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Der Dampfer hatte Verspätung. Am Kai standen eifrig plaudernd Gruppen feingekleideter Menschen, deren Gesichter im weißen Licht der großen Bogenlampen deutlich die Vorfreude des Wiedersehens mit einem lieben Menschen widerspiegelten. Hearn mit seinem abgetragenen Mantel und dem schon seit geraumer Zeit ausgedienten steifen Hut stach gegen alle diese Menschen gewaltig ab, zumal seine Miene mürrisch und unzufrieden war und durchaus nichts von seiner Freude aufs Wiedersehen mit einem lieben Menschen verriet. Man hätte ihn eher mit einem von den gähnenden Zollbeamten vergleichen können, die träge umherstanden und ab und zu bekümmert nach der Uhr sahen.

„Verspätung!“ knurrte Hearn und schüttelte tadelnd den Kopf. „Am Nachmittag sollte der Dampfer eintreffen. Dann hieß es, er hat Verspätung und kommt um zehn Uhr an. Jetzt ist es halb elf … Da haben nun die Gelehrten und Ingenieure Erfindungen über Erfindungen gemacht, sozusagen Wunderwerke von Dampfern geschaffen, und was erleben wir? So ein Dampfer hat genau so Verspätung wie die Postkutsche, mit der mein Großvater zu reisen beliebte.“

„Mit der Postkutsche wären Sie aber nicht über den Ozean gekommen“, widersprach William lächelnd.

„Erstens ist das auch gar nicht nötig“, versetzte Hearn bissig. „Wo man geboren ist, da soll man auch bleiben. Zweitens kam man früher auch über den Ozean — mit Segelschiffen, wenn ich nicht irre. Zum Beispiel Kolumbus …“ Er unterbrach sich: „Hm … Wie gefällt Ihnen der Herr dort?“

William sah flüchtig zu dem Mann hinüber, der groß und stattlich und sehr elegant gekleidet, etwas abseits von den übrigen einsam seine Zigarette rauchte.

„Ich finde nichts Auffallendes an ihm“, meinte er achselzuckend.

„Nicht? Nun, das ist Ben Hawick, ein Filmschauspieler. Keine Größe, o nein! Etwas über Mittelmaß, könnte man sagen. Und doch rennen ihm die Backfische nach, als sei er ein Weihnachtsmann. Nicht, daß ich ihn darum beneide … Mir ist im Leben nur eine nachgerannt, und da habe ich Beine gemacht, mein Freund! Es war ein scharfes Rennen, aber ich habe gesiegt: sie heiratete einen Kolonialwarenhändler … Übrigens hat dieser Hawick noch einen Nebenberuf … Entschuldigen Sie, da fällt mir etwas ein …“ Er griff hastig in seine Rocktasche und brachte einen Haufen von etwa zwanzig verknitterten Briefen zum Vorschein. Darin begann er mit beängstigender Hast zu wühlen und zu suchen.

„Was ist denn los?“ erkundigte sich William verwundert.

„Los … los …“ murmelte Hearn und suchte emsig weiter. „Leider ist gar nichts los … Wenn ich den Brief in meiner Wohnung liegen gelassen habe, können wir ohne Nichte nach Hause fahren … Ah, hier ist er! Mir fällt ein Stein vom Herzen. Also … da steht es: Erkennungszeichen große, weiße Blume im Knopfloch … Schön, was? Im Winter, wo die Blumen so teuer sind! Und wo zum Kuckuck bekomme ich jetzt eine so große, weiße Blume her? Raten Sie mir mal! Dazu sind Sie doch hier, junger Mann.“

„Wir hätten daran denken sollen …“

„Diese Bemerkung zeugt von tiefem Geist, mein Herr!“ rief Hearn giftig. „Aber sie nützt uns nichts, nein, gar nichts …“

„Sie haben also Ihre Nichte noch nie gesehen?“

Hearn blieb stehen und starrte William böse an.

„Wie schnell Sie das gemerkt haben! Ich bin erstaunt … Na, gut, wenn Ihnen nichts einfällt, muß ich selbst über den Fall nachdenken … Können Sie mir wenigstens sagen, wozu diese Kameramänner dort herumstehen?“

William lächelte plötzlich.

„Ich würde sagen, sie wollen hier etwas filmen, aber ich fürchte, mit dieser Antwort wieder Ihr Mißfallen zu erregen.“

„Sie fürchten richtig“, sagte Hearn und stapfte entschlossen auf einen jungen Mann zu, der eben seine Filmkamera richtete. William folgte ihm nicht, denn er war nicht im mindesten neugierig darauf, was hier gefilmt werden sollte. Hearn dagegen schien sich über diese Frage sehr genau unterrichten zu wollen; es dauerte eine geraume Weile, bis er sein Gespräch mit dem Filmoperateur beendete.

„Irgendein afrikanischer Würdenträger kommt an“, erklärte er William triumphierend, als er endlich zurückkam. „Ein Fürst eines halbwilden Negerstammes oder so etwas Ähnliches …“

William zuckte nur die Achseln. Er begriff Hearns Eifer nicht und konnte sich dessen frohes, zufriedenes Gesicht nicht deuten.

„Nebenbei bemerkt“, sagte Hearn jetzt sehr lebhaft, „habe ich unsere weiße Blume gefunden …“

„Wieso … wo … ich habe nichts gesehen …“

„Sehen Sie, dort, die etwas dickliche Dame mit dem zitronenfarbenen Hut … ja, dort, sie schnattert gerade … die hat gelbe Rosen, einen ganzen Strauß davon … gelb, beinah weiß … Gehen Sie bitte hin, und holen Sie mir eine …“

„Wie stellen Sie sich das vor?“ fragte William verblüfft. „Die Dame ist in Gesellschaft, und sie verkauft doch keine Blumen; sie will sie jemandem schenken …

„Ich stelle mir das ganz einfach vor“, unterbrach ihn Hearn. „Sie gehen hin, schlagen die Absätze recht laut zusammen und schmettern heraus, Sie seien der und der, und sie sehe bezaubernd und so weiter aus, und aus diesem begreiflichen Grunde wünschten Sie eine Rose …“

„Inspektor, das müssen Sie mir schon vormachen. Tut mir leid, aber etwas Derartiges bringe ich nicht fertig. Außerdem würde ich die Rose auch gar nicht bekommen.“

„So? Würden sie nicht bekommen? Wetten, daß ich sie bekomme?“ rief Hearn eigensinnig.

Mißtrauisch und etwas besorgt blickte William dem kleinen Mann nach, wie er sich mit entschlossenen Schritten der eleganten Gesellschaft näherte. Jetzt stand er vor der Dame mit den Blumen, jetzt lüftete er seinen ausgedienten Hut und sprach auf sie ein. Sie hörte ihm aufmerksam zu, und einmal blickte sie schnell auf und sah William an. Daraufhin wandte er sich hastig um und wagte nicht mehr, hinüberzublicken. Er atmete erst erleichtert auf, als Hearn neben ihm stand, im Knopfloch eine gelbe Rose.

„Was habe ich Ihnen gesagt?“ fragte der Inspektor mit einem zufriedenen Lächeln. „Die Rose ist da!“

„Wie haben Sie das gemacht?“

„Sehr einfach. Ging hin, stellte mich vor, sagte, Sie seien zwar noch ein junger Offizier, aber mit der Zeit würden Sie noch General werden, und Sie bewunderten die Dame schon die ganze Zeit, aber Sie seien von Natur schüchtern und wagten daher nicht, ihre bescheidene Bitte um eine der herrlichen Blumen vorzubringen. Nun, sie freute sich sehr, lächelte und gab mir die Rose. Sie sehen, kein Kunststück, keine Zauberei, keine Hypnose …’

„Und dann steckten Sie die Blume in Ihr Knopfloch?“ rief William entsetzt. Er glaubte Hearn kein Wort, aber allein die Vorstellung, der kleine Inspektor könne so gehandelt haben, machte ihn erbleichen.

„Natürlich. Meine Nichte soll doch mich und nicht Sie für ihren Onkel halten. Doch genug davon … Da! Sehen Sie die Lichter? Unser Dampfer kommt! Nehmen Sie sich zusammen. Sie sind hier, um mir zu helfen, meine Nichte würdig zu empfangen.“

William seufzte und gab es auf, Hearn zu widersprechen. Im stillen nahm er sich vor, ihn mit seiner Nichte so schnell wie möglich nach Hause zu schaffen und dann sofort zu verschwinden. Dieser kleine Inspektor mit seinen unberechenbaren Launen und Einfällen ging ihm auf die Nerven, und er beneidete seinen Bruder nicht, der unter diesem Vorgesetzten zu arbeiten hatte.

Der Dampfer hatte angelegt, und auf dem Kai wurde es lebendig. Alles drängte vor, jeder war ungeduldig und wollte als erster die Seinen begrüßen. Aber noch dauerte es eine Weile, ehe die ersten Fahrgäste die Zollschranken passierten. Nun aber wurde das Bild ganz bunt und wirr. Hier lagen sich Menschen in den Armen, bald schluchzend, bald lachend, dort sprachen andere eifrig mit glühenden Wangen aufeinander ein, als müßten sie unbedingt in diesen ersten Minuten alles berichten, was während jahrelanger Trennungszeit geschehen war.

Wie ein kleiner Felsblock inmitten brandender Wogen stand Hearn da und ließ seine winzigen Augen bald hierhin, bald dorthin wandern. Suchte er seine Nichte? Aber er kümmerte sich auch um Menschen, die bestimmt nicht seine Nichte sein konnten. Nichts schien er übersehen zu wollen, nichts war ihm so unwichtig, daß es sich nicht verlohnt hätte, einen prüfenden Blick darauf zu werfen. Seine Nichte? Er hatte die Brust, an der die Blume prangte, stolz vorgedrückt und überließ es dieser Rose, seine Nichte zu suchen.

Plötzlich gab es unweit von Hearn und William ein lautes Geschrei. Sofort wandte sich der Inspektor der Gegend zu, aus der diese auffallenden Laute kamen. Umringt von Neugierigen stand da der Filmschauspieler Ben Hawick neben einem Herrn mit sonnenverbranntem Gesicht, der eine hellgelbe Ledertasche in der Hand hielt. Aber Hawick kümmerte sich im Augenblick nicht um diesen Herrn; er war im Streit mit einem der Filmoperateure — gerade mit dem, der Hearn Auskunft erteilt hatte.

„Sie haben uns gefilmt!“ schrie Ben Hawick. „Ich verlange, daß Sie mir sofort die Filme aushändigen … Wie kommen Sie dazu, uns ohne unsere Erlaubnis hier einfach zu filmen, Sie …“

„Er wird Sie mit dem afrikanischen Würdenträger verwechselt haben!“ rief Hearn mit seinem dünnen Stimmchen dazwischen.

„Ich habe Sie nicht gefragt!“ schnaubte Hawick. „Also was ist? Geben Sie den Film heraus oder …“

Der Operateur wollte etwas antworten, aber Hearn drängte sich jetzt entschlossen vor.

„Sie haben zwar wieder nicht mich gefragt, Mr. Hawick“, sagte er freundlich, „aber ich will Ihnen dennoch antworten … antworten und helfen. Sie sollen Ihren Film bekommen. Ich bürge dafür. Ich, Captain … nein, Inspektor Hearn von der Kriminalabteilung. Ich beschlagnahme den Film … Im Namen des Gesetzes … Nein, junger Mann, nehmen Sie den Film nicht heraus. Ich möchte lieber den ganzen Apparat haben. Der Film könnte sonst beschädigt werden, und wir möchten doch wissen, ob Sie wirklich diese beiden Herren aufgenommen haben …“

„Ich protestiere!“ schrie Ben Hawick .„Ich habe keine Lust, meine Bilder in den Fingern der Kriminalpolizei zu sehen …“

„Das kann ich sehr gut verstehen“, antwortete Hearn ruhig und bescheiden. „Jedoch — und das ist wesentlich, Mr. Hawick — manchmal geht es danach, ob die Kriminalpolizei Lust hat oder nicht. Sie begreifen hoffentlich ebenso gut wie ich?“

„Wir sprechen uns wieder!“ sagte Hawick wütend, dann wandte er sich hastig um und war im nächsten Augenblick im Menschengewühl verschwunden.

„Inspektor“, meinte William ratlos, als er sich neben Hearn durch die Reihen der Neugierigen zwängte. „Ich verstehe Sie immer weniger. Sie kommen hierher, um Ihre Nichte abzuholen, und dabei mischen Sie sich in höchst unwichtige Dinge ein …“

Hearn lächelte vergnügt und klopfte munter auf den Apparat, den er sich umgehängt hatte.

„Unwichtig? Haben Sie eine Ahnung, wie wichtig es für uns ist, gleich ein Lichtbild des Mannes zu haben, der besonders aus England geholt wurde, um die berüchtigte Bande Mc Carthys zu neuen Taten zu inspirieren. Leider wußten wir nicht, wann und auf welchem Wege er hierher kommen würde. Sonst hätten unsere eigenen Kameraleute ihn hier erwartet … Hm … Schauen Sie mal dorthin … Das junge Mädchen blickt immer meine Blume an. Scheint nicht zu wissen, ob sie weiß oder gelb ist. Wollen Sie nicht hingehen und ihr sagen, daß dies eine große, weiße Blume sein soll?“

„Ja, das will ich“, sagte William, denn er fürchtete, falls er ablehnte, würde Hearn es selbst tun und damit irgendwelche neuen Unannehmlichkeiten heraufbeschwören.

Neben drei Koffern von eindrucksvollen Ausmaßen stand im weißen Regenmantel ein schlankes junges Mädchen, dessen Gesicht blaß und abgespannt aussah. Unter dem kleidsamen schwarzen Hut hervor blickten William zwei blaue Augen ratlos und ängstlich entgegen. Hearns schlimmste Befürchtungen trafen zu, dachte William ein wenig schadenfroh, als er so nahe war, daß er nun auch die feinen Linien ihres Gesichtes und an den Seiten des Hutes das blonde, wellige Haar erkennen konnte.

„Sind Sie vielleicht die Nichte Inspektor Hearns?“ fragte er, nachdem er sich vorgestellt hatte

Freudig sah sie zu ihm auf und nickte schnell.

„Ja, und Sie sind …“

„Nein, ich bin nicht Ihr Onkel“, sagte er lächelnd.

„Ach, natürlich … Mein Onkel ist doch viel älter … Wie konnte ich das vergessen … Der Herr dort ist es?“

„Ja, der Herr dort“, antwortete William und winkte Hearn zu.

„Und Sie …?“ fragte sie erneut.

„Ach so … Ich … ich bin ein guter Bekannter … ja … Ihres Onkels …“

„Ist sie es?“ fragte Hearn, der inzwischen herbeigekommen war und musterte das Mädchen prüfend von oben bis unten. Seine Miene wurde dabei finster.

„Sie ist es“, bestätigte William.

„Meine liebe Nichte“, begann Hearn salbungsvoll. „Edith … So heißt du ja wohl … Hm … also, meine liebe Edith, ich begrüße dich … Bück dich … Na, so bück dich doch … Ich will dir einen Kuß auf die Stirn geben … So … Es ist ja ganz nett, daß du zu deinem Onkel gekommen bist … gewiß … wenn man es so betrachtet, ein naheliegender Gedanke … Aber wenn du in London geblieben wärst …“

„Verzeihen Sie“, fiel ihm William rasch ins Wort. „Sie haben mich gebeten, mitzukommen, damit ich Ihnen beistehe, Ihre Nichte würdig zu empfangen. So, wie Sie’s machen, ist es falsch. Das arme Kind bekommt ja Angst …“

„Ja, was soll ich denn tun?“ fragte Hearn stirnrunzelnd.

„Freuen sollen Sie sich!“

„Soll ich vielleicht einen Indianertanz aufführen? Und wieso soll ich mich freuen, wenn ich mich gar nicht freue? Ich möchte wissen …“

„Du freust dich gar nicht?“ fragte Edith enttäuscht. „Nicht ein bißchen …?“

Hearn wurde plötzlich verlegen und konnte ihr nicht in die Augen sehen.

„Na, ja … Nicht ein bißchen ist etwas übertrieben. Sicherlich … Ich freue mich … ja … aber in mäßigen Grenzen …“ Er atmete auf, sichtlich zufrieden mit dieser Lösung der peinlichen Frage.

Plötzlich lachte Edith hell auf. Sie sah das runzlige, jetzt rötlich angelaufene Gesicht ihres kleinen Onkels an und lachte.

„Lieber, guter Onkel“, sagte sie. „Ich habe dich schon jetzt lieb …“

„Lieb? Lieb?“ wiederholte er verwundert. „Was sind das für Ausdrücke? Die passen fürs Kino, aber nicht hierher … Dein Onkel ist ein würdiger, alter Mann, dessen einzige Haarsträhne in Ehren grau geworden ist, und es ist nicht schön, wenn du in solch spaßigen Ausdrücken deinem jugendlichen Übermut die Zügel schießen läßt … Mr. Elgin, besorgen Sie uns bitte ein Taxi …“

Abteilung G.

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