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II

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Das Eßzimmer in der Wohnung Dick Murrays machte heute einen sehr festlichen Eindruck. Die fünf Glühbirnen des Kronleuchters über dem Tisch, von denen sonst nur eine oder zwei angezündet wurden, brannten heute alle, und in ihrem strahlenden Lichte erschien das blendend weiße Tischtuch noch blendender und noch weißer. Der Tisch war für vier Personen gedeckt, und neben jedem Gedeck befand sich ein Sträußchen Blumen. Rosen und Nelken standen in schön geschliffenen Blumengläsern in der Mitte und an beiden Enden des Tisches, und wo man hinsah, in jeder Ecke, auf jedem Tischchen, auf jedem Fenster und jeder Tür sah man sie —: rote Rosen und weiße Nelken.

Jim Elgin, Leutnant der Kriminalpolizei, stand schon seit fünf Minuten unbeweglich vor dem Tisch und stierte geistesabwesend vor sich hin. Immer wieder bemühte er sich, an die Sache und nur an die Sache zu denken, und immer wieder schweiften seine Gedanken ab, und er sah vor sich ein Bild — so klar, so genau in allen Einzelheiten, wie man es außer im Leben nur im Traume sieht. Es waren die weißen, zarten Hände Mauds, die hier vor einigen Stunden die Festtafel gedeckt hatten, die Falten des Tischtuchs geglättet, jedem Teller, jedem Messer und jeder Blume ihren Platz gewiesen und sie immer wieder in liebevoller Sorgfalt geordnet und zurechtgerückt hatten. Alles für ihn, für Dick! Und nun? Dick verhaftet …

Nein, der Gedanke, daß Dick verhaftet sei, war etwas Unfaßbares, etwas, wobei man sich nichts denken und auch keine Trauer empfinden konnte. Aber das hier, daß all diese Liebe umsonst gewesen sein sollte, das begriff Elgin und das empörte ihn. Wäre er nicht schon fünfundzwanzig Jahre alt und Leutnant der Kriminalpolizei, so hätte er bei diesem Gedanken vielleicht sogar geweint.

Endlich raffte er sich auf und wandte sich mit einem schweren Seufzer um.

„Maud!“ sagte er. „Es wird ja alles noch gut …“ Er machte eine hilflose Bewegung mit den Händen. „Wir müssen doch erst abwarten … Es wird gewiß alles noch gut.“

In der Ecke, auf dem Sofa, lag Maud, zusammengekauert, die Knie hochgezogen und sah Elgin aus trockenen Augen an. Aber ihr Blick hatte etwas Gehetztes, Erwartungsvolles.

„Ich bin ein schlechter Tröster“, sagte Elgin mutlos und machte einen Schritt auf Maud zu. „Vielleicht sollte ich Sie beim Kopf nehmen und Ihnen zureden wie einem Kind. Sie würden dann weinen, und es würde Ihnen leichter werden. Aber sehen Sie — so feige bin ich: ich wage es nicht.“

Sie sah ihn plötzlich an, aber an ihrem Blick merkte er, daß sie auf seine Worte gar nicht geachtet hatte.

„Lennox ist Ihr Vorgesetzter, nicht wahr?“ fragte sie.

Er nickte eifrig, — froh, daß sie endlich sprach.

„Ja, er ist um mehrere Dienstgrade über mir“, erklärte er bereitwillig. „Er ist …“

„Sie kennen ihn gut?“ unterbrach sie ihn.

„Ich kenne ihn gut, weil ich ihn oft in Ihrem Hause treffe“, bestätigte er. „Dienstlich kenne ich ihn eigentlich gar nicht …“

„Aber wenn er doch Ihr Vorgesetzter ist?“

„Was heißt hier Vorgesetzter? Jeder Inspektor ist mein Vorgesetzter. Nein, Lennox arbeitet bei einer ganz anderen Abteilung …“

„Hat er großen Einfluß? Ich meine, kann er es bewirken, daß man mal einen … nun, einen nicht ganz Unschuldigen freiläßt?“

„Aber wo denken Sie hin?“ rief Elgin fast entsetzt. „Sie müssen ja eine Vorstellung von unserem Dienst haben!“

„Also er kann es nicht?“ fragte sie heftig.

„Nein, das kann nicht einmal der Chefinspektor, nicht einmal …“

Sie sprang mit einem Satz auf, hielt sich die Ohren zu und lief rasch durchs Zimmer.

„Genug! Genug! Ich will nichts hören! Das ganze Haus hat man voll Kriminalbeamten, wie daheim gehen sie hier ein und aus, aber wenn man sie mal braucht …“

Sie schwieg, denn die Telephonklingel hatte laut angeschlagen. Maud wollte hinlaufen, aber Elgin kam ihr zuvor. Mit zwei Schritten war er am Tischchen mit dem Apparat, riß den Hörer an sich und streckte die andere Hand abwehrend von sich. Aber Maud dachte nicht daran, ihn am Hören und Sprechen zu hindern. All ihr Tätigkeitsdrang hatte sie plötzlich verlassen, und sie sank in einem jähen Schwächeanfall auf einen Stuhl.

„Hier Elgin!“ rief der junge Mann aufgeregt. „Wer dort? Wer? Ach, Sie, Inspektor Lennox? Nun? Wie . . Was? Ja … ja … Halt! Warten Sie! Maud! Maud! Er ist frei! Er ist frei! Hurra! Er ist frei! So, jetzt können Sie weiterreden, Inspektor! Ja … ja … Aber das ist ja herrlich! Großartig! Danke, werde ich genau ausrichten! Hurra! Wir erwarten Sie! Machen Sie schnell!“

Maud war während dieses stürmischen Gesprächs langsam aufgestanden, aber dann hatte sie sich doch wieder hingesetzt. Nur ihre Augen sprachen jetzt, über die Lippen kam kein Wort, aber deutlicher als diese Augen hätten auch Worte nicht fragen können.

„Ich hab’s doch gesagt: Es wird noch alles gut!“ jubelte Elgin. „Er ist frei! Haben Sie es gehört, Maud? Er ist frei! Einen Verbrecher hat er erschossen! Einen Verbrecher, der selbst auf ihn schießen wollte! Also Notwehr! Und bei dem Kerl haben sie genügend Beweise gefunden … Ah, das ist herrlich. Dick ist ein Held!“

„Wann kommt er?“ fragte sie leise.

„Gleich sofort! Nur ein paar Formsachen, ein paar Fragen, wissen Sie … Das ist bei uns nun einmal so. Sogar wenn man einen Verbrecher erschießt, muß man dergleichen über sich ergehen lassen. Aber, passen Sie auf, in einer halben Stunde sind Lennox und Dick hier.“

Maud seufzte tief auf, und plötzlich schimmerten in ihren Augen Tränen.

„Jetzt muß ich mich etwas zurechtmachen, lieber Elgin“, sagte sie hastig. „Dick soll keine verweinten Augen sehen, wenn er nach Hause kommt.“

„Aber Sie haben doch gar nicht ge — — —“

„Natürlich habe ich geweint! Jede Frau weint, wenn ihr Mann verhaftet wird. Machen Sie sich ebenfalls zurecht. Sie sehen auch ganz verweint aus. Und ziehen Sie das Grammophon auf …“

„Aber das hat doch Zeit …“

„Das hat nicht Zeit. Dick liebt es, wenn das Grammophon spielt.“

„Wenn er doch aber erst in ehestens einer halben Stunde … Aber mir ist es gleich. Was soll ich spielen — was Ernstes, ein Gesangstück oder …“

„Dick liebt Märsche!“ rief sie, und zum erstenmal lächelte sie. „Und bei uns werden Sie auch nichts außer Märschen finden!“

„Dann also Märsche!“ sagte er vergnügt und trat gehorsam an den etwas altmodischen Apparat in der Ecke.

Als Maud nach einer Viertelstunde wieder das Zimmer betrat, spielte Elgin schon den siebenten Marsch.

„Diese Musik ist erschütternd“, sagte er und fuhr sich mit seinem Tuch über die Stirn. „Aber wenn Dick sie liebt …“

Sie lachte fröhlich.

„Jetzt dürfen Sie eine kleine Pause machen. Aber erst eine neue Platte aufsetzen, damit es gleich losgehen kann, wenn sie kommen.“

Er stellte die Musik sofort ab, befolgte aber genau ihre Anweisungen. Dann setzte er sich aufs Sofa und sah ihr eine Weile stumm zu, wie sie im Zimmer auf und ab lief und immer noch etwas zum Ordnen, zum Zurechtrücken fand. Es gibt doch eine Gerechtigkeit —, dachte er im stillen, als er jetzt wirklich diese zarten, weißen Hände über das Tischtuch fahren sah — genau wie er es vor einer halben Stunde traumhaft vor sich gesehen hatte.

„Es konnte gar nicht anders kommen“, sagte er unwillkürlich laut, zum Abschluß seiner Gedanken.

„Was meinen Sie?“ fragte sie und hielt in ihrer Arbeit inne.

„Ach nichts“, wehrte er ab. „Sagen Sie, Maud, hat sich Dick eigentlich gut erholt?“

Sie stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte und sah nachdenklich vor sich hin.

„Es schien mir so. Ich hatte gar keine Zeit, ihn zu fragen. Aber er hat ja auch immer geschrieben, daß seine Gesundheit viel, viel besser sei.“

„Und jetzt ist er wohl ganz gesund? Kann auch seinen Beruf wieder ausüben?“

„Warum fragen Sie? Gewiß kann er auch seinen Beruf ausüben. Er wollte ja gar nicht aussetzen, damals … Ich bestand darauf. Erinnern Sie sich, was der Arzt sagte? Lungenschwindsucht? Nein, das hat er nicht gesagt. Er sagte, es könnte — hören Sie — es könnte Lungenschwindsucht werden, wenn Dick sich nicht ein halbes Jahr in Europa in einem Kurort erholte. Und Dick hat sich erholt! Er war ein halbes Jahr lang in Davos und hat dann noch eine wunderbare Reise quer durch Amerika gemacht. Da muß er ja gesund geworden sein.“

Elgin stand auf und schlenderte langsam zu dem Grammophonkasten.

„Nun ja …“ meinte er unsicher und schraubte die Nadel heraus und eine andere ein. „Hören Sie, Maud — ich wollte Sie schon immer fragen: woher nahmen Sie das Geld für Dicks Reise?“

„Das Geld?“ Sie sah erstaunt auf. „Das bißchen Geld, das dazu nötig war? Nun, Lennox gab es mir.“

„Lennox … Hm …“ murmelte Elgin und beugte sich über die Platten. „Lennox? Warum nahmen Sie es von Lennox? Warum gerade von Lennox?“

„Aber, lieber Elgin, wie merkwürdig Sie heute sind! Von irgendwoher mußte ich es doch nehmen!“

„Aber gerade von Lennox!“ beharrte er. „Wissen Sie, daß ich auch Ersparnisse habe? Ich hatte es Ihnen mal angedeutet … Aber als Sie Geld brauchten, dringend brauchten, gingen Sie lieber zu Lennox. Und doch hatte ich an dem Tage, als Sie uns sagten, Sie hätten das Geld bereits … ja, an dem Tage hatte ich eintausendzweihundert Dollar in der Tasche. Ich hatte das Geld von der Bank geholt, um es Ihnen zu bringen …“

Sie trat rasch auf ihn zu.

„Eigin!“ rief sie und drückte ihm fest die Hand. „Das war Ihr erspartes Geld ganz? Und das wollten Sie mir geben …“

„Warten Sie!“ unterbrach er sie beinah schroff. „Wenn ich das nur gewollt hätte, würde ich es Ihnen jetzt nicht erzählen. Oder denken Sie, ich spreche davon, um in Ihren Augen recht edel dazustehen? Nein, etwas anderes möchte ich Ihnen sagen: Wenn Lennox je wegen dieses Geldes irgendwie … wie soll ich sagen … sich irgendwelche Rechte einbilden sollte …“

„Ja, was dann?“

„Dann können Sie jederzeit das Geld von mir bekommen und es ihm vor die Füße werfen!“

Maud lachte auf. Sie setzte sich dicht neben das Grammophontischchen und sah Elgin ins Gesicht.

„Hu, wie theatralisch, lieber Freund!“ rief sie aus. „So kenne ich Sie ja gar nicht. Aber beruhigen Sie sich! Nie wird es Lennox einfallen, sich etwas Derartiges einzubilden …“

Elgin hob schnell den Kopf.

„Na, dann ist’s gut“, erklärte er etwas feierlich. „Ich habe es Ihnen jedenfalls gesagt. Und jetzt …“

Im Vorhaus schlug die Klingel an.

Maud sprang auf wie ein aufgescheuchter Vogel.

„Das Grammophon!“ schrie sie. „Schnell! Und Hurra müssen Sie rufen! Und … und …“

„Und trommeln und die Fahne schwenken — weiß schon, weiß schon“, lachte er. „Aber machen Sie doch endlich die Tür auf …“

Maud rannte durchs Vorzimmer, riß die Tür auf und stürzte hinaus.

„Dick! …“

Draußen stand ein altes, unscheinbares Männchen in grauem Regenmantel mit schwarzem Hut.

„Entschuldigen Sie, falls ich ungelegen komme“, sagte er bescheiden. „Wenn ich störe, komme ich lieber ein andermal wieder …“

Maud drückte die Hand auf das pochende Herz und sah den Mann enttäuscht und ärgerlich an.

„Wer sind Sie, und was wünschen Sie?“ fragte sie kühler, als es sonst ihre Art war.

„Mein Name ist Hearn“, sagte er leise, wie entschuldigend. „Ich bin Captain … Verzeihen Sie, nein: Inspektor der Kriminalpolizei, und ich möchte an Mrs. Maud Murray einige Fragen richten.“

Abteilung G.

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