Читать книгу Autoreisen durch Russland und damalige Sowjetrepubliken - Armin Hirsekorn - Страница 3

Ziemlich verrücktes Vorhaben

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Das war die Meinung vieler Menschen, denen wir von den Vorbereitungen für unsere Autoreise in die Sowjetunion im Jahre 1978 erzählten: „Ihr ahnt ja nicht, was da auf Euch zukommt: schlammige Wege, primitive Unterkünfte, Risiken mit dem Fahrzeug auf den unendlichen Straßen des Landes, dazu die Vorschriften, die ununterbrochene Aufsicht und Kontrolle durch die Sowjets. Täglich sind nur 500 Kilometer erlaubt, und keine Abstecher von der Hauptstrecke sind zugelassen. Alle paar Kilometer stehen an der Strecke die rundum verglasten Kontrollbaracken der Verkehrspolizei, hinter denen sie Euch schon von weitem mit dem Fernglas ins Auge fassen.“

Renate und ich ignorierten diese Warnungen. Zu unserem Glück, sonst könnten wir nicht auf eine unendlich schöne Etappe unseres Lebens, in den Jahren 1979 bis 1989, zurückblicken.

Die täglich 500 Kilometer Fahrstrecke nahmen wir schon bei der Planung nicht als Reglementierung, auch nicht die GAI-Posten der Verkehrspolizei an den Überlandstraßen, sondern als Sicherheitsmaßnahme zu unserem Vorteil. Unterwegs, auf der Strecke, in der Weite des Landes, kann unendlich viel geschehen, ob nun ein Unfall, eine verpasste Tankstelle, ein Steinschlag, eine Landung im Schlammloch oder ein übles Delikt. Kämen wir nicht planmäßig im nächsten Hotel oder Motel an, dann würde man nach uns suchen. So empfanden wir auch diese Posten als einen wichtigen Teil dieses Systems, und wir haben uns durch sie nie unzumutbar beaufsichtigt, sondern immer relativ sicher gefühlt. Und selbstverständlich sind wir immer davon ausgegangen, dass wir die Gesetze, Regeln und Gewohnheiten in dem Lande, das wir besuchen, zu achten und zu beachten haben. Doch um der Wahrheit die Ehre zu geben: Nicht immer haben wir dieses eigentlich selbstverständliche Prinzip bei den Fahrten durch die Weite des Landes beachtet, vor allem nicht, was die vorgegebenen Fahrtrouten betrifft.


Abbildung 1: GAI-Posten an einer Autostraße in der Ukraine.

Von den sogenannten GAIs hatte man uns vor unseren ausgedehnten Fahrten durch die Sowjetunion unglaubliche Geschichten erzählt. Sie würden in ihren Kanzeln am Schreibtisch hocken, mit dem Feldstecher jedes sich nähernde ausländische Fahrzeug aufmerksam fixieren, dessen Kennzeichen notieren und dem nächsten Posten weitermelden. Auf den Fahrstrecken in der Sowjetunion haben wir sicher einige Hunderte von GAIs passiert, jedoch nie deutete ein Anzeichen darauf hin, dass uns eine außergewöhnliche Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre. Wie in allen Berufsgruppen gab es auch unter ihnen solche, die schlafend am Schreibtisch ihrer Kanzel hockten, sich mit irgendjemandem unterhielten oder sich anderweitig beschäftigten. Natürlich erlebten wir auch solche, die ihre dienstlichen Obliegenheiten ernst nahmen, unsere Fahrt aufmerksam verfolgten und vielleicht auch das Kennzeichen notierten. Angehalten und kontrolliert wurden wir insgesamt nur zwei oder drei Mal, nur einmal hatten wir größere Schwierigkeiten.

Im Sommer 1982, unterwegs von Moskau nach Wladimir, wurden wir bei Elektrostal, noch im Moskauer Bezirk, von einem GAI-Posten gestoppt und kontrolliert. Unangenehm war das insofern, weil wir wenige Tage vor der Abreise auf unseren havarierten LADA hatten verzichten müssen. Er war noch in unseren Unterlagen vermerkt, doch wir fuhren einen geliehenen Moskvich. Dieser Widerspruch fiel natürlich dem kontrollierenden Offizier auf. Er begab sich mit den Unterlagen in seine Hütte und führte ein Telefongespräch, vermutlich mit der Grenzstation Brest. Dort hatte man bei der Einreise unsere Papiere kontrolliert und den Widerspruch in den Reiseunterlagen geklärt. Eine knappe halbe Stunde verging, bis wir den Posten verlassen und weiterfahren durften.


Abbildung 2: Landesmarke am ehemaligen Grenzübergang der Sowjetrepubliken Ukraine und Moldawien.

Die Verkehrspolizisten an den Überlandstraßen waren in Abständen von etwa zehn bis fünfzig Kilometern, in Hochständen am Straßenrand, stationiert, meist an Plätzen, die einen weiträumigen Überblick über den Straßenverlauf in beide Richtungen gestatteten. Mehrere zwei bis drei Meter hohe Pfeiler trugen eine geschlossene Kanzel, deren vorderer Teil, zur Straße hin, nach drei Seiten verglast war. Die hintere Kanzelhälfte bildete meist einen kleinen abgeschlossenen Raum. Die Bezeichnung für diese Ordnungshüter war übernommen von der Benennung ihrer übergeordneten staatlichen Einrichtung. GAI (ГАИ) war die Abkürzung der Staatlichen Autoinspektion, einem Organ des Ministeriums für Innere Angelegenheiten der Sowjetunion, das für die Sicherheit des Straßenverkehrs verantwortlich war.

Am Rande der Überlandstraßen in Russland sind GAI-Posten noch immer präsent, ebenso in der Ukraine und in Weißrussland. Hier blieb die alte Abkürzung "ГАИ" als Begriff ebenfalls erhalten. In Kasachstan wurde die Verkehrspolizei in eine "Reisepolizei" umgebildet. In den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, jetzt souveräne Staaten, existieren GAIs in der ehemaligen Form nicht mehr.

Anfang September 1980 führte unsere Fahrt einige Kilometer am Prut entlang. Etwa 40 Kilometer hinter Tschernowzy, in der Ukraine, wurde die Grenze zu Moldawien durch einen riesigen Schriftzug auf einem Betonsockel angekündigt. Unmittelbar rechts verlief in etwa 500 Metern die Grenze zu Rumänien. Hier, am Dreiländereck, hatte ein GAI-Posten seinen festen Platz.

Mir kam plötzlich eine ganz verrückte Idee: Wenn ich hier fotografieren wollte? Was würde geschehen? Noch nie hatte ich mich getraut, an einer GAI-Hütte anzuhalten und Bilder zu machen.

Etwa fünfhundert Meter, bevor wir die Kanzel erreichten, hielt ich am rechten Straßenrand, auf dem Sommerweg, an. Zu Renate gewandt, meinte ich: "Bitte steige doch mal kurz aus und laufe in Richtung GAI-Hütte, während ich hier ein oder zwei Bilder mache. Verwickle den Mann in ein Gespräch, meinetwegen frage ihn auch, ob wir ein Foto machen dürfen!"

Alles verlief wie vorausgesehen: Der Polizist kam Renate entgegen. Die beiden trafen sich auf halbem Wege und unterhielten sich, während ich die GAI-Station - etwas heimlich und verdeckt - fotografierte.


Abbildung 3: Achtunggebietendes Denkmal eines Autowracks am Straßenrand.

Und das waren Renates Worte, als sie zurückkam: "Also, wir sind hier an der rumänischen Grenze und dürfen auf keinen Fall fotografieren, meinte der GAI. Ansonsten war er sehr freundlich und zuvorkommend. Als ich ihm erzählte, wir würden noch bis Kiew fahren und dann nach Mittelasien fliegen, blieb ihm vor Erstaunen der Mund offen stehen. Voller Hochachtung wünschte er uns alles Glück dieser Welt für unsere Reise!"

Auf diese Weise kam ich in strengsten Sowjetzeiten zum Bild einer GAI-Station an einem ganz kritischen Standort, unmittelbar am Dreiländereck Ukraine-Moldawien-Rumänien. Ebenso zu einem Foto des Betonblocks mit der Kennzeichnung des Grenzüberganges von der Ukraine nach Moldawien.

Ein anderes Mal sind wir unterwegs auf der scheinbar ins Unendliche führenden dreispurigen Chaussee zwischen Charkow und Rostow/Don. Rechts und links der Straße, ungehindert von irgendwelchen Bäumen, breitet sich vor unseren Augen die unendliche Steppe des Donezk Gebietes aus. Schnurgerade aufgereihte Baumgürtel, als Schutz für den fruchtbaren Erdboden gegen die erodierenden Steppenwinde, unterbrechen die bis zum Horizont überschaubare Ebene. Ab und zu zweigt ein schmaler, ungepflasterter Fahrweg ab in die grenzenlose Weite, seltener eine roh betonierte Landstraße. Oft lassen sich diese Wege als schmale Streifen bis zu den weiß gekalkten Häusern und Ställen eines Dorfes verfolgen. Malerisch liegt es eingebettet zwischen den sanften Hügeln der Steppe.

Renate, auf dem Beifahrersitz, schaut mich so merkwürdig an. Ich kenne diesen Blick. Unwillkürlich kontrolliere ich den Tacho. Er zeigt mir eine Geschwindigkeit von 120 Kilometern in der Stunde. Das ist viel, - zu viel in der Sowjetunion.

Schon wenige Kilometer danach, kurz vor Artemowsk, nähere ich mich einem Lastkraftwagen, beladen mit allen möglichen und unmöglichen Gegenständen: Kisten, Rollen, Bretter, eiserne Kohleöfen und zerschlissenes Mobiliar. Auf der Ladefläche ein wüstes Durcheinander, kreuz und quer, ohne Ordnung, ohne Regeln, ohne Sicherheit, wie man das häufig auf den Überlandstraßen der Sowjetunion erlebt. Dabei ist der Anteil von Lastwagen im Vergleich zu den PKWs auf diesen Straßen besonders hoch.

Wieder einmal vernehme ich Renates schon oft wiederholten Seufzer: „Ich kann keine LKWs mehr sehen!“

Sie erinnert sich an einen fürchterlichen Unfall bei unserer ersten Einreise in die Sowjetunion. Damals war eine gewaltige Rolle Druckereipapier vor uns auf der Landstraße von der Ladefläche eines Hängers gepurzelt und hatte den Lada vor uns samt Fahrer und Beifahrer plattgewalzt. Seither habe ich mir angewöhnt, diese übel beladenen Lastwagen in rasendem Tempo zu überholen, mit einer Beschleunigung, die mein Fahrzeug gerade noch hergibt.


Abbildung 4: Autostraße und Landschaft zwischen Minsk und Smolensk.

Auch diesmal wieder nähere ich mich rasch einem mit allerlei Eisenteilen beladenen Laster, der sich merkbar schwerfällig die ansteigende Straße aufwärts schleppt. Von oben ist noch kein Gegenverkehr in Sicht, und so überhole ich mit etwa 110 Stundenkilometern den hoch beladenen Straßenkreuzer.

Im Kopf immer noch das Bild eines von gewaltigen Druckpapierrollen plattgewalzten Lada, bin ich froh, wieder einmal so glatt vorbei- und davongekommen zu sein, als ich oben von einem GAI mit erhobener Kelle abgestoppt werde. Er hatte meinen Überholvorgang am Berg beobachtet, war aus seiner Kanzel gestiegen und erwartet nun den Verkehrssünder.

Was ich bisher auf den vielen tausend Kilometern sowjetischer Autostraßen erlebt und von den einheimischen Fahrgewohnheiten gelernt hatte, war Folgendes: "GAI" ist ein Zauberwort, es macht die wildesten Fahrer urplötzlich sanft und friedlich. Kaum erblicken sie in der Ferne, am Straßenrand, eine GAI-Hütte, schon drosseln sie ihre Geschwindigkeit und schlängeln sich in langsamer Kolonne am Hochstand vorbei. Dieser Respekt vor dem GAI ist auch mir gewissermaßen spontan und automatisch in Fleisch und Blut übergegangen. Ich bin also nun, während ich aussteige, innerlich gar nicht so locker und unbefangen, wie ich erscheinen mag.

Der GAI ist etwas überrascht vom deutschen Autokennzeichen am russischen Lada. Ich habe den Eindruck, dass sich in dieser Überraschung eine gewisse Spannung auflöst und zunehmender Freundlichkeit Platz macht. Ich hüte mich also, auf dieses Entgegenkommen nicht einzugehen. So bleibt es zum Glück bei einer Ermahnung, ohne dass ich zur Kasse gebeten werde. Das würde unserem knappen Vorrat an Rubeln sicher auch nicht gut bekommen.

Ich vermute, dieser uniformierte Vertreter der Sowjetmacht ist eher begierig zu erfahren, wer ihm da aus dem Lada entgegen kommt, als dass er seiner Dienstpflicht formal genügen möchte. So weist er mich auch nicht mit aller Strenge auf mein Vergehen, das Überholmanöver am Berg bei zu hoher Geschwindigkeit, hin, sondern ermahnt mich wohlwollend und gestenreich, - so, als wolle er sich mit mir in ein freundschaftliches Gespräch einlassen. Ich erspare mir also die schon zurechtgelegte selbstkritische und kleinlaute Entgegnung in lückenhaftem Russisch und beantworte seine aufgeräumten Fragen nach dem "Woher" und "Wohin".

Ganz aus dem Häuschen ist der Mann, als ich ihm eröffne, wir sind aus Dresden. "Ich habe in der Dresdner Division gedient", ruft er freudestrahlend, "am Weißen Hirsch war ich stationiert!"


Abbildung 5: Streckenübersicht der zugelassenen Routen für die Autotouristik in der damaligen Sowjetunion

Als wir uns verabschieden, lenkt er noch einmal meine Aufmerksamkeit auf ein gewaltiges Schild am Straßenrand: Ein Bild mit Kindern in Überlebensgröße ist zu erblicken, warnend ruft eines der Kinder: "Papa, bitte denk an uns!"

Beim Anblick der riesigen Hinweistafel fällt mir ein anderes Bildwerk ein, das wir erst vor wenigen Stunden passiert hatten. Da stand eine natürliche technische Skulptur am Rande der Straße, ein zertrümmerter Lada auf hohem eisernem Podest, darunter in fetten Buchstaben der Hinweis: "РЕЗУЛТАТ ПРЕВЫШЕНИЯ СКОРОСТИ И НАРУШЕНИЙ ПРАВИЛ ОБГОНА: УБИТО 4, РАНЕНО 2" - "Ergebnis überhöhter Geschwindigkeit und eines Verstoßes gegen die Überholvorschriften: 4 Tote, 2 Verletzte!" Drastischer und praxisbezogener kann man es einem Kraftfahrer am Straßenrand nicht deutlich machen, mit welchen Folgen er bei undiszipliniertem Fahren zu rechnen hat.

Autoreisen durch Russland und damalige Sowjetrepubliken

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