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Ein Skandal in Böhmen I

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Für Sherlock Holmes bleibt sie immer die Frau. Selten habe ich ihn sie mit einem anderen Namen erwähnen hören. In seinen Augen überstrahlt und beherrscht sie ihr gesamtes Geschlecht. Keineswegs war es so, daß er für Irene Adler eine mit Liebe verwandte Empfindung gehegt hätte. Alle Gefühle, und dieses ganz besonders, waren seinem kalten, genauen, aber wundervoll ausgewogenen Geist zuwider. Für mich war er die vollkommenste Denk- und Beobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat; als Liebhaber hätte er sich jedoch in eine falsche Position begeben. Über die sanfteren Leidenschaften sprach er niemals anders denn mit einer höhnischen oder spöttischen Bemerkung. Als Beobachter kamen ihm diese Regungen prächtig zupaß – sie eigneten sich vorzüglich dazu, den Schleier über den Beweggründen und Handlungen der Menschen zu lüften. Dem geübten Denker hingegen wäre das Zulassen solcher Einflüsse in sein kompliziertes und feinstens austariertes Seelenleben gleichbedeutend gewesen mit der Einführung eines Ablenkungsfaktors, der all seine geistigen Erträge zweifelhaft machen mußte. Sand in einem empfindlichen Instrument oder ein Sprung in einem seiner starken Vergrößerungsgläser könnten für eine Natur wie die seine nicht störender sein als eine starke Gefühlsregung. Und dennoch gab es für ihn nur eine Frau, und diese Frau war die inzwischen verstorbene Irene Adler, zweifelhaften und fragwürdigen Angedenkens.

In letzter Zeit hatte ich Holmes kaum zu Gesicht bekommen. Meine Heirat hatte uns auseinandertreiben lassen. Mein vollkommenes Glück und die auf die unmittelbare Umgebung bezogenen Interessen, die dem Mann erwachsen, der sich erstmals Herr eines eigenen Hausstands findet, reichten aus, um meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen; Holmes dagegen, der jede Form von Gesellschaft mit seiner ganzen Bohème-Seele verabscheute, blieb in unserer Behausung in der Baker Street, vergrub sich zwischen seinen alten Büchern und verbrachte die Wochen abwechselnd mit Kokain und Ehrgeiz, der Schläfrigkeit der Droge und der unbezähmbaren Tatkraft seines lebhaften Wesens. Wie zuvor zog ihn das Studium des Verbrechens zutiefst an, und er verwandte seine gewaltigen Geistesgaben und seine außerordentlichen Beobachtungskünste darauf, jenen Hinweisen nachzugehen und jene Rätsel zu lösen, die von der Polizei als hoffnungslos aufgegeben worden waren. Von Zeit zu Zeit hörte ich vage Berichte über seine Taten: Über seine Einladung nach Odessa im Mordfall Trepoff, seine Aufklärung der einzigartigen Tragödie der Brüder Atkinson in Trincomalee, schließlich über den Auftrag, den er für das holländische Herrscherhaus mit so viel Feingefühl und Erfolg erfüllte. Über diese Anzeichen seiner Aktivität hinaus, an denen ich den gleichen Anteil hatte wie alle Leser der Tagespresse, wußte ich jedoch kaum etwas über meinen früheren Freund und Gefährten.

Eines Abends – es war der 20. März 1888 – kehrte ich eben von der Fahrt zu einem Patienten zurück (denn ich hatte wieder im zivilen Bereich zu praktizieren begonnen), als mein Weg mich durch die Baker Street führte. Beim Passieren der wohlbekannten Tür, die in meinem Herzen stets mit der Zeit meines Werbens und mit den düsteren Ereignissen im Zusammenhang mit der Studie in Scharlachrot verbunden sein wird, befiel mich der lebhafte Wunsch, Holmes wiederzusehen und zu erfahren, worauf er zur Zeit seine außergewöhnlichen Fähigkeiten verwandte. Seine Räume waren strahlend hell erleuchtet, und noch als ich emporschaute, sah ich seine große hagere Gestalt zweimal als dunkle Silhouette an der Gardine vorbeigehen. Er schritt schnell und versunken im Raum auf und ab, das Kinn auf der Brust, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Mir, der ich alle seine Stimmungen und Angewohnheiten kannte, erzählten seine Haltung und sein Verhalten ihre Geschichte. Er war wieder bei der Arbeit. Er hatte sich aus den von der Droge erschaffenen Träumen erhoben und war einem neuen Problem eng auf der Fährte. Ich zog an der Türglocke und wurde zu dem Zimmer emporgeführt, das früher teilweise mein eigenes gewesen war.

Er war nicht gerade überschwenglich. Das war er selten; ich glaube aber, daß er sich freute, mich zu sehen. Fast ohne ein Wort zu sagen, aber mit freundlichen Blicken wies er mir einen Lehnstuhl an, warf mir seine Zigarrenkiste zu und deutete auf eine Ecke, in der sich ein Kabinett mit alkoholischen Getränken und eine Flasche Sodawasser2 befanden. Dann stand er vor dem Kamin und musterte mich in seiner merkwürdig eindringlichen Weise.

»Der Ehestand bekommt Ihnen gut«, bemerkte er. »Ich glaube, Sie haben siebeneinhalb Pfund zugenommen, seit ich Sie zuletzt gesehen habe, Watson.«

»Sieben«, gab ich zurück.

»So? Ich hätte gedacht, es wäre ein wenig mehr. Natürlich nur ein kleines bißchen mehr, schätze ich, Watson. Und Sie praktizieren wieder, wie ich sehe. Sie haben mir doch gar nichts davon erzählt, daß Sie wieder in die Sielen steigen wollten.«

»Woher wissen Sie es dann?«

»Ich sehe es, ich deduziere es. Woher weiß ich denn wohl, daß Sie vor kurzem sehr naß geworden sind und daß Sie ein sehr ungeschicktes und unaufmerksames Dienstmädchen haben?«

»Mein lieber Holmes«, sagte ich, »das ist mir zu hoch. Wenn Sie vor ein paar Jahrhunderten gelebt hätten, wären Sie bestimmt verbrannt worden. Ich habe zwar am Donnerstag einen Spaziergang über Land gemacht und schlimm ausgesehen, als ich nach Hause kam; da ich aber meine Kleidung gewechselt habe, weiß ich wirklich nicht, wie Sie das deduziert haben. Was Mary Jane angeht, die ist unverbesserlich, und meine Frau hat ihr gekündigt; aber auch hier begreife ich nicht, wie Sie dahintergekommen sind.«

Er lachte in sich hinein und rieb seine langen, nervigen Hände.

»Nichts einfacher als das«, sagte er; »meine Augen sagen mir, daß auf der Innenseite Ihres linken Schuhs, gerade dort, wo das Licht des Feuers hinfallt, das Leder von sechs fast parallelen Streifen markiert ist. Offensichtlich stammen sie daher, daß jemand um die Kanten der Sohle herum gekratzt hat, um verkrusteten Lehm zu entfernen. Daher also meine doppelte Deduktion, daß Sie bei üblem Wetter unterwegs gewesen sind, und. daß Sie es mit einem besonders schlimmen schuhschänderischen Exemplar der Gattung Londoner Kratzbürste zu tun haben. Was Ihr Praktizieren angeht – wenn ein Gentleman meine Räumlichkeiten betritt, nach Jodoform riecht, am rechten Zeigefinger einen schwarzen Silbernitratfleck hat und eine Ausbuchtung an der Seite seines Zylinders mir zeigt, wo er sein Stethoskop versteckt, dann müßte ich wirklich stumpfsinnig sein, wenn ich ihn nicht zum aktiven Mitglied der ärztlichen Zunft erklärte.«

Die Mühelosigkeit, mit der er seinen Deduktionsprozeß erläuterte, brachte mich zum Lachen. »Wenn ich höre, wie Sie Ihre Gründe anführen«, bemerkte ich, »scheint mir die Sache immer so lächerlich einfach, daß ich es leicht selbst machen könnte, und trotzdem bin ich bei jedem neuen Beweis Ihrer Denkprozesse wieder verblüfft, bis Sie mir die Einzelschritte erklären. Und bei alledem glaube ich immer noch, daß meine Augen ebenso gut sind wie Ihre.«

»Sicher sind sie es«, antwortete er; er zündete eine Zigarette an und warf sich in einen Lehnsessel. »Sie sehen, aber Sie beobachten nicht. Der Unterschied ist klar. Zum Beispiel haben Sie doch die Stufen, die von der Diele zu diesem Raum heraufführen, häufig gesehen.«

»Oft.«

»Wie oft?«

»Also, einige hundert Mal.«

»Und wie viele sind es?«

»Wie viele! Das weiß ich nicht.«

»Sehen Sie? Sie haben nicht beobachtet. Und trotzdem haben Sie gesehen. Darauf wollte ich hinaus. Nun, ich dagegen weiß, daß es siebzehn Stufen sind, weil ich sie sowohl gesehen als auch beobachtet habe. Übrigens: Da Sie sich für diese kleinen Probleme interessieren und da Sie so freundlich waren, eine oder zwei von meinen nebensächlichen Erfahrungen aufzuzeichnen, könnte es sein, daß das hier Sie interessiert.« Er warf mir ein Blatt dicken, rosafarbenen Briefpapiers zu, das offen auf dem Tisch gelegen hatte. »Das ist mit der letzten Post gekommen«, sagte er. »Lesen Sie es laut.«

Die Note trug weder Datum noch Unterschrift, noch Adresse.

»›Heute abend um Viertel nach acht wird ein Gentleman Sie aufsuchen, der Sie in einer Angelegenheit von allergrößter Bedeutung zu konsultieren wünscht. Ihre jüngsten Dienste an einem der Königshäuser Europas haben gezeigt, daß Ihnen unbesorgt Angelegenheiten anvertraut werden können, deren Bedeutsamkeit kaum zu übertreiben ist. Diese Einschätzung Ihrer Person haben wir allenthalben vorgefunden. Seien Sie also zur genannten Stunde in Ihren Räumen, und nehmen Sie keinen Anstoß daran, daß Ihr Besucher möglicherweise eine Maske trägt3.‹ – Das ist wirklich mysteriös«, bemerkte ich. »Haben Sie eine Vorstellung davon, was es bedeuten könnte?«

»Ich habe noch keine Tatsachen. Es ist ein schwerer Fehler, Theorien aufzustellen, bevor man Tatsachen hat. Dann fängt man unmerklich an, die Tatsachen zu verdrehen, bis sie zu den Theorien passen, statt die Theorien den Tatsachen anzupassen. Aber die Note selbst. Was können Sie daraus ableiten?«

Sorgfältig untersuchte ich den Text und das Papier, auf dem er geschrieben war.

»Der Mann, der das geschrieben hat, ist vermutlich wohlhabend«, bemerkte ich; ich versuchte, die Denkprozesse meines Gefährten zu imitieren. »Solch ein Papier bekommt man nicht unter einer halben Krone pro Päckchen. Es ist eigenartig dick und steif.«

»Eigenartig – das ist genau das Wort«, sagte Holmes. »Es ist gar kein englisches Papier. Halten Sie es vor das Licht.«

Ich hielt es hoch und sah ein großes E mit einem kleinen g, ein P und ein großes G mit einem kleinen t ins Papier eingewirkt.

»Was schließen Sie daraus?« fragte Holmes.

»Das ist ohne Zweifel der Name des Herstellers; oder eher sein Monogramm.«

»Keineswegs. Das G mit dem kleinen t steht für das deutsche Wort ›Gesellschaft‹. Die Abkürzung ist so üblich wie unser Co. für Company. P steht natürlich für ›Papier‹. Nun zu dem Eg. Werfen wir einen Blick in unser Handbuch des Kontinents.« Er nahm einen schweren braunen Band aus dem Regal. »Egeln, Egelsee – da haben wir's, Eger. Es liegt in einem deutschsprachigen Land – in Böhmen, nicht weit von Karlsbad entfernt. ›Bekannt als Schauplatz von Wallensteins Tod sowie für seine zahlreichen Glasbläsereien und Papiermühlen.‹ Ha, ha, mein Junge, was halten Sie davon?« Seine Augen sprühten, und von seiner Zigarette ließ er eine große blaue Wolke des Triumphs aufsteigen.

»Das Papier ist in Böhmen hergestellt worden«, sagte ich.

»Genau. Und der Mann, der darauf geschrieben hat, ist ein Deutscher. Fällt Ihnen der merkwürdige Satzbau auf – ›Diese Einschätzung Ihrer Person haben wir allenthalben vorgefunden‹? Kein Franzose oder Russe könnte das geschrieben haben. Nur der Deutsche ist seinen Verben gegenüber so unhöflich. Also bleibt nun nur noch zu entdecken, was dieser Deutsche will, der auf böhmischem Papier schreibt und lieber eine Maske trägt als sein Gesicht zeigt. Und da kommt er schon, wenn ich mich nicht irre, um uns aus allen Zweifeln zu erlösen.«

Noch während er sprach, hörten wir deutlich den harten Klang von Pferdehufen und Wagenräder, die am Bordstein entlangknirschten, gefolgt von einem scharfen Läuten der Türglocke. Holmes pfiff.

»Doppelgespann, dem Klang nach«, sagte er. »Ja«, meinte er dann, als er aus dem Fenster schaute. »Ein nettes kleines Coupé und ein Paar schöner Tiere. Einhundertfünfzig Guineen pro Stück. In diesem Fall steckt Geld, Watson, wenn auch vielleicht sonst nichts.«

»Ich glaube, ich gehe wohl besser nach Hause, Holmes.«

»Kommt nicht in Frage, Doktor. Bleiben Sie, wo Sie sind. Ohne meinen Eckermann bin ich verloren. Und die Sache verspricht, interessant zu werden. Es wäre ein Jammer, wenn sie Ihnen entginge.«

»Aber Ihr Klient ...«

»Kümmern Sie sich nicht um ihn. Ich könnte Ihre Hilfe benötigen, und er vielleicht auch. Da kommt er. Setzen Sie sich in diesen Lehnstuhl da, Doktor, und schenken Sie uns Ihre ganze Aufmerksamkeit.«

Ein langsamer, schwerer Schritt, den wir schon auf der Treppe und im Korridor gehört hatten, hielt unmittelbar vor der Tür inne. Dann folgte ein lautes, gebieterisches Klopfen.

»Herein!« sagte Holmes.

Ein Mann trat ein, der kaum kleiner als sechs Fuß sechs Zoll sein konnte, mit Brust und Gliedern eines Herkules. Seine Kleidung war in einer Weise kostbar, die in England als schlechter Geschmack gegolten hätte. Sein zweireihiger Rock war vorn und an den Ärmeln mit schweren Streifen von Astrachanpelz besetzt, während der tiefblaue Umhang, den er über die Schultern geworfen hatte, von flammenfarbener Seide gesäumt und am Hals mit einer Brosche befestigt war, die aus einem einzigen lodernden Beryll bestand. Stiefel, die bis zur Hälfte seiner Waden reichten und deren Schäfte mit schwerem braunem Pelz geschmückt waren, vervollständigten den Eindruck barbarischen Reichtums, der von seiner ganzen Erscheinung ausging. Er trug einen breitkrempigen Hut in der Hand, und die obere Hälfte seines Gesichts bis unterhalb der Wangenknochen war mit einer schwarzen visierartigen Maske bedeckt, die er anscheinend eben erst zurechtgerückt hatte, denn als er eintrat, lag seine Hand noch an der Larve. Dem unteren Teil seines Gesichts nach schien er ein Mann mit kraftvollem Charakter zu sein, mit schwerer, hängender Unterlippe und einem geraden, ausgeprägten Kinn, das Entschlossenheit bis hin zur Starrköpfigkeit andeutete.

»Sie haben meine Note erhalten?« fragte er mit einer schroffen, tiefen Stimme und einem sehr merklichen deutschen Akzent. »Ich habe Ihnen geschrieben, ich würde kommen,« Er blickte zwischen uns hin und her, als sei er unsicher, an wen er sich wenden solle.

»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte Holmes: »Das ist mein Freund und Kollege Dr. Watson, der bisweilen so freundlich ist, mir bei meinen Fällen zu helfen. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Sie können mich Baron von Kramm nennen; ich bin ein böhmischer Edelmann. Ich nehme an, dieser Gentleman, Ihr Freund, ist ein Mann von Ehre und Verschwiegenheit, dem ich in einer Angelegenheit von allergrößter Bedeutung trauen kann. Falls nicht, zöge ich es vor, mit Ihnen allein zu sprechen.«

Ich erhob mich, um zu gehen, aber Holmes ergriff mein Handgelenk und drückte mich wieder in meinen Stuhl. »Beide oder keiner«, sagte er. »Alles, was Sie mir zu sagen haben, können Sie auch vor diesem Gentleman sagen.«

Der Graf zuckte mit seinen breiten Schultern. »Dann muß ich beginnen«, sagte er, »indem ich Sie beide für zwei Jahre zu absoluter Geheimhaltung verpflichte; nach dieser Zeit wird die Angelegenheit keinerlei Bedeutung mehr haben. Gegenwärtig übertreibe ich nicht, wenn ich sage, daß sie von einem solchen Gewicht ist, daß sie die europäische Geschichte beeinflussen könnte.«

»Ich verspreche es«, sagte Holmes.

»Ich ebenfalls.«

»Sie werden diese Maske entschuldigen«, fuhr unser seltsamer Besucher fort. »Die erhabene Person, in deren Diensten ich stehe, wünscht, daß ihr Agent Ihnen unbekannt bleibe, und ich will gleich zugeben, daß der Titel, mit dem ich mich Ihnen eben vorgestellt habe, nicht wirklich der meine ist.«

»Das war mir klar«, sagte Holmes trocken.

»Die Umstände sind überaus heikel, und man hat alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen, um etwas im Keime zu ersticken, was sich zu einem ungeheuren Skandal auswachsen und eine der herrschenden Familien Europas ernstlich kompromittieren könnte. Um es deutlich zu sagen, die Angelegenheit betrifft das hohe Haus Ormstein, das Haus der erblichen Könige von Böhmen.«

»Auch das war mir klar«, murmelte Holmes; er machte es sich in seinem Lehnstuhl bequem und schloß die Augen.

Unser Besucher betrachtete mit offensichtlicher Überraschung die matt daliegende Gestalt des Mannes, der ihm ohne Zweifel als der schärfste Denker und energischste Detektiv Europas dargestellt worden war. Holmes öffnete seine Augen langsam wieder und sah seinen riesigen Klienten ungeduldig an.

»Wenn Sie sich dazu herablassen wollten, Ihr Anliegen darzulegen, Majestät«, bemerkte er, »könnte ich Sie besser beraten.«

Der Mann sprang aus seinem Sessel auf und begann, in nicht zu unterdrückender Erregung im Raum hin und her zu gehen. Mit einer Gebärde der Verzweiflung riß er sich schließlich die Maske vom Gesicht und schleuderte sie zu Boden. »Sie haben Recht«, rief er, »ich bin der König. Wozu sollte ich versuchen, es zu verheimlichen?«

»Tatsächlich, wozu?« murmelte Holmes. »Ihre Majestät hatten noch nichts gesagt, als mir schon klar war, daß ich mit Wilhelm Gottsreich Sigismund von Ormstein, dem Großherzog von Kassel-Falstein und erblichen König von Böhmen sprach.«

»Sie werden aber verstehen«, sagte unser seltsamer Besucher, wobei er sich wieder niederließ und mit der Hand über seine hohe weiße Stirn fuhr, »Sie werden verstehen, daß ich nicht daran gewöhnt bin, solche Geschäfte persönlich abzuwickeln. Die Sache ist jedoch so heikel, daß ich sie keinem Beauftragten anvertrauen konnte, ohne mich ihm dadurch auszuliefern. Ich bin incognito aus Prag hergekommen, um Sie zu konsultieren.«

»Dann konsultieren Sie doch bitte«, sagte Holmes; er schloß seine Augen wieder.

»Dies sind zusammengefaßt die Umstände: Vor etwa fünf Jahren lernte ich während eines längeren Aufenthalts in Warschau die bekannte Abenteurerin Irene Adler kennen. Sie haben diesen Namen sicherlich schon gehört.«

»Suchen Sie sie doch bitte in meinem Index, Doktor«, murmelte Holmes, ohne die Augen zu öffnen. Vor vielen Jahren hatte er sich ein System zurechtgelegt, um alle Daten über Personen und Dinge übersichtlich zu erfassen, so daß es schwierig war, ein Thema oder einen Menschen zu erwähnen, zu dem er nicht sogleich Informationen liefern konnte. In diesem Fall fand ich ihre Biographie eingeklemmt zwischen der eines Rabbiners und der eines Stabscommanders, der eine Monographie über Tiefseefische geschrieben hatte.

»Lassen Sie mal sehen«, sagte Holmes. »Hm! Geboren in New Jersey im Jahre 1858. Kontra-Alt – hm! La Scala, hm! Primadonna der Kaiserlichen Oper Warschau – Ja! Rücktritt von der Opernbühne – ha! Lebt in London – aha, genau! Wenn ich mich nicht irre, Majestät, haben Sie sich mit dieser jungen Person eingelassen, ihr einige kompromittierende Briefe geschrieben, und nun wünschen Sie, diese Briefe zurückzubekommen.«

»Das ist richtig. Aber wie ...«

»Hat es eine geheime Eheschließung gegeben?«

»Nein.«

»Keine rechtsgültigen Papiere oder Urkunden?«

»Keine.«

»Dann kann ich Majestät nicht folgen. Wenn diese junge Person Ihre Briefe für eine Erpressung oder andere Zwecke sollte benutzen wollen, wie soll sie ihre Echtheit beweisen?«

»Die Handschrift.«

»Ah, bah! Fälschung.«

»Mein privates Briefpapier.«

»Gestohlen.«

»Mein persönliches Siegel.«

»Nachgemacht.«

»Meine Photographie.«

»Gekauft.«

»Wir sind beide auf der Photographie zu sehen.«

»O du liebe Güte! Das ist sehr schlimm! Majestät haben da wirklich eine Indiskretion begangen.«

»Ich war verrückt – wahnsinnig.«

»Sie haben sich ernstlich kompromittiert.«

»Ich war damals nur Kronprinz. Ich war jung. Ich bin heute erst dreißig.«

»Das Bild muß beschafft werden.«

»Wir haben es versucht und sind gescheitert.«

»Majestät müssen bezahlen. Man wird es kaufen müssen.«

»Sie will es nicht verkaufen.«

»Dann muß man es stehlen.«

»Fünf Versuche sind unternommen worden. Zweimal haben Einbrecher, die in meinem Sold standen, ihr Haus durchwühlt. Einmal haben wir ihr Gepäck fehlgeleitet, als sie reiste. Zweimal hat man ihr aufgelauert. Alles ohne Ergebnis.«

»Niemand hat das Bild zu Gesicht bekommen?«

»Absolut niemand.«

Holmes lachte. »Das ist wirklich ein nettes kleines Problem«, sagte er.

»Für mich aber ein sehr ernstes«, sagte der König vorwurfsvoll.

»Natürlich. Und was hat sie mit der Photographie vor?«

»Mich ruinieren.«

»Aber wie?«

»Ich werde bald heiraten.«

»Ich habe davon gehört.«

»Und zwar Clothilde Lothman von Sachsen-Meningen, die zweite Tochter eines skandinavischen Königs4. Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß ihre Familie sehr strenge Prinzipien hat. Sie selbst ist die Inkarnation der Feinfühligkeit. Der Schatten eines Zweifels, was mein Verhalten angeht, brächte der Angelegenheit ein jähes Ende.«

»Und Irene Adler?«

»Sie droht, ihnen die Photographie zu senden. Und sie wird es tun. Ich weiß, daß sie es tun wird. Sie kennen sie nicht, aber sie hat eine eherne Seele. Sie hat das Gesicht der schönsten aller Frauen und den Verstand des entschlossensten aller Männer. Es gibt nichts, was sie nicht unternähme, um mich davon abzuhalten, eine andere Frau zu heiraten – nichts.«

»Sind Sie sicher, daß sie das Bild noch nicht abgeschickt hat?«

»Ich bin sicher.«

»Und warum?«

»Weil sie gesagt hat, sie würde es an dem Tag abschicken, an dem das Verlöbnis öffentlich proklamiert wird. Das wird am kommenden Montag geschehen.«

»Oh, dann bleiben uns noch drei Tage«, sagte. Holmes mit einem Gähnen. »Das ist sehr erfreulich, da ich mich gegenwärtig noch um eine wichtige Angelegenheit oder zwei zu kümmern habe. Majestät werden natürlich vorerst in London bleiben?«

»Gewiß. Sie können mich im ›Langham‹ finden, unter dem Namen des Grafen von Kramm.«

»Dann werde ich Sie schriftlich wissen lassen, welche Fortschritte wir machen.«

»Ich bitte darum. Ich weiß nicht mehr aus noch ein.«

»Nun zur Frage des Geldes.«

»Sie haben carte blanche.«

»Absolut?«

»Ich sage Ihnen, ich würde eine der Provinzen meines Königreiches geben, wenn ich damit die Photographie bekäme.«

»Und für anfallende Ausgaben?«

Der König holte einen schweren sämischledernen Beutel unter seinem Umhang hervor und legte ihn auf den Tisch.

»Hier sind dreihundert Pfund in Gold und siebenhundert in Banknoten«, sagte er.

Holmes kritzelte eine Empfangsbestätigung auf ein Blatt aus seinem Notizbuch und reichte es ihm.

»Und die Adresse von Mademoiselle?« fragte er.

»Sie lautet Briony Lodge, Serpentine Avenue, St. John's Wood.«

Holmes notierte es. »Noch eine Frage«, sagte er. »War die Photographie5 größer als eine Visitenkarte?«

»Ja.«

»Dann wünsche ich Gute Nacht, Majestät, und ich bin sicher, daß wir bald gute Nachrichten für Sie haben werden. Und auch Ihnen Gute Nacht, Watson«, setzte er hinzu, als die Räder des königlichen Coupés die Straße hinabrollten. »Wenn Sie so freundlich sein wollen, morgen am Nachmittag vorbeizukommen, um drei Uhr, dann würde ich gern mit Ihnen über diese kleine Angelegenheit plaudern.«

Die Abenteuer des Sherlock Holmes

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