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Die Stimme als vokale Nabelschnur

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Neben der Haut, dem Atem, der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung ereignet sich eine weitere Grundbewegung einer Weltbeziehung, die sich des Atems und des Kehlkopfs bedient, um die Stimme des Menschen als „Fingerabdruck seiner Seele“ hörbar zu machen. Mit ihr tritt ein Mensch mit der Welt in Verbindung und lädt diese zum Antworten ein. Eine Variante jüdischer Tradition sieht deshalb im Kehlkopf den Sitz der menschlichen Seele; seine vornehmste Aufgabe besteht demnach darin, ihr eine Stimme zu geben und dabei darauf zu achten, dass beim Sprechen die Grundmelodie stimmt, der Ton hinter den Worten und zwischen den Zeilen dem Gesagten nicht entgegensteht. So betrachtet, dürfen wir die Stimme eines Menschen als „hörbar gemachte Atmung“ verstehen, sie im besten Sinne des Wortes als ein hauchendes, ein „spirituelles“ (lat. „spirare“ – atmen) Geschehen verstehen und „Spiritualität“ – jenes verletzliche und oft viel zu schnell verstandene und von allen möglichen Gruppen vereinnahmte Wort – als Hilferuf begreifen, in dieser (kalten) Welt nicht allein gelassen zu werden.

Als so verstandenen Ausdruck des Seelischen führt die Stimme den Menschen immer zu sich selbst und gleichzeitig über sich selbst hinaus. Wie der Körper die Luft zum Atmen braucht, braucht die Seele, um durch und durch lebendig zu bleiben, die „Ekstase“, das Aus-sich-Herausgehen, die Mit-Teilung, die Möglichkeit und Fähigkeit, sich anderen mitzuteilen und an deren Leben teilzuhaben.

In der menschlichen Entwicklung macht das Kind die elementare Erfahrung, dass es über ein Organ verfügt, durch dessen Gebrauch es eine Wirkung in der Welt hervorruft. Nach und nach lernt es, diese Wirkung als eine Antwort zu verstehen, die nicht mechanisch nach dem Ursache-Wirkung-Schema erfolgt, sondern in aller Regel einen entgegenkommenden Charakter trägt. Seine Stimme lockt die Mutter herbei und führt zu liebevoller Berührung, zu Streicheln, Körperkontakt und vor allem auch Nahrung. „Die Stimme sichert die Entbehrlichkeit der Blutgemeinschaft, sofern sie die Herbeirufbarkeit von Milch bedeutet. Draußensein heißt Rufenkönnen. Ich rufe, also bin ich. Dasein bedeutet von diesem Moment an im Erfolgsraum der eigenen Stimme existieren“, formuliert Peter Sloterdijk und vermutet in diesem Zusammenhang den Ursprung menschlicher Sprach- und Symbolfähigkeit: „So setzt die Symbolgenese wie auch die Ichbildung durch Stimmbildung ein; mit gutem Recht haben Thomas Macho und andere der Stimme, die zum Ohr der Mutter führt, Eigenschaften einer vokalen Nabelschnur zugeschrieben.“19

Der deutsche Philosoph Bernhard Waldenfels (geb. 1934) erkennt in der leiblichen Resonanzfähigkeit, welche die Stimme des anderen im eigenen Leib mittönen lässt (und umgekehrt), eine Voraussetzung dafür, dass die Stimme zu einem „Antwortregister“ werden kann. So wird der innere Zusammenhang von Stimme und Stimmung deutlicher und das Hören der fremden Stimme im Hörenden bewirkt ein schweigendes Mittönen der gehörten Stimme. Diesen Resonanzeffekt erleben Menschen auch, wenn sie ihre eigene Stimme auf Tonträgern hören. Beim Sprechen oder Singen hören sie sich selbst mit dem inneren und dem äußeren Ohr, während sie ihre eigene Stimme auf Tonträgern nur von außen hören, was einige Menschen irritiert und verunsichert. Diese Verdoppelung der Wahrnehmung ist ein wesentliches Merkmal der menschlichen Stimme und die von der Stimme gestifteten Resonanzbeziehungen erweisen sich wiederum als doppelseitig zwischen Leib und Seele einerseits und zwischen Subjekt und Welt andererseits. Beide Male treten hier physische und symbolische Resonanzen miteinander in Wechselwirkung. „Nimmt man an, dass der ganze Kosmos beseelt ist, so kann die Seele auf gewisse Weise in alles einstimmen, so wie in der grauen Vorzeit laut Platon Menschen mit Tieren redeten und sogar philosophierten.“20

Nirgendwo sonst lässt sich dies so unmittelbar erfahren wie beim gemeinsamen Singen, und vermutlich liegt eben hierin die anhaltende Attraktivität des Chorsingens. Wer sich daran beteiligt, erfährt in den gelingenden Momenten eine „Tiefenresonanz“ zwischen seinem Körper und seiner mentalen Befindlichkeit zum Ersten, zwischen sich und den Mitsingenden zum Zweiten sowie die Ausbildung eines kollektiv geteilten physischen Resonanzraumes (in der Kirche oder im Konzertsaal etc.) zum Dritten. Die aus der Steiermark stammende und in Wien lebende Sängerin und Gesangslehrerin Eva Campbell-Haidl hat diesem Resonanzthema einen Kanon gewidmet, dessen Textinhalt der dreistimmigen Melodie um nichts nachsteht: „I sing mit dir, wal i des wü, kana alan kummt zu so an G’füh.“ („Ich singe mit dir, weil ich das will, niemand kommt alleine zu so einem Gefühl.“)21

Der ermutigte Mensch

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