Читать книгу Autoreisen durch Russland und damalige Sowjetrepubliken - Armin Hirsekorn - Страница 4
Standard- oder Sonderprogramm
ОглавлениеEs war in der DDR nicht ganz so einfach, eine Urlaubsreise zu buchen, wie wir sie uns vorgestellt haben. Fast ein Jahr zuvor musste sie beim Reisebüro über die Gewerkschaftsleitung des Betriebes beantragt werden. Man schwankte über viele Monate in der Unsicherheit, ob der Bescheid positiv ausfallen würde. Vor den Reisen waren wir fast ein Jahr lang im Reisefieber, immer im Zwiespalt zwischen freudiger Erwartung und ärgerlichem Fatalismus. Und tastsächlich mussten wir es erleben, dass uns auch eine Reise abgeschlagen wurde.
Erst wenige Wochen war es 1986 her, dass wir wieder zu Hause angekommen waren, und schon lag vor uns das Formblatt eines Antrages mit der Überschrift: „Bestellung einer Sonderreise außerhalb des vorliegenden Standardprogramms“.
Bereits im Oktober mussten wir unser Vorhaben über die Gewerkschaft beim Dresdner Reisebüro anmelden. Nachdem man uns das Bestellformular übergeben hatte, sind wir am 20. November 1986 dabei, die neue Tour für den August 1987 zu beantragen, ein Dreivierteljahr vor Reisebeginn.
Abbildung 6: Übersicht des nicht genehmigten Streckenantrages 1987.
Seit langem haben wir es aufgegeben, uns über die endlosen Vorlaufzeiten zu wundern oder uns gar zu echauffieren. Wir trösten uns mit dem Gedanken, so hätten wir reichlich Gelegenheit, die Vorfreude auszukosten und unsere großartigen Erinnerungen mit dem zu Erwartenden zu verknüpfen. In den vorangegangenen Jahren legten wir in der Sowjetunion eine Strecke zurück, die nahezu einer Erdumrundung entspricht. Meist waren wir mit dem Auto unterwegs und hatten von den Zwischenstationen im Lande aus Abstecher mit Flugzeug, Schiff oder Eisenbahn unternommen. Nach der ersten großen Reise 1978 durch die unendliche Weite des Landes zog es uns immer wieder dorthin. Jährlich bis zu fünf Wochen tourten wir über die Landstraßen, doch am Ende zog es uns immer wieder mit aller Ungeduld heim. Jeder Reisende kennt das besondere Gefühl, wenn es nach vielen einzigartigen Erlebnissen wieder heimwärts geht.
Im Herbst 1987 sitzen wir wieder einmal vor den Antragsunterlagen des Reisebüros. Wo soll es hingehen? Aserbeidschan, Dagestan und das Kaspische Meer kennen wir noch nicht, und den Kaukasus wollen wir unbedingt noch einmal besuchen. Mit Begeisterung erinnern wir uns an die Tour von 1978. Acht Jahre sind seitdem vergangen, und wieder zieht es uns mit Macht zur grusinischen Heerstraße, über den Kreuzpass, nach Ossetien, in die Kolchis und zur Kaukasischen Riviera. Die Planung ist nicht kompliziert, wir müssen nur ein Sonderprogramm beantragen, das die Autotour über den Kaukasusring mit den Flugstrecken nach Baku und Machatschkala kombiniert.
Doch würde man uns die Reise genehmigen? Ich bin skeptisch, hatten wir doch schon in den vorangegangenen Jahren zweimal eine Absage bekommen. Die Gründe glaube ich zu ahnen: Es ist unsere Weigerung, die Kosten für eine durch das sowjetische Reisebüro INTOURIST verschuldete Abweichung von der vertraglich vereinbarten 82er Tour nachzuzahlen. Doch hoffen wir immer noch auf eine Zusage, immerhin hatten wir unseren Antrag über die Betriebsgewerkschaftsleitung der Arbeitsstelle an das Reisebüro weitergeleitet. Wir verweigern uns einfach dem Gedanken, dass wir ein Leben lang wegen eines begründeten Einspruches von allen Autoreisen durch die Union ausgeschlossen würden.
Ungeduldig warten wir auf Antwort. Monate vergehen, bis endlich gegen Anfang Februar ein angekreuzter Kartenvordruck im Briefkasten liegt: „Bestellung Sonderprogramm nicht möglich!“ Dazu keine Begründung, kein Bedauern, kein Ausweichangebot. Die Enttäuschung ist groß.
Abbildung 7: Absage des Reiseantrages 1987 durch das Reisebüro der DDR.
Im Sommer 1989 versuchen wir es noch einmal. Diesmal handelt es sich um einen Ferienaustausch von Angehörigen zweier Fachschulen, die eine in Piatigorsk, die andere in Dresden. Ich stehe vor dem Schalter im Polizeilichen Meldeamt, unmittelbar vor mir ein junger Kollege. Er übergibt der Angestellten seinen Antrag. Die junge Frau nimmt ihn entgegen und geht in den rückwärtigen Teil des Raumes. In einem Riesenschrank sucht sie nach einer Karteikarte, zieht sie heraus, wirft einen Blick darauf und stellt unverzüglich das Visum aus.
Nur Minuten dauert es, bis der Mann seine Reisegenehmigung in Händen hält, dann bin ich an der Reihe: Die Frau nimmt meine Unterlagen, geht zum Karteischrank und zieht meine Karte. Sie schaut sie an, steckt sie wieder zurück, legt meine Unterlagen zur Seite und meint: „Kommen Sie in vier Wochen wieder!“
Da gibt es also eine geheime Notiz auf meiner Meldekarte. Ich bin als unsicherer Kantonist registriert, sicher an mehreren Stellen und auch hier, im Meldeamt der Deutschen Volkspolizei. Die Visastelle hat ihre eigenen Regeln und Kompetenzen, doch muss sie sicher irgendwo eine Genehmigung einholen.
Schon vorher, in den Jahren zwischen 1978 und 1982, hatten wir jährlich über Monate ein Gebräu aus Reisefieber und scheußlicher Ungewissheit in uns getragen, ehe gegen Anfang Februar oder gar erst Mitte des Jahres die Zusage gekommen war und wir den Reiseleistungsvertrag abschließen konnten. 1982 vergingen sieben Monate von der Antragstellung bis zur Vertragsunterzeichnung und 1980 gar zehn Monate, trotzdem wir persönlich mehrmals in der Berliner Zentrale des Reisebüros nachgefragt hatten.
Damals sahen wir die Gründe weniger auf politischer Ebene, sondern eher im differenzierten Aufbau unserer Reisen, teils auch in der Kontingentierung. Den einzelnen Filialen des Reisebüros der DDR wurde immer nur ein bestimmtes Limit an Reisen zugewiesen, unabhängig von der örtlichen Nachfrage. Wir erhielten Kenntnis von einem Fall, dass ein Bautzener Antragsteller in seinem Heimatort keine Chance hatte, jedoch in Grimma seinen Antrag genehmigt erhielt. Mag sein, einzelne Filialen hatten auch keine Erfahrung im Umgang mit Sonderprogrammen oder waren zu bequem, sich dem komplizierten Antragsverfahren auszusetzen.
Abbildung 8: Kaukasusreise als Autotouristen im Jahre 1978.
Bei der Antragstellung auf eine Autoreise durch die Sowjetunion waren sogenannte Standardprogramme die Regel. Es gab jedoch auch die Möglichkeit, von diesen Programmen abzuweichen. In solchen Fällen musste ein Sonderprogramm beantragt werden, bei dem man sich die gewünschte Route nach den Unterlagen des Reisebüros selbständig zusammenstellte.
Bestellungen für Sonderreisen wurden vom Reisebüro nur dann entgegen genommen, wenn wesentliche Abweichungen von einem Standardprogramm auftraten.
Unsere Autoreise über den Kaukasusring 1978 hatte keine vom Standard abweichenden Teile. Es war unsere erste Fahrt der Autotouristik in die Sowjetunion. Noch hatten wir keine Erfahrungen, und wir mussten uns über viele organisatorische Details, über die Streckenführung, die Grenzübergänge, den Umgang mit der Sowjetadministration, die Maßnahmen bei einer Fahrzeughavarie, die nationalen Besonderheiten in den Sowjetrepubliken und natürlich auch über die zu besuchenden Städte und Touristenzentren sowie die Geschichte des Landes informieren.
Ebenso folgte unsere Krimreise von 1979, unsere zweite Reise der Autotouristik in der ehemaligen Sowjetunion, einem typischen Standardprogramm. Auch bei dieser Fahrt war die Streckenführung vorgegeben. Unsere eigene Auswahl umfasste die Art der Unterbringung - Hotel, Motel oder Vollcamping - die jeweilige Anzahl der Tage des Aufenthaltes und die dort geplanten Exkursionen.
Inzwischen hatten wir genügend Erfahrung gesammelt und eine gewisse Sicherheit bei der Vorbereitung erworben. So begannen wir zum Beispiel die Erkundung eines größeren Ortes prinzipiell mit einer Stadtexkursion im eigenen Fahrzeug, mit dem zugewiesenen Reiseleiter von Intourist als Beifahrer. Erst in den folgenden Tagen widmeten wir uns dem Besuch von besonderen Schwerpunkten im Alleingang, oder aber wir hatten schon vorher eine spezielle Exkursion gebucht. Auch diese wurde mit dem Reiseleiter als Beifahrer im eigenen Fahrzeug durchgeführt.
Grundlage für die Vorbereitung der Standardprogramme waren die von Intourist festgelegten Strecken der Autotouristik und die an den jeweiligen Zwischenstationen zur Verfügung stehenden Exkursionsprogramme.
Beim Besuch von Touristenzentren, die vom Standardprogramm abwichen, beantragte man über ein Sonderprogramm die entsprechende Flug-, Eisenbahn- oder Wasserstraßenverbindung und wählte die gewünschten Exkursionen. Diese waren für alle Touristenzentren der UdSSR detailliert in einem Buch aufgeführt, das bei den Reisebüros der DDR eingesehen werden konnte.
Abbildung 9: Krimreise als Autotouristen im Jahre 1979.
Unsere Fahrt nach Mittelasien im Jahre 1980 war ein typisches Sonderprogramm. Die Organisation der Abweichungen – also der Flugreisen zu den mittelasiatischen Zentren - muss für das sowjetische Intouristbüro nicht unkompliziert gewesen sein. Auch die Anreise zur sowjetischen Grenze hatte man kurzfristig verändert. Die Ursache lag in der politischen Situation: In Polen gab es Unruhen und Streiks, Jaruzelski hatte das Kriegsrecht ausgerufen und die oppositionelle Gewerkschaft Solidarność verboten. Die Situation war kritisch, und so hatte man kurzfristig unseren Grenzübergang von Shaginia nach Ushgorod verlegt. Wir waren gezwungen, über die Slowakei anzureisen und mussten einen gewaltigen Umweg in Kauf nehmen, um die ursprünglich festgelegte Strecke in der Sowjetunion einzuhalten.
Noch bei der Abfahrt in Dresden, Anfang Oktober, hatten wir nicht die bestätigte Route in den Händen, sondern nur den Hinweis auf den Tag des Grenzüberganges in Ushgorod. Man vertröstete uns, dort würde man uns die Reiseunterlagen übergeben. Als wir an der Grenze ankamen, erwarteten uns die sowjetischen Grenzer, doch die Reiseunterlagen hatten sie immer noch nicht in den Händen. Ein Offizier vertröstete uns: In Odessa würden wir die Papiere erhalten, und vom dortigen Flugplatz ginge unser Flug nach Taschkent. Renate freute sich: „Wir ersparen uns die Autofahrt von Odessa nach Kiew, mehr als 500 Kilometer!“
Abbildung 10: Reise nach Mittelasien als Autotouristen im Jahre 1980.
Doch nur ein Teil der Angaben bewahrheitete sich: Wohl erhielten wir in Odessa die Reiseunterlagen, doch mussten wir, wie ursprünglich vorgesehen, nach Kiew weiterfahren, um von dort aus den Flug anzutreten.
Von gewaltiger Ausdehnung und ergänzt durch viele Exkursionen war die 82er Reise zum Baltikum und über den Goldenen Ring um Moskau. Die achtzehn Exkursionen in neun touristischen Zentren eingeschlossen, legten wir mehr als 9000 Kilometer in fünf Wochen zurück. Doch auch hierbei handelte es sich um ein Standardprogramm, bei dem wir die Details, ausgenommen die Fahrstrecke, selbständig in der vorausgegangenen Planung mit dem Reisebüro festlegten.
Die Tage vor der Abfahrt waren immer wieder voller Spannung. Nach und nach stapelten sich im Arbeitszimmer die notwendigen Reiseutensilien: Jeans, Blusen, Unterwäsche, Schuhe, Kleider, Regenjacken, Hemden, Hosen, Pullover, Westover, Socken, Taschentücher, Föhn, Bürsten, Waschzeug, Rasierzeug, Badesachen, Kosmetik, Haarwäsche, Waschpulver, Handtücher, Geschirrtücher, zwei Tassen, zwei Teller, Essbesteck, ein Satz Kochtöpfe, Schöpfkelle, Brettchen, Schüssel, Eimer, Tauchsieder, Trinkwasser, Reisekocher, verschiedene Konserven, Büchsenöffner, Kaffee, Flaschenöffner, Schlafsäcke, zwei Kissen, zwei Decken, zwei Luftmatratzen. Nicht zu vergessen: die Fotoausrüstung, eine Spiegelreflexkamera Praktika aus Dresden, dazu Filter, Blitzlichtgerät, Filmmaterial.
Abbildung 11: Reise als Autotouristen über den Goldenen Ring, im Jahre 1982.
Ein letzter Weg war notwendig, nämlich der zur Notenbank. Drei unterschiedliche Währungen mussten eingetauscht und in bar mitgeführt werden: CSSR Kronen (100 Kcs – 33,16 M), Polnische Złoty (100 Zł – 12,99 M) und Sowjetische Rubel (100 Rbl – 320 M). Und man musste sich vor allem auch über die zu erwartenden Kosten informieren, im Schwerpunkt auf die Benzinpreise. Sie lagen im Jahre 1978 in der VR Polen, 94 Oktan, bei 18,00 Zł/l, in der CSSR, 96 Oktan, bei 7,50 Kcs/l und in der UdSSR, 95 Oktan, bei 0,20 Rbl/l.
Am Vorabend erreichte das Reisefieber seinen Höhepunkt. Noch bis zum gleichen Nachmittag hatten wir gearbeitet, denn wir mussten unsere Urlaubstage für die langen Fahrten bis auf die letzte Minute nutzen. Nun, zur Abreise, sollte die Spannung von uns abfallen, das aber war nicht so ganz einfach. In der letzten Nacht Ruhe zu finden, - unmöglich! Meist fuhren wir um Mitternacht oder wenig später los, einmal gar schon vorher, am späten Abend. Noch auf den Straßen der DDR und in Polen ließen wir uns viel Zeit, legten kürzere oder auch längere Ruhepausen ein, hielten an, um uns am Wegesrand einen Kaffee aufzubrühen oder gar, um eine oder zwei Stunden im Auto zu schlafen.
Einen Vorteil hatte die sehr frühzeitige und ausgedehnte Vorbereitungsetappe: Man war fast ein Jahr innerlich im Reisefieber und konnte sich ausführlich mit der Fahrtroute und den Etappenzielen auseinandersetzen. Ein knappes Jahr vor der jährlichen Autoreise wählten wir unseren Lesestoff gezielt nach dem Reiseprogramm aus. Dabei vertieften wir uns nicht nur in geografische Karten, Atlanten und Reiseführer der verschiedenen Verlage, sondern lasen historische Abhandlungen, Biografien und Reisebeschreibungen, unter anderem die Memoiren Katharina II., Alexander Dumas Bücher „Reise durch Russland“ und „Gefährliche Reise durch den wilden Kaukasus“ sowie Alexander Puschkins Werke „Der Gefangene im Kaukasus“ und „Die Fontäne von Bachtschissaraj“.
Während der Fahrten und Exkursionen erinnerten wir uns an das Eine und Andere, was wir in der Vorbereitung gelesen hatten, die Erläuterungen der Reiseführer ergänzten und erneuerten unsere Erinnerungen an das Gelesene. Renate hielt das aktuelle Erlebnis in Notizen und ich hielt es im Bilde fest. An unterschiedlichen Stätten und Orten stieß man oft auf die gleichen historischen Namen und Zusammenhänge, so zum Beispiel in Samarkand aber auch im tausende Kilometer entfernten Tbilissi auf Timur Leng, in Susdal, Wladimir, in Südrussland und Bachtschissaraj auf das Volk der Tataren. So bildete sich mit der Zeit ein zusammenhängender Überblick, gewissermaßen ein System von historischem Wissen.
Für die Zeit nach der Rückkehr hatten wir genügend Material für eine Auswertung der Reise. Hauptziel war jeweils ein etwa eineinhalbstündiger Bildervortrag. Nun, im Nachhinein, bei der Auswertung der Notizen und Ansicht der Bilder, wurde all das, was in den Wochen vorher auf uns eingestürmt war, in seinem Zusammenhang deutlich, alle die vielen Erlebnisse, Bilder, Ansichten, Aspekte, Betrachtungen und Erläuterungen.