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Im Stamforder Krankenhaus lag in einem kleinen Zimmer seit beinahe achtundvierzig Stunden bewußtlos das im Tunnel bei Norwalk verunglückte junge Mädchen. Es hatte sich gezeigt, daß ihre Verletzungen doch sehr ernster Natur waren, und alle Versuche der Ärzte, sie zum Bewußtsein zu bringen, waren bis jetzt fruchtlos geblieben. Stumm und bleich, mit eingefallenen Wangen und dunklen Ringen unter den Augen lag sie da und rührte sich nicht. Nur die unregelmäßigen Atemzüge ließen erkennen, daß noch Leben in ihr war.

Stets hielt eine Krankenschwester an ihrem Lager Wache. Seit einigen Stunden war auf dem Schildchen am Kopfende des Bettes die mit Kreide angebrachte Nummer „43“ gelöscht, und statt dessen ihr voller Name darauf geschrieben worden. „Evelyn Elmhurst“ stand jetzt in zierlichen und etwas verschnörkelten Buchstaben an der kleinen Tafel.

Ihre Schwester Doris hatte in der Zeitung von dem Unfall im Tunnel gelesen, war sofort nach Stamford geeilt und hatte Evelyn identifiziert. Die Anwesenheit Doris’ im Krankenhaus war aber nur von kurzer Dauer gewesen; ein längeres Bleiben hatte der Arzt untersagt.

Doris war nicht die einzige, die sich für das Schicksal Evelyns interessierte. Seit achtzehn Stunden saß Wand an Wand mit ihrem Zimmer in einem kleinen Nebenraum ein schweigsamer Mann; vor ihm lag ein Buch, in dem er eifrig las; diese Beschäftigung unterbrach er nur, um von Zeit zu Zeit einen kleinen Teelöffel mit einem möglichst großen Stück Plumpudding zu beladen. Mit der Geschicklichkeit eines geübten Jongleurs beförderte er diesen Riesenbissen sicher über das Buch hinweg in seinen Mund, vertiefte sich wieder ins Lesen, und zwei Minuten darauf begann das Spiel aufs Neue.

Jedesmal wenn er ein Kapitel zu Ende gelesen hatte, trat er auf den Gang hinaus und pendelte dort so lange hin und her, bis es ihm glückte, eine der Pflegerinnen zu erwischen und mit ihr einige Worte zu wechseln. Seine Frage war stets dieselbe: ob in Evelyns Befinden eine Besserung eingetreten sei. Manche der jüngeren Schwestern hätte sich gern etwas länger mit dem netten und noch keineswegs alten Mann unterhalten, aber alle ihre Bemühungen blieben erfolglos; abgesehen von der Beantwortung seiner Frage schien ihn in diesem Augenblick nichts mehr zu interessieren als sein Plumpudding.

Dieser stille Mann, Gay Mallet, zählte zu Kapitän Hearns besten Leuten, und seine Aufgabe war diesmal, wie ihm dünkte, recht einfach: er hatte den Kapitän unverzüglich von jeder Veränderung im Zustand des Mädchens in Kenntnis zu setzen und außerdem über ihre Sicherheit zu wachen. Er war überzeugt, seine Pflicht wie immer gewissenhaft zu erfüllen, und sein einziger Kummer war, daß er sich zur Schlaflosigkeit verurteilt sah, und sein Puddingvorrat sich bedenklich dem Ende näherte. Bestimmt aber würde er weder ans Schlafen, noch an Plumpudding gedacht haben, wenn er geahnt hätte, daß jede halbe Stunde zwischen dem Krankenhaus und New York ein Ferngespräch geführt wurde, das nur von dem jeweiligen Zustand seiner Schutzbefohlenen handelte, und daß der, welcher dafür so lebhaftes Interesse an den Tag legte, nicht Hearn, sondern Wilkins hieß.

Kapitän Hearn selbst war wirklich ein Mann von hervorragenden Fähigkeiten, und es war kein Zufall, daß man im Polizeipräsidium gerade ihn zum Leiter des Kampfes gegen Wilkins ausersehen hatte. Er verfügte über eine große Erfahrung, und seine Beschlagenheit auf allen Gebieten der Wissenschaft war erstaunlich, — in einem Punkte jedoch erwies sich Wilkins als der weit Überlegenere: Hearn besaß keinerlei Organisation, er hatte keinen Menschen, auf dessen Intelligenz und selbständige Entschlußkraft er sich verlassen durfte. Ihm stand zwar ein Heer wohlbewaffneter und kampfesmutiger Männer zur Verfügung, aber was er an Geist und Witz den Leuten Wilkins’ entgegensetzen konnte, war nur sein eigener, scharfer Verstand. Und Wilkins’ Helfershelfer — davon sprachen jetzt hundertvier dicke Aktenbündel eine beredte Sprache — waren fast ausnahmslos Menschen von seltener Begabung und außergewöhnlichen Kenntnissen.

Es war sieben Uhr abends, als unmittelbar hintereinander zwei gleichlautende Meldungen nach New York gingen: Evelyn Elmhurst ist zu sich gekommen.

Mit weitgeöffneten Augen lag das Mädchen in ihrem blendendweiß überzogenen Bett und sah ausdruckslos ins Leere. Zwei Ärzte und zwei Pflegerinnen waren um sie bemüht, doch schien sie dessen kaum gewahr zu werden.

„Wo ist Doris?“ war ihre erste Frage.

Man deutete ihr an, daß sie heute noch nicht sprechen dürfe, und daß ihre Schwester morgen bestimmt kommen würde.

Evelyn schwieg gehorsam und starrte auf die weißgetünchte Wand, an der ein kleiner, schwarzer Fleck ihre Aufmerksamkeit erregte. Langsam und unklar begannen ihre Gedanken wieder zu arbeiten. Wie kam der schwarze Fleck auf diese weiße Fläche? Sonderbar ... jetzt war er nicht mehr schwarz, sondern strahlend hell. Plötzlich wußte sie: das war der Scheinwerfer einer Lokomotive ...

Mit einem Schlage kam Evelyn die Erinnerung wieder. Richtig, sie war in Boston in den Zug gestiegen. Still saß sie in der Ecke eines Abteils, hatte erst längere Zeit gelesen und war dann eingeschlafen. Als sie die Augen öffnete, fand sie den ihr gegenüberliegenden Platz besetzt. Der etwa vierzigjährige Herr mit dem blonden Vollbart lächelte beruhigend.

„Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Mylady“, sagte er gutmütig. „Ich bin in Newhaven eingestiegen, und Sie schliefen so fest, daß Sie es nicht hörten. Hoffentlich hat Sie der Schlummer etwas erquickt.“

„Oh ja, danke“, antwortete Evelyn kurz, aber nicht unfreundlich. Es war ihr fast lieber, in Gesellschaft eines älteren Herrn zu reisen, denn sie fürchtete sich ein wenig vor dem Alleinsein in dem leeren Abteil.

„Mein Name ist Gurrwitz“, fuhr ihr Reisebegleiter fort, als sie schwieg. „Ich bin Schulmeister in Meriden. Jetzt fahre ich nach Trenton, um dort die Ferien bei meinem Mütterchen zu verbringen.“

Evelyn nickte. In ihrer zurückhaltenden Weise stand sie ihm Rede und Antwort. Er erzählte lebendig und anschaulich von seinen Erlebnissen im einsamen Meriden und schilderte nicht ohne Humor die Zustände in der dortigen kleinen Schule.

Der Personenzug fuhr langsam in Bridgeport ein. Niemand stieg aus. Ein einziger Reisender, einen kleinen Koffer in der Hand, stand auf dem Bahnsteig und spähte nach einem unbesetzten Fensterplatz. Nach einem kurzen Zögern öffnete er mit einem Ruck die Tür zu Evelyns Abteil und setzte sich ohne Gruß in eine Ecke.

Der blondbärtige Schulmeister schaute vorwurfsvoll zu dem schlechterzogenen jungen Mann hinüber, sagte aber nichts. Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, wandte er sich von neuem an Evelyn.

„In einer Viertelstunde kommt ein langer Tunnel. Ich schlage vor, wir stärken uns erst ein wenig.“ Ohne Evelyns Antwort abzuwarten, holte er ein Köfferchen aus dem Netz, hatte im Nu ein Tuch über den Klapptisch am Fenster gebreitet, auf dem er ebenso rasch zwei Teller mit Früchten und Gebäck, sowie zwei kleine Likörgläser stellte.

Evelyn wehrte ab.

„Danke, ich bin selbst genügend versehen.“

„Nein, nein!“ lachte er. „Sie würden mich kränken, wenn Sie bei Ihrer Weigerung beharren wollten. Bitte, Mylady, langen Sie doch zu!“

Evelyn mußte über seinen Eifer lächeln. Zögernd griff sie nach einer Frucht, und ihr Begleiter füllte inzwischen die Gläser aus einer kleinen Korbflasche.

„Auf gute Reise!“ prostete er ihr zu und erklärte mit einem vergnügten Schmunzeln: „Der Arzt hat mir meiner schlechten Verdauung wegen ein wenig Alkohol verordnet.“

Evelyn nahm das Gläschen in die Hand.

„Es ist eigentlich unvorsichtig, von einem fremden Menschen etwas anzunehmen.“

„Wieso?“ fragte Gurrwitz verblüfft.

„Ich habe gelesen, daß alleinreisenden Damen auf diese Weise ein Betäubungsmittel gegeben wird und dann ...“

„Ho ho ho!“ lachte Gurrwitz dröhnend. „Hoho ... sehe ich aus wie ... ho ho ...“

„Nein, ich meine ja nicht Sie.“ Evelyn setzte das Glas an die Lippen. Da sie selten Likör trank, nahm sie nur einen ganz kleinen Schluck. Er schmeckte bitter und widerlich.

Erschrocken sah sie auf. Da bemerkte sie, wie ihr Gegenüber sie lauernd von der Seite beobachtete. In seinen Blicken war soviel Tücke und Bosheit, daß es sie kalt überlief.

„Ich trinke nicht!“ rief sie entschlossen und warf das Glas klirrend auf den Boden.

Der Blondbärtige schien zu schwanken, ob er seine Rolle als gutmütiger Schulmeister weiterspielen solle oder nicht.

„Ich habe Sie durchschaut, Sir!“ fuhr Evelyn, bleich wie Kalk, aber mit fester Stimme fort; dann stand sie auf und streckte die Hand nach der Notbremse.

„Wenn Sie die Notleine berühren, schieße ich!“ sagte plötzlich der andere Mann in der Ecke ruhig.

Evelyn warf sich herum. Da sah sie in der Hand des jungen Mannes einen kleinen Browning, dessen Mündung drohend auf sie gerichtet war.

„Setzen Sie sich hin!“ befahl er.

Gehorsam folgte sie der Weisung.

„Was ... was haben Sie mit mir vor?“ kam es stockend von ihren Lippen.

Der Blondbärtige lachte höhnisch auf.

„Hätten Sie den Trank vorhin nicht verschmäht, so wäre alles viel einfacher gewesen“, erklärte er böse. „Sie steigen mit uns in Stamford aus, wo uns ein geschlossener Wagen an der Bahn erwartet. Sie werden hübsch vernünftig sein, denn jeder Versuch, Lärm zu schlagen, würde ihr sofortiges Ende herbeiführen.“

„Aber wozu ... ich verstehe nicht ...“

„Schweigen Sie!“ schnitt er ihr das Wort ab.

„Beeile dich ein wenig“, sagte der junge Mann gelassen. „Jeden Augenblick kann der Fahrkartenkontrolleur kommen.“

Der andere riß Evelyns kleinen Koffer aus dem Netz. Er nahm sich nicht erst die Mühe, den Schlüssel zu verlangen, sondern erbrach das Schloß mit einem starken Taschenmesser. In fieberhafter Hast warf er ihre Sachen durcheinander. Ein Päckchen Papiere war schließlich alles, was er herausnahm. Er blätterte flüchtig darin herum.

„Es stimmt, sie ist die Richtige!“ rief er seinem Komplizen zu und reichte ihm die Briefe.

In dem Augenblick, als sich jener über die Papiere beugte und dabei unwillkürlich den Revolver sinken ließ, riß Evelyn die Abteiltür auf. Sie rechnete damit, daß sich längs des Wagens ein Trittbrett hinziehen und es ihr gelingen würde, in ein anderes Abteil hinüberzuklettern. Die Nacht war so finster, daß sie nichts sehen konnte, und es blieb ihr auch keine Zeit, sich durch Tasten von der Richtigkeit ihrer Vermutung zu überzeugen, da der Blondbärtige schon auf sie zusprang.

Durch eine rasche Bewegung entzog sie sich seinem Griff und trat — ins Leere ...

Als sie die Augen öffnete, sah sie erst weit, dann immer näher ein helles Strahlenbündel: den Scheinwerfer einer sich mit rasender Geschwindigkeit nähernden Lokomotive ...

*

Evelyn schloß entsetzt die Augen.

„Wieder bewußtlos“, sagte der Arzt und fühlte den Puls der Kranken. „Lassen wir ihr Ruhe, die Krise ist überstanden, und die Ohnmacht dürfte bald in ruhigen Schlaf übergehen.“

Die verschwundene Melodie

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