Читать книгу Die verschwundene Melodie - Arno Alexander - Страница 8
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ОглавлениеMit halber Geschwindigkeit fuhr der Expreßzug um die gefährliche Kurve bei Norwalk. Der Lokomotivführer Tom Dryer war ein gewissenhafter und vorsichtiger Mann; obwohl die Vorschrift lautete, die Kurve mit vierzig Stundenkilometer zu durchfahren, zeigte sein Tachometer hier nie mehr als dreißig.
„Das reinste Schneckentempo“, knurrte der Heizer und warf einen ungeduldigen Blick auf die Uhr. „Es wird wieder Mitternacht, bis wir nach New York kommen.“ Er saß auf einer rußbedeckten Kiste, hatte die in dicken, plumpen Stiefeln steckenden Füße weit von sich gestreckt und hielt in der einen Hand eine Kohlenschaufel, in der andern eine halbleere Whiskyflasche. Wenn es nach New York ging, konnte man es ihm nie schnell genug machen, denn in der Stammkneipe warteten seiner verbotene Genüsse. „Verrückt! Soll das ein Expreßzug sein?“ murrte er und tat einen tiefen Schluck aus seiner Flasche.
Tom Dryer ließ sich nicht beirren. Er stand breitbeinig, die kalte Pfeife zwischen den Zähnen, vor seinen Hebeln und beobachtete scharf das durch den grellen Scheinwerfer hell beleuchtete Gleis.
„Mein Vater verunglückte an dieser Stelle, obwohl er bestimmt nicht mehr als vierzig Kilometer fuhr“, sagte er gelassen. „Man hat damals versucht nachzuweisen, daß er in jener Nacht schneller gefahren ist. Sachverständige haben ein Gutachten abgegeben, wonach er mindestens eine Geschwindigkeit von sechzig Kilometern gehabt haben mußte. Ich weiß es besser — oft genug erklärte mir mein Vater, daß es heißt, mit Menschenleben spielen, wenn man auch nur einen einzigen Kilometer mehr hat, als die Vorschrift lautet. — Und darum fahre ich hier nie über dreißig Kilometer.“
Der andere brummte etwas Unverständliches.
Tom warf einen Blick auf die Strecke, dann rückte er einen Hebel weiter. Die Riesenlokomotive zog sofort an: der Geschwindigkeitsmesser stieg langsam wieder auf sechzig.
„Jetzt fahren wir gleich in den Tunnel ein“, bemerkte Tom ruhig, zog ein Feuerzeug aus der Tasche und versuchte seiner ausgegangenen Pfeife neues Leben einzuflößen. „Hier zum Beispiel kann ich mit gutem Gewissen sechzig Kilometer wagen. Das Durchfahren des Tunnels dauert drei Minuten, und die Strecke ist kerzengerade.“
Nun schien der Heizer mit der Geschwindigkeit zufrieden. Er stand langsam auf und bot Tom seine Flasche.
„Siehst du“, meinte Tom gutmütig, „sogar einen Schluck Whisky darf ich mir hier gönnen. Dieser Tunnel ist die sicherste Strecke, die es gibt. An seinen beiden Enden sind Wachen aufgestellt, damit ja kein Mensch oder Tier da hineinläuft. Daher also ...“ Er nahm sich nicht die Mühe, den Satz zu vollenden, denn das Schreien strengte ihn zu sehr an. Mit einem zufriedenen Lächeln führte er die Flasche an den Mund. Dann beugte er sich gewohnheitsmäßig vor und warf einen Blick auf die Strecke.
Im selben Augenblick lief ein Zittern durch seine stämmige Gestalt. Die Flasche fiel klirrend zu Boden. Jählings packten die klobigen Hände Toms zu und gaben Gegendampf. Ein Kreischen, ein Ruck! Der Heizer flog gegen die Kesseltür; Tom hielt sich krampfhaft an der Seitenwand fest und starrte hinaus. Ein Rütteln durchzitterte den Zug von der Lokomotive bis zum letzten Wagen. Gleich darauf heulte die Dampfpfeife schaurig durch den Tunnel. Der Zug stand still.
Sekundenlang herrschte beängstigende Stille. Erst leise, dann immer lauter hallten Schreie durch die Nacht, die vom Echo verstärkt zurückgegeben wurden. Schaffner mit bestürzten Gesichtern und erschrockenen Augen kletterten auf die Lokomotive, stellten Fragen — wirr und zusammenhanglos.
Tom lehnte jetzt mit kraftlos herabhängenden Armen in einer Ecke. Sein Gesicht war entstellt vor Entsetzen. Endlich hob er langsam die Hand und deutete mit abgewandtem Kopf auf die hell erleuchteten Schienen.
„Da ... da ...“ stammelte er und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Seine Angst, das unbekannte Grauenhafte sehen zu müssen, teilte sich auch den Umstehenden mit. Nur zögernd beugten sie sich vor und starrten hinaus. Da sahen es alle: Vor der Lokomotive, nur knapp zehn Meter entfernt, lag mitten auf dem Gleis eine menschliche Gestalt.
Einige Reisende hatten sie inzwischen auch bemerkt. Eine von Minute zu Minute wachsende Gruppe von Menschen sammelte sich um den leblosen Körper. Es war ein junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren. Ihr dünnes, schwarzes Kleid war von langen, klaffenden Rissen durchzogen, und die seidenen Strümpfe wiesen große Löcher auf. Blondes, lockiges Haar bedeckte wirr das an mehreren Stellen zerschundene Gesicht, und die halbentblößten Arme waren schmutzig und blutig.
„Tot?“ fragte jemand bedrückt, als sich ein Arzt über sie neigte.
„Nein, das Herz schlägt noch“, antwortete er und tastete sorgfältig ihre Glieder ab. Als er den linken Arm berührte, lief plötzlich ein schmerzliches Zucken über das Gesicht des Mädchens, und ein leises Stöhnen wurde hörbar. Dann lag sie wieder still, wie leblos, mit geschlossenen Lidern da.
„Komplizierter Unterarmbruch und Gehirnerschütterung“, erklärte der Arzt endlich. Er ordnete die Unterbringung der Verunglückten in einem leeren Abteil an und machte sich sogleich daran, einen Notverband anzulegen.
Die Reisenden standen in kleinen Gruppen überall umher und besprachen eifrig den sonderbaren Fall.
„Sie kann nur aus dem Personenzug gestürzt sein, der vor etwa einer Stunde den Tunnel durchfuhr“, äußerte sich schließlich ein Bahnbeamter dazu.
„Was veranlaßte Sie denn, plötzlich zu halten?“ wandte sich der Zugführer an Tom. „Gesehen können Sie das Mädchen doch nicht haben.“
„Im letzten Augenblick leuchtete vor der Einfahrt in den Tunnel rotes Licht auf“, gab Tom zögernd zurück, denn er war nicht ganz davon überzeugt, daß er die Wahrheit sprach. Zwar hatte er vordem genau das grüne Licht gesehen, aber das rote konnte unter Umständen auch um einige kostbare Sekunden früher aufgeflammt sein.
Schweratmend kam plötzlich ein Bahnwärter herbeigerannt.
„Ich sah schon den Zug“, erklärte er auf die Frage des Zugführers, „als von New York die telephonische Weisung kam, die Durchfahrt zu sperren.“
Diese Erklärung schien den Zugführer zu beruhigen.
„Wir fahren weiter“, sagte er zu Tom, der blaß und stumm an seiner Maschine lehnte. „Durch Ihre Aufmerksamkeit haben Sie ein Menschenleben gerettet. Ich werde dafür Sorge tragen, daß Sie eine Belohnung bekommen.“
Der Lokomotivführer gab keine Antwort. Schweigend kletterte er auf seine Maschine und ließ den Dampf in die Zylinder strömen. Mit dumpfem Getöse setzte sich der Zug gleich darauf wieder in Bewegung.
Seit jenem Tage war Tom unter seinen Kollegen nicht mehr beliebt. Man legte ihm sogar den Spitznamen „der Streber“ bei, und kein Heizer fuhr gern mit ihm; denn mochte die Fahrt auch noch so lang sein, nie sprach Tom mehr ein überflüssiges Wort, trank nichts, rauchte nicht, und sobald er in den Händen seines Heizers eine Packung Tabak oder eine Whiskyflasche erblickte, nahm er sie ihm ohne jede Erklärung aus der Hand und beförderte sie mit einem kräftigen Schwung hinaus.
*
Auf dem Bahnhof in New York wartete eine große Menschenmenge auf den Personenzug aus Boston. Unter den Wartenden befand sich auch Doris Elmhurst, die ihre Schwester Evelyn empfangen wollte. Die beiden Schwestern hatten sich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, da Evelyn in Boston Medizin studierte und Doris nur zweimal im Jahr während der Ferien besuchen konnte.
„Der Zug hat acht Minuten Verspätung!“ verkündete ein Bahnbeamter mit lauter Stimme.
Doris blickte nach der Uhr. „Also noch zehn Minuten warten“, dachte sie und hielt plötzlich in ihrem Auf- und Abgehen erstaunt inne. Auch die andern Leute folgten ihrem Beispiel.
Es war in der Tat ein seltenes Schauspiel, daß sich ihren Blicken bot. Etwa dreißig Polizisten traten in Gruppen von drei und vier Mann auf den Bahnsteig und blieben unweit der Wartenden stehen. Auf den andern Bahnsteigen sah man jetzt ebenfalls Polizeibeamte; nur waren es dort weniger: höchstens fünf oder sechs auf jedem.
Ein höherer Beamter in Uniform trat an die Wartenden heran.
„Ladies and gentlemen!“ sagte er höflich, aber bestimmt. „Ich bitte Sie, etwas beiseitezutreten und meinen Leuten Platz zu machen.“ Dann gab er den Polizisten mit leiser Stimme Anweisungen, worauf diese den ganzen Bahnsteig entlang eine Kette bildeten. Kaum waren sie damit fertig geworden, als auch schon zischend und fauchend der Zug in die Halle einfuhr.
„Niemand darf aussteigen!“ befahl der Polizeibeamte laut. „Papiere bereithalten!“
Erstaunte Gesichter fuhren von den Fenstern zurück. Unter den Wartenden erhob sich ein unzufriedenes Murmeln.
Doris wurde unruhig. Viele fremde Gesichter hatte sie an den Fenstern gesehen, aber das ihrer Schwester nicht. Sie drängte sich vor und versuchte einige Worte der leise geführten Unterhaltung zweier Polizisten aufzuschnappen.
„... wurde der Kontrolleur mit zerschmettertem Schädel neben dem Telegraphenmast 97 gefunden“, sagte der eine. „Wahrscheinlich Mord“, fügte er nachdenklich hinzu.
„Er kann auch so ’rausgefallen sein“, meinte der andere.
„Kaum. Der Bahnwärter, der uns telegraphierte, gibt an, etwas Ähnliches wie einen Kampf beobachtet zu haben.“
„Nun, dann werden wir den Mörder natürlich ...“
Die Unterhaltung stockte. Die Polizisten schienen die Lauscherin entdeckt zu haben, und als sie nach einer Weile in ihrer Unterredung fortfuhren, sprachen sie so leise, daß es für Doris unmöglich wurde, etwas zu verstehen.
Inzwischen waren die Personalien der Reisenden festgestellt worden, und die meisten konnten den Bahnhof verlassen. Doris’ Unruhe steigerte sich, denn noch immer war Evelyn nicht zu sehen. Eine kleine Gruppe von Polizisten, in deren Mitte sich ein blondbärtiger Hüne wie ein Wahnsinniger gebärdete, lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich.
„Das ist unerhört!“ brüllte er. „Mich des Mordes zu verdächtigen! Mich?!“
Der Polizeioffizier suchte ihn zu beschwichtigen.
„Niemand hat einen derartigen Verdacht geäußert. Wir mußten aber Ihre Papiere einsehen. Ich bedaure außerordentlich, aber meine Pflicht ...“
In diesem Augenblick trat ein fein gekleideter junger Mann hastig auf den Beamten zu und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr.
Doris schob sich näher heran. Eine dunkle Ahnung sagte ihr, daß zwischen dem Mord am Kontrolleur und dem Ausbleiben Evelyns ein Zusammenhang bestehen müsse. Sie stand jetzt so nahe, daß sie einzelne Worte der halblaut geführten Unterhaltung hören konnte. Erst sprach der junge Mann:
„... ein hoher Würdenträger ... verhängnisvolle Folgen ...“
„Ich verstehe“, lautete die höfliche Antwort des Beamten. „Wir wollen natürlich jedes unnötige Aufsehen vermeiden. Die Papiere dieses Herrn sind ja auch in Ordnung. Wie ist Ihr Name, und wer sind Sie?“
Der andere beugte sich vor. Ein mit vielen Stempeln versehenes Papier auseinanderfaltend, flüsterte er: „Daniel Clayvills, Chef der Privatdetektei Clayvills & Huntington.“
Der Beamte schrieb sich etwas in ein Büchlein, dann verneigte er sich höflich. „Sie können gehen“, erklärte er kurz.
Doris’ Interesse an der Angelegenheit war schon fast geschwunden, als eine kleine Beobachtung von neuem ihre Aufmerksamkeit darauf lenkte. Der Blondbärtige machte Miene, noch etwas zu sagen, als plötzlich ein sanfter Rippenstoß Clayvills ihn verstummen ließ. Dieser Stoß war so berechnet, daß der Polizeibeamte ihn nicht bemerken konnte; Doris aber hatte ihn deutlich gesehen, und es nahm sie Wunder, daß ein Privatdetektiv einen hohen Würdenträger so zu behandeln wagte.
Diese kleine Beobachtung hatte zur Folge, daß Doris eine Zeitlang scheinbar völlig teilnahmslos vor den beiden herging, als diese gemeinsam durch die Bahnhofshalle schritten. Sie vernahm dabei, wie der Detektiv die Handlungsweise des hohen Würdenträgers beurteilte, wobei er sie mit Ausdrücken wie „bodenlose Dummheit“ und „einfältiges Gebahren“ belegte.
Doris war ein seltsames Mädchen. Obwohl sie in der Woche nur fünfzig Dollars verdiente, wovon sie noch ihre Schwester unterstützte, und daher sehr sparen mußte, gab sie an diesem Morgen doch fünf Dollars und fünfzig Cents für eine Autospazierfahrt aus.
Das Ergebnis war, daß sie um acht Uhr morgens, bevor sie den ersten Bogen in die Schreibmaschine spannte, in ihr Merkbuch kritzelte:: „Der hohe Würdenträger wohnt: Old Cross Road 81.“