. Schüler und Eltern werden damit nur schikaniert“. Aber auch Gabriel Romano vom Institut Vorschulstufe und Primarstufe der Pädagogischen Hochschule Bern, für den Hausaufgaben nur ein „pädagogisches Ritual“ ohne tieferen unterrichtlichen Sinn sind.

Krebs verweist zwar auf die Zusammenfassung Tausender weltweit erstellter Studien durch den neuseeländischen Bildungsempiriker John Hattie20, der in seiner Metastudie den Hausaufgaben einen moderaten Lerneffekt zuschreibt. Auch lässt er in einem Interview den entschiedenen Hausaufgaben-Befürworter Alois Niggli zu Wort kommen. Der Freiburger Pädagogikprofessor stellt darin fest, dass Hausaufgaben „nicht generell wirkungslos“ sind, „mit zunehmendem Alter können sie einen positiven Einfluss auf die Schulleistung haben, falls sie sorgfältig erledigt werden.“ Und „aus erzieherischen Gründen kann man sagen, dass die Kinder dank den Hausaufgaben mit der Zeit eine gewisse Selbständigkeit entwickeln können.“21 Doch Peter Krebs’ Skepsis gegenüber einem unsinnigen Ritual ohne echten pädagogischen Wirkungsnachweis obsiegt letztlich. Er verweist auf Belastungen für das Familienleben, wenn Kinder die Hausaufgaben manchmal bis morgens vor dem Unterricht vor sich her-schieben, und auf Eltern, die ihren Nachwuchs lieber auf teure – und hausaufgabenfreie – Privatschulen schicken, „um den Familienfrieden zu retten“. Jürg Brühlmann vom Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer empfiehlt deshalb genau das, was vor 20 Jahren im Kanton Schwyz bereits realisiert wurde: die Verlegung der Arbeit in die Schulen, den Wechsel von Hausaufgaben zu Schulaufgaben. Allerdings gibt er auch zu bedenken, dass damit über eine neue zeitliche Struktur des Schulunterrichts nachgedacht werden müsse: „Wir würden bis zu einem Achtel der Lernzeit verlieren.“

Doch obwohl fachlich alles eindeutig in eine Richtung zu weisen scheint, gilt auch für die Schweiz, ebenso wie für Deutschland und Österreich: Die flächendeckende Abschaffung der Hausaufgaben und ihr Ersatz durch zusätzliche schulische Angebote liegen derzeit in weiter Ferne – nicht zuletzt wegen der finanziell schwierigen Lage vieler Kommunen, die zusätzliche Lehrkräfte für eine schulisch betreute Aufgabenhilfe bezahlen müssten, dafür aber kein Geld investieren können oder wollen. Die Befürworter einer Abschaffung der Hausaufgaben stehen damit vor einem kaum zu knackenden, doppelten Verteidigungsbollwerk der Pro-Hausaufgaben-Fraktion, das flapsig formuliert in etwa so klingt: „Erstens haben wir das schon immer so gemacht. Und selbst wenn wir uns durch sämtliche Studien, die den Hausaufgaben Nutzlosigkeit bescheinigen, beeindrucken ließen – was wir nicht tun! –, dann gäbe es doch kein Geld, um irgendetwas zu ändern.“ Veränderung kann also allenfalls, so scheint es, von unten nach oben passieren, mit engagierten Einzelakteuren, die den jahrhundertealten Unsinn mit den Hausaufgaben nicht mehr mitmachen wollen. Beispiele dafür gibt es – etwa in der Gemeinde Neuheim im Kanton Zug. Dort wurde vor einigen Jahren eine Eltern-Lehrer-Gruppe (ELG)22 gegründet, die unter anderem zwei Mal pro Woche eine kostenlose Hausaufgabenbetreuung für Primarschulkinder anbietet. Die Vereinzelung der Hausaufgabensituation wird damit durchbrochen, qualifizierte Betreuer begleiten die Schülerinnen und Schüler bei ihren Aufgaben. Und dennoch ist das nur die zweitbeste Lösung, denn die Hausaufgaben an sich existieren ja weiter. Einen anderen Weg ist das Gymnasium Bäumlihof in Basel gegangen, dass die zu Hause zu bearbeitenden Aufgaben abgeschafft und durch Schulaufgaben ersetzt hat, die in der sogenannten individuellen Lernzeit erledigt werden23, häufig zu Beginn des Tages. Ein innovatives Konzept, das vielleicht kein Wunder ist an einer Schule, die 2010 auch damit begonnen hat, ganze Klassen ohne einen traditionellen Stundenplan zu unterrichten. Es scheint, als könnte es in der Hausaufgabendebatte lohnend sein, öfter einmal in Richtung Schweiz zu blicken.

Hausaufgaben ? Nein Danke!

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