Читать книгу Die Abenteuer des Sherlock Holmes - Arthur Conan Doyle, Исмаил Шихлы - Страница 8

Eine Frage der Identität

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»Mein lieber Freund«, sagte Sherlock Holmes, als wir beiderseits des Feuers in seiner Wohnung in der Baker Street saßen, »das Leben ist viel seltsamer als alles, was der Geist des Menschen erfinden könnte. Wir würden es nie wagen, uns manche Dinge auszudenken, die tatsächlich doch nur simple Gemeinplätze des Daseins darstellen. Wenn wir Hand in Hand aus diesem Fenster fliegen könnten, um über dieser großen Stadt zu schweben, sachte die Dächer zu entfernen und all die merkwürdigen Dinge auszuspähen, die sich ereignen, die seltsamen Zufälligkeiten, das Pläneschmieden, die einander entgegengesetzten Absichten, die wunderbare Kette der Ereignisse, die über Generationen hinweg wirksam wird und zu den ausgefallensten Ergebnissen führt, dann würde das alle Dichtung mit ihren Konventionen und voraussehbaren Schlüssen überaus schal und unersprießlich machen.«

»Und dennoch bin ich davon nicht überzeugt«, antwortete ich. »Die Fälle, die in den Zeitungen ans Tageslicht gelangen, sind in der Regel ziemlich dürftig und reichlich vulgär. In unseren Polizeiberichten findet sich bis auf die äußerste Spitze getriebener Realismus, und trotzdem muß man zugeben, daß das Ergebnis weder faszinierend noch künstlerisch befriedigend ist.«

»Wenn man einen realistischen Effekt hervorrufen will, muß man schon eine gewisse Willkür walten lassen und eine Auslese vornehmen«, bemerkte Holmes. »Das fehlt im Polizeibericht, wo vielleicht auf die Platitüden des Behördenwegs mehr Wert gelegt wird als auf die Einzelheiten, in denen ein Beobachter die wirklich wichtige Essenz der ganzen Angelegenheit erblickt. Verlassen Sie sich darauf: Nichts ist so unnatürlich wie das Gewöhnliche.«

Ich lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich begreife durchaus, wie Sie darauf kommen«, sagte ich. »In Ihrer Stellung als inoffizieller Berater und Helfer für jeden, der absolut ratlos ist, und zwar in drei Kontinenten, bekommen Sie es natürlich mit allem zu tun, was seltsam und bizarr ist. Aber hier« – ich hob die Morgenzeitung vom Fußboden auf – »sollten wir die Sache praktisch erproben. Hier, die erste Schlagzeile, auf die ich stoße. ›Grausamkeit eines Mannes gegenüber seiner Frau.‹ Es folgt eine halbe Druckspalte, aber ohne zu lesen weiß ich, daß mir das alles sehr vertraut ist. Natürlich finden wir da die andere Frau, Alkohol, Püffe, Schläge, Verletzungen, die mitleidige Schwester oder Wirtin. Der plumpeste Schriftsteller könnte nichts Plumperes erfinden.«

»Sie haben wirklich ein ausgesprochen unglückliches Beispiel für Ihre Behauptung gewählt«, sagte Holmes; er nahm die Zeitung und überflog sie. »Das ist der Scheidungsfall Dundas, und wie der Zufall es will, war ich an der Aufhellung einiger kleiner Punkte im Zusammenhang damit befaßt. Der Gatte war ein strenger Nichttrinker, es gab keine andere Frau, und das beklagte Verhalten bestand in seiner Gewohnheit, am Ende einer jeden Mahlzeit sein falsches Gebiß herauszunehmen und es nach seiner Frau zu werfen, was, wie Sie zugeben werden, nicht gerade eine Handlungsweise ist, wie sie einem durchschnittlichen Erzähler in den Sinn käme. Nehmen Sie eine Prise Schnupftabak, Doktor, und geben Sie zu, daß dieses Beispiel ein Punkt für mich ist.«

Er reichte mir seine Schnupftabaksdose aus Altgold, mit einem großen Amethysten in der Mitte des Deckels. Diese Pracht stand in einem so großen Gegensatz zu seinen schlichten Gewohnheiten und seinem einfachen Leben, daß ich einen Kommentar hierzu nicht unterdrücken konnte.

»Ah«, sagte er, »ich hatte vergessen, daß ich Sie einige Wochen lang nicht gesehen habe. Das ist ein kleines Souvenir des Königs von Böhmen als Gegenleistung für meine Hilfe im Fall Irene Adler.«

»Und der Ring?« fragte ich, wobei ich den bemerkenswerten Brillanten musterte, der an seinem Finger glitzerte.

»Der stammt von der holländischen Herrscherfamilie; die Angelegenheit, in der ich ihr zu Diensten war, war allerdings so delikat, daß ich sie nicht einmal Ihnen anvertrauen kann, obwohl Sie so freundlich waren, eines oder zwei meiner kleinen Probleme aufzuzeichnen.«

»Und? Beschäftigt Sie zur Zeit wieder ein Fall?« fragte ich interessiert.

»Vielleicht zehn oder zwölf, aber es ist nichts dabei, was besonders interessant wäre. Verstehen Sie – wichtig, ohne interessant zu sein. Übrigens habe ich festgestellt, daß es meistens die unwichtigen Fälle sind, die Gelegenheiten zu interessanten Beobachtungen und zur schnellen Analyse von Ursachen und Wirkungen bieten, die den Reiz einer Untersuchung ausmacht. Die größeren Verbrechen sind häufig die einfacheren, denn je größer das Verbrechen, desto offensichtlicher ist in der Regel das Motiv. Abgesehen von einer reichlich verwickelten Angelegenheit, die mir aus Marseille zugekommen ist, gibt es in keinem dieser augenblicklichen Fälle interessante Besonderheiten. Es wäre aber möglich, daß ich etwas Besseres in Händen habe, ehe allzu viel Zeit verstrichen ist; wenn ich mich nicht sehr irre, kommt nämlich da einer meiner Klienten.«

Er hatte sich von seinem Stuhl erhoben, stand zwischen den auseinandergezogenen Vorhängen und schaute hinab auf die fade, farblose Londoner Straße. Ich blickte über seine Schulter und sah, daß auf dem gegenüberliegenden Gehsteig eine große Frau stand, die eine schwere Pelzboa um den Nacken und eine lange, gekräuselte, rote Feder in einem breitkrempigen Hut trug, den sie in der koketten Art der Herzogin von Devonshire15 schräg über dem Ohr sitzen hatte. Unter diesem gewaltigen Helm warf sie nervöse, zögernde Blicke zu unseren Fenstern hinauf, während ihr Körper leicht vor und zurück schwankte und ihre Finger nervös mit den Knöpfen ihrer Handschuhe spielten. Plötzlich, mit einem förmlichen Eintauchen wie dem eines Schwimmers, der vom Ufer abstößt, eilte sie quer über die Straße, und wir hörten das schrille Klingeln der Glocke.

»Mir sind solche Symptome vertraut«, sagte Holmes. Er warf seine Zigarette ins Feuer. »Zögerndes Schwanken auf dem Gehsteig bedeutet immer eine affaire du coeur. Sie möchte einen Rat haben, ist aber nicht sicher, ob die Sache nicht allzu delikat ist, als daß man sie jemandem mitteilen könnte. Aber selbst hier gibt es noch Unterschiede. Wenn einer Frau von einem Mann schlimmes Unrecht zugefügt worden ist, dann schwankt sie nicht mehr, und das übliche Symptom ist ein zerrissener Klingelzug. Hier können wir aber davon ausgehen, daß es sich um eine Liebesangelegenheit handelt, daß die Maid aber weniger zornig denn verwirrt oder bekümmert ist. Aber da kommt sie persönlich, um uns aus unseren Zweifeln zu erlösen.«

Noch während er sprach, hörten wir ein Klopfen an der Tür, und der Hausbursche trat ein, um Miss Mary Sutherland anzukündigen; die Lady selbst ragte indessen hinter seiner kleinen schwarzen Gestalt auf wie ein Handelsschiff unter vollen Segeln hinter einem kleinen Lotsenboot. Sherlock Holmes hieß sie mit der ihm eigenen zwanglosen Höflichkeit willkommen, und nachdem er die Tür geschlossen und der Dame mit einer knappen Verneigung einen Lehnstuhl angeboten hatte, musterte er sie in der eingehenden und dennoch abstrakten Weise, die für ihn eigentümlich war.

»Finden Sie nicht«, sagte er, »daß bei Ihrer Kurzsichtigkeit das viele Maschineschreiben ein wenig anstrengend ist?«

»Am Anfang war es so«, antwortete sie, »aber inzwischen weiß ich auch ohne hinzusehen, wo die Buchstaben sind.« Dann ging ihr plötzlich die volle Bedeutung seiner Worte auf, sie fuhr heftig zusammen und sah hoch, mit Furcht und Staunen auf ihrem breiten, gutmütigen Gesicht. »Sie müssen schon von mir gehört haben, Mr. Holmes«, rief sie, »wie könnten Sie sonst all das wissen?«

»Beunruhigen Sie sich nicht«, sagte Holmes lachend, »Wissen gehört zu meiner Arbeit. Vielleicht habe ich mich dazu erzogen, das zu sehen, was andere übersehen. Wenn es anders wäre, kämen Sie doch wohl nicht, um mich zu konsultieren?«

»Ich bin zu Ihnen gekommen, Sir, weil ich über Sie von Mrs. Etheredge einiges gehört habe, deren Mann Sie so mühelos gefunden haben, als die Polizei und alle anderen ihn für tot aufgegeben hatten. Oh, Mr. Holmes, wenn Sie für mich doch auch so viel tun könnten. Ich bin zwar nicht reich, aber immerhin habe ich hundert Pfund im Jahr zur Verfügung, neben dem wenigen, das ich mit der Schreibmaschine verdiene, und ich würde alles hergeben, wenn ich erfahren könnte, was aus Mr. Hosmer Angel geworden ist.«

»Warum sind Sie in solcher Eile aufgebrochen, um mich zu konsultieren?« fragte Sherlock Holmes; er hatte seine Fingerspitzen aneinandergelegt und die Augen an die Zimmerdecke geheftet.

Abermals trat ein Ausdruck des Erschreckens in Miss Mary Sutherlands eher leeres Gesicht. »Ja, ich habe das Haus Knall auf Fall verlassen«, sagte sie, »weil ich darüber verärgert war, daß Mr. Windibank – das heißt, mein Vater – die ganze Sache so leicht nimmt. Er will nicht zur Polizei gehen, und er will nicht zu Ihnen kommen, und weil er nichts unternehmen will, und immer wieder sagt, daß doch nichts Schlimmes geschehen ist, bin ich sehr wütend geworden, habe mich in meine Sachen geworfen und bin sofort zu Ihnen gekommen.«

»Ihr Vater?« sagte Holmes. »Doch sicher Ihr Stiefvater, da er einen anderen Namen hat?«

»Ja, mein Stiefvater. Ich nenne ihn Vater, obwohl es komisch klingt, er ist nämlich nur fünf Jahre und zwei Monate älter als ich.«

»Und Ihre Mutter lebt noch?«

»Oh, ja, Mutter lebt, es geht ihr gut. Ich war gar nicht glücklich, Mr. Holmes, daß sie so kurz nach Vaters Tod wieder geheiratet hat, und dazu noch einen Mann, der fast fünfzehn Jahre jünger ist als sie. Vater war Klempner in der Tottenham Court Road, und er hat ein ordentliches Geschäft hinterlassen, das Mutter zusammen mit dem Vorarbeiter Mr. Hardy weitergeführt hat, aber als Mr. Windibank kam, hat er dafür gesorgt, daß sie das Geschäft verkauft, er ist nämlich etwas viel Besseres, Reisender in Wein. Für das Geschäft und alle Anrechte haben sie viertausendsiebenhundert bekommen, bei weitem nicht, was Vater hätte bekommen können, wenn er noch lebte.«

Ich hatte erwartet, daß Sherlock Holmes bei diesem weitschweifigen und nebensächlichen Bericht ungeduldig würde, doch hatte er im Gegenteil mit größter und gesammelter Aufmerksamkeit gelauscht.

»Ihr eigenes kleines Einkommen«, fragte er, »stammt das aus dem Geschäft?«

»O nein, Sir, das hat damit nichts zu tun; mein Onkel Ned aus Auckland hat es mir hinterlassen. Es steckt in neuseeländischen Anlagen zu viereinhalb Prozent. Zweitausendfünfhundert Pfund war die Summe, aber ich kann nur über die Zinsen verfügen.«

»Das ist sehr interessant«, sagte Holmes. »Und mit einer so großen Summe wie hundert im Jahr, dazu mit dem, was Sie nebenher verdienen, können Sie sicherlich Reisen machen und überhaupt Ihren Wünschen nachgehen. Ich nehme an, daß eine alleinstehende Dame schon mit einem Einkommen von etwa sechzig Pfund sehr gut zurechtkommen kann.«

»Ich könnte mit viel weniger auskommen, Mr. Holmes, aber, wissen Sie, solange ich zu Hause lebe, möchte ich den anderen nicht zur Last fallen, und deshalb können sie über das Geld verfügen, solange ich bei ihnen wohne. Das gilt natürlich nur vorläufig. Mr. Windibank hebt jedes Vierteljahr meine Zinsen ab und gibt sie an Mutter weiter, und ich komme sehr gut mit dem zurecht, was ich durch Maschineschreiben verdiene. Ich bekomme zwei Pence pro Seite, und ich bringe es oft auf fünfzehn bis zwanzig Seiten pro Tag.«

»Sie haben mir Ihre Lage sehr klar dargelegt«, sagte Holmes. »Das ist mein Freund, Dr. Watson, vor dem Sie genauso frei sprechen können wie vor mir. Erzählen Sie uns doch nun bitte alles über Ihre Beziehung zu Mr. Hosmer Angel.«

Ein Hauch von Röte flog über Miss Sutherlands Gesicht, und nervös zupfte sie am Saum ihres Jacketts. »Ich habe ihn auf dem Ball der Rohrleger kennengelernt«, sagte sie. »Sie haben Vater immer Karten geschickt, als er noch lebte, und danach haben sie noch immer an uns gedacht und die Karten an Mutter geschickt. Mr. Windibank wollte nicht mitkommen. Er will nie, daß wir irgendwohin ausgehen. Er würde sich schrecklich aufregen, wenn ich auch nur an einem Ausflug der Sonntagsschule teilnehmen wollte. Aber dieses Mal war ich entschlossen hinzugehen, und welches Recht hätte er denn auch gehabt mich daran zu hindern? Er sagte, diese Leute wären nicht der richtige Umgang für uns, wo doch alle alten Freunde von Vater da sein würden. Und er sagte, ich hätte nichts Passendes anzuziehen, wo ich doch ein rotes Kleid aus Baumwollsamt habe, das ich nie auch nur aus dem Schrank genommen hatte. Als er schließlich nichts mehr tun konnte, ist er in Geschäften nach Frankreich gereist, aber wir sind zum Ball gegangen, Mutter und ich, mit Mr. Hardy, der unser Vorarbeiter gewesen war, und da habe ich dann Mr. Hosmer Angel getroffen.«

»Ich nehme an«, sagte Holmes, »daß Mr. Windibank nach seiner Rückkehr aus Frankreich sehr böse mit Ihnen war, daß Sie doch zum Ball gegangen sind.«

»Oh, also, er hat es sehr leichtgenommen. Er hat gelacht, ich weiß es noch, und mit den Schultern gezuckt und gesagt, es hätte keinen Zweck, einer Frau irgendwas zu verbieten, weil sie doch ihren Kopf durchsetzt.«

»Aha. Wenn ich Sie recht verstehe, haben Sie dann auf dem Ball der Rohrleger einen Gentleman namens Mr. Hosmer Angel kennengelernt.«

»Ja, Sir. An diesem Abend habe ich ihn kennengelernt, und am nächsten Tag ist er vorbeigekommen, um sich zu erkundigen, ob wir auch alle gut nach Hause gekommen wären, und danach haben wir ihn getroffen – das heißt, Mr. Holmes, ich habe ihn zweimal getroffen, um mit ihm spazierenzugehen, aber dann ist Vater wieder heimgekehrt, und Mr. Hosmer Angel konnte nicht mehr in unser Haus kommen.«

»Nein?«

»Nun ja, Sie wissen, daß Vater nichts derartiges haben will. Er will keine Besucher haben, wenn es sich vermeiden läßt, und er sagt immer, daß eine Frau im Kreise ihrer eigenen Familie glücklich sein soll. Aber wie ich Mutter immer sage, will eine Frau doch vor allem ihren eigenen Kreis, und meinen hatte ich noch nicht gefunden.«

»Aber was ist mit Mr. Hosmer Angel? Hat er keinen Versuch gemacht, Sie wiederzusehen?«

»Also, Vater wollte eine Woche später wieder nach Frankreich fahren, und Hosmer hat mir geschrieben, daß es sicherer und besser wäre, uns nicht zu treffen, bevor er nicht abgereist ist. In der Zwischenzeit könnten wir uns schreiben, und er hat jeden Tag geschrieben. Ich habe morgens früh die Post ins Haus geholt, also brauchte Vater nichts davon zu erfahren.«

»Waren Sie damals schon mit dem Gentleman verlobt?«

»O ja, Mr. Holmes. Wir haben uns nach unserem ersten gemeinsamen Spaziergang verlobt. Hosmer – Mr. Angel – ist Kassierer in einem Büro in der Leadenhall Street – und ...«

»In welchem Büro?«

»Das ist ja das Schlimmste, Mr. Holmes. Ich weiß es nicht.«

»Wo wohnt er denn?«

»Er schläft in der Firma.«

»Und Sie kennen seine Anschrift nicht?«

»Nein. Ich weiß nur, es ist in der Leadenhall Street.«

»Wohin haben Sie denn Ihre Briefe geschickt?«

»Postlagernd an das Postamt in der Leadenhall Street. Er sagte, wenn ich sie in sein Büro schicke, werden die anderen Angestellten ihn hänseln, weil er Briefe von einer Dame bekommt, und deshalb habe ich vorgeschlagen, daß ich meine Briefe auch, wie er seine, mit der Maschine schreibe, aber davon wollte er nichts wissen, er sagte nämlich, wenn ich sie schreibe, dann kommen sie für ihn unmittelbar von mir, aber wenn sie mit der Maschine geschrieben sind, dann hat er das Gefühl, daß zwischen uns eine Maschine steht. Das müßte Ihnen zeigen, wie viel ihm an mir liegt, Mr. Holmes, und welche Kleinigkeiten er bedenkt.«

»Das ist sehr aufschlußreich«, sagte Holmes. »Es ist schon sehr lange eines meiner Axiome, daß die kleinen Dinge bei weitem die wichtigsten sind. Erinnern Sie sich noch an andere Kleinigkeiten im Zusammenhang mit Mr. Hosmer Angel?«

»Er ist ein sehr scheuer Mensch, Mr. Holmes. Er wollte mit mir immer lieber abends als bei Tageslicht spazieren gehen, er sagte nämlich, daß er es haßt aufzufallen. Er ist immer sehr zurückhaltend gewesen und hat sich wie ein Gentleman benommen. Sogar seine Stimme ist sanft. Er hat mir erzählt, daß er als Kind Halsbräune und geschwollene Drüsen hatte, und davon ist ein schwacher Kehlkopf zurückgeblieben, und eine stockende, flüsternde Redeweise. Er war immer gut gekleidet, sehr sauber und einfach, aber seine Augen sind genauso schwach wie meine, und er trägt dunkle Gläser gegen die Helligkeit.«

»Aha. Und was ist geschehen, als Ihr Stiefvater, Mr. Windibank, wieder nach Frankreich fuhr?«

»Mr. Hosmer Angel ist wieder zu uns nach Hause gekommen und hat vorgeschlagen, wir sollten heiraten, ehe Vater zurückkommt. Es war ihm sehr ernst damit, und er hat mich meine Hände auf die Bibel legen und schwören lassen, daß ich ihm die Treue halte, ganz gleich, was auch passiert. Mutter sagte, es wäre ganz richtig, mich schwören zu lassen, und es wäre ein Zeichen für seine Leidenschaft. Mutter war von Anfang an ganz für ihn und von ihm sogar noch mehr eingenommen als ich. Als sie dann davon gesprochen haben, daß wir innerhalb einer Woche heiraten sollten, habe ich gefragt, was denn mit Vater würde, aber beide haben mir gesagt, ich sollte mich nicht um Vater kümmern und es ihm erst hinterher erzählen, und Mutter sagte, sie würde schon dafür sorgen, daß er zustimmt. Das war mir gar nicht recht, Mr. Holmes. Es kam mir seltsam vor, daß ich um seine Erlaubnis bitten sollte, wo er doch nur wenige Jahre älter ist als ich; ich wollte aber auch nichts hinter seinem Rücken tun, deshalb habe ich Vater nach Bordeaux geschrieben, wo die Gesellschaft ihre französische Niederlassung hat, aber ausgerechnet am Morgen der Trauung kam der Brief an mich zurück.«

»Er hat ihn also nicht erreicht?«

»Ja, Sir, mein Vater war nämlich zurück nach England aufgebrochen, kurz bevor der Brief dort unten ankam.«

»Ha! Das war ein unglücklicher Zufall. Ihre Trauung war also für Freitag festgesetzt. Sollte sie in der Kirche stattfinden?«

»Ja, Sir, aber sehr still. Sie sollte in St. Saviour's nahe King's Cross stattfinden, und anschließend wollten wir im St.-Pancras-Hotel frühstücken. Hosmer ist in einem Zweisitzer gekommen, um uns abzuholen, aber weil wir zu zweit waren, hat er uns in diesen Wagen gesetzt und selbst eine vierrädrige Kutsche genommen, die gerade die einzige andere Droschke auf der Straße war. Wir sind als erste an der Kirche angekommen, und als dann die Droschke vorfuhr, haben wir darauf gewartet, daß er endlich aussteigt, aber nichts rührte sich, und als der Kutscher schließlich abgestiegen ist und nachgeschaut hat, da war niemand im Wagen! Der Kutscher sagte, er hätte keine Ahnung, wo er geblieben sein könnte, er hätte ihn doch mit eigenen Augen einsteigen sehen. Das war am letzten Freitag, Mr. Holmes, und seitdem habe ich nichts gesehen oder gehört, was mir helfen könnte, die Frage nach seinem Verbleib zu beantworten.«

»Mir scheint, Sie sind schändlich behandelt worden«, sagte Holmes.

»O nein, Sir! Er war zu gut und zu lieb, um mich so zu verlassen. Er hat mir doch noch am selben Morgen immer wieder gesagt, ich sollte ihm treu bleiben, was auch immer geschieht; und sogar wenn etwas Unvorhergesehenes eintritt, was uns trennt, soll ich doch immer daran denken, daß ich ihm versprochen bin und daß er dieses Pfand früher oder später einlösen würde. Es kam mir seltsam vor, daß er am Hochzeitsmorgen so redet, aber das, was seitdem geschehen ist, gibt seinen Worten ja eine Bedeutung.«

»Zweifellos. Nach Ihrer Meinung ist ihm also eine unvorhergesehene Katastrophe zugestoßen?«

»Ja, Sir. Ich glaube, daß er irgendeine Gefahr erwartet hat, sonst hätte er nicht so gesprochen. Und ich glaube, das, was er erwartet hatte, ist dann eingetroffen.«

»Sie haben aber keine Vorstellung, was das gewesen sein könnte?«

»Nein.«

»Noch eine Frage. Wie hat Ihre Mutter die Sache hingenommen?«

»Sie war sehr verärgert und hat gesagt, ich sollte nie wieder davon sprechen.«

»Und Ihr Vater? Haben Sie es ihm erzählt?«

»Ja, und wie ich scheint er zu glauben, daß etwas geschehen ist und daß ich bald wieder von Hosmer hören werde. Er sagt, welches Interesse könnte jemand daran haben, mich bis zur Kirchentür zu bringen und mich dann zu verlassen? Wenn er nun Geld von mir geliehen oder mich geheiratet und mein Geld auf sich überschrieben hätte, dann könnte das ein Grund sein; aber Hosmer war in Geldsachen sein eigener Herr, und er wollte nie auch nur einen Shilling von meinem. Aber was kann denn nur geschehen sein? Und warum hat er mir noch nicht geschrieben? Oh, es macht mich fast verrückt, wenn ich daran denke! Und ich mache nachts kein Auge mehr zu.« Sie zog ein kleines Tuch aus ihrem Muff und begann heftig hineinzuschluchzen.

»Ich werde mich für Sie dieser Sache annehmen«, sagte Holmes; er stand auf. »Und ich habe keinen Zweifel, daß wir zu einem eindeutigen Ergebnis kommen. Überlassen Sie die ganze Angelegenheit nun ruhig mir, denken Sie nicht mehr unausgesetzt daran. Und versuchen Sie vor allem, Mr. Hosmer Angel aus Ihrem Gedächtnis verschwinden zu lassen, so wie er aus Ihrem Leben verschwunden ist.«

»Dann glauben Sie nicht, daß ich ihn wiedersehen werde?«

»Ich fürchte, nein.«

»Aber was ist denn nur mit ihm geschehen?«

»Überlassen Sie mir diese Frage. Ich hätte gern eine genaue Beschreibung und all die Briefe von ihm, von denen Sie sich trennen können.«

»Ich habe am letzten Samstag im Chronicle nach ihm annonciert«, sagte sie. »Hier ist der Ausschnitt, und hier sind vier Briefe von ihm.«

»Ich danke Ihnen. Und Ihre Anschrift?«

»31 Lyon Place, Camberwell.«

»Mr. Angels Anschrift haben Sie nie besessen, wenn ich Sie recht verstehe. Wo befindet sich die Firma Ihres Vaters?«

»Er reist für Westhouse & Marbank, den großen Weinimport in der Fenchurch Street.«

»Danke sehr. Ihre Auslassungen waren sehr klar. Lassen Sie mir die Papiere hier, und denken Sie an den Ratschlag, den ich Ihnen gegeben habe. Betrachten Sie die Vorfälle als beendet und abgeschlossen, und lassen Sie nicht zu, daß Ihr Leben davon beeinträchtigt wird.«

»Sie sind sehr freundlich, Mr. Holmes, aber das kann ich nicht. Ich werde Hosmer treu bleiben. Er wird mich bereit finden, wenn er zurückkommt.«

Trotz ihres grotesken Huts und des leeren Gesichts hatte der schlichte Glaube unserer Besucherin etwas Edles, das unseren Respekt erheischte. Sie legte ihr kleines Papierbündel auf den Tisch und verließ uns mit dem Versprechen wiederzukommen, sobald sie dazu aufgefordert würde.

Sherlock Holmes saß einige Minuten still da; seine Fingerspitzen hatte er noch immer aneinandergelegt, die Beine von sich gestreckt, und er starrte an die Decke. Dann nahm er die alte, ölige Tonpfeife vom Bord, die für ihn eine Art Ratgeber war, und nachdem er sie angezündet hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück; dichte blaue Rauchgirlanden kräuselten sich aufwärts, und in seinem Gesicht lag ein Ausdruck unendlicher Ermattung.

»Ein ganz interessantes Studienobjekt, dieses Mädchen«, bemerkte er. »Ich fand sie viel interessanter als ihr kleines Problem, das, nebenbei bemerkt, ziemlich abgedroschen und einfach ist. Wenn Sie meinen Index konsultieren, werden Sie gleichartige Fälle in Andover anno '77 und etwas Ähnliches in Den Haag im letzten Jahr finden. So alt aber auch die Idee sein mag, es gab doch eine oder zwei Einzelheiten, die mir neu waren. Aber das Mädchen selbst war besonders ergiebig.«

»Sie scheinen in ihr eine ganze Menge gelesen zu haben, was für mich völlig unsichtbar war«, bemerkte ich.

»Nicht unsichtbar, sondern nicht beobachtet, Watson. Sie wußten nicht, worauf Sie achten mußten, und deshalb haben Sie alles Wichtige übersehen. Es wird mir wohl nie gelingen, Ihnen die Bedeutung der Ärmel klarzumachen oder die Wichtigkeit von Daumennägeln, oder die großen Dinge, die an einem Schnürriemen hängen können. Also: Was haben Sie dem Äußeren dieser Frau entnehmen können? Beschreiben Sie.«

»Nun, sie hatte einen schieferfarbenen, breitkrempigen Strohhut mit einer ziegelroten Feder. Ihr Jackett war schwarz, mit schwarzen Perlen besetzt und einem Saum mit kleinen schwarzen Jade-Ornamenten. Ihr Kleid war braun, eher etwas dunkler als Kaffee, mit ein wenig rotem Baumwollsamt am Hals und an den Ärmeln. Ihre Handschuhe waren gräulich, und der rechte Zeigefinger schien durch. Ihre Schuhe habe ich nicht beobachtet. Sie hatte kleine, runde, herabhängende Goldohrringe und machte insgesamt einen Eindruck von Wohlstand, in einer gewöhnlichen, bequemen, fast lässigen Weise.«

Sherlock Holmes klatschte leise in die Hände und kicherte.

»Mein Ehrenwort, Watson, Sie spielen wunderbar mit. Das haben Sie wirklich sehr schön gemacht. Sie haben zwar alles übersehen, was wichtig ist, aber Sie haben die Methode getroffen, und Sie haben ein gutes Auge für Farben. Vertrauen Sie niemals allgemeinen Eindrücken, mein Lieber, sondern konzentrieren Sie sich auf Einzelheiten. Mein erster Blick gilt immer den Ärmeln einer Frau. Bei einem Mann kann es besser sein, zuerst das Knie der Hose in Augenschein zu nehmen. Wie Sie sagten, hatte diese Frau Baumwollsamt an ihren Ärmeln, und dieses Material ist sehr nützlich, weil es Spuren bewahrt. Die doppelte Linie kurz über dem Handgelenk, wo jemand, der Maschine schreibt, sich auf den Tisch aufstützt, war wunderschön sichtbar. Eine mit der Hand zu bedienende Nähmaschine hinterläßt einen ähnlichen Abdruck, aber nur am linken Arm und auf der dem Daumen abgewandten Seite, statt wie in diesem Fall an der breitesten Stelle. Dann habe ich mir ihr Gesicht angesehen, und als ich auf beiden Seiten der Nase die Eindrücke eines pince-nez bemerkte, habe ich mich über Kurzsichtigkeit und Maschineschreiben geäußert, was sie zu überraschen schien.«

»Jedenfalls hat es mich überrascht.«

»Aber das war doch ganz offensichtlich. Weiter hat es mich sehr überrascht und interessiert, daß ich, als ich an ihr hinabsah, feststellte, daß die Stiefel, die sie trug, nicht gerade völlig verschieden waren, aber sie gehörten doch nicht zusammen; der eine war vorn ein wenig verziert, und der andere war ganz schlicht. Der eine war nur mit den beiden unteren von fünf Knöpfen verschlossen, der andere mit dem ersten, dritten und fünften. Wenn Sie nun also eine junge Dame sehen, die mit halb zugeknöpften und nicht zueinander passenden Stiefeln aus dem Haus gegangen ist, obwohl sie sich sonst ordentlich kleidet, dann ist es kein Kunststück, abzuleiten, daß sie in Eile war.«

»Und was noch?« fragte ich, da mich die scharfe Logik meines Freundes wie immer zutiefst interessierte.

»En passant habe ich festgestellt, daß sie einen Brief geschrieben hat, bevor sie das Haus verließ, aber nachdem sie sich angekleidet hatte. Sie haben ja bemerkt, daß ihr rechter Handschuh am Zeigefinger zerrissen war, aber offenbar haben Sie nicht gesehen, daß Handschuh und Finger mit violetter Tinte befleckt waren. Sie hat sehr hastig geschrieben und ihre Feder zu tief eingetaucht. Es muß heute morgen gewesen sein, andernfalls wäre der Fleck nicht mehr so deutlich sichtbar auf ihrem Finger. All das ist amüsant, wenn auch ziemlich elementar, aber kommen wir wieder zur Sache, Watson. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir die annoncierte Beschreibung von Mr. Hosmer Angel vorzulesen?«

Ich hielt den kleinen gedruckten Ausschnitt ans Licht. Der Text lautete: »›Seit dem Morgen des 14. wird ein Gentleman namens Hosmer Angel vermißt. Er ist etwa 5 Fuß 7 Zoll groß; kräftig gebaut, bläßliche Hautfarbe, schwarzes Haar mit beginnender Kahlheit in der Kopfmitte, buschiger schwarzer Backen-und Oberlippenbart; getönte Brille, kleiner Sprachfehler. Trug zuletzt schwarzen, seidebesetzten Gehrock, schwarze Weste, kurze goldene Uhrkette, graue Hosen aus Harris-Tweed und braune Gamaschen über Schuhen mit elastischen Seiten. War in einem Büro in der Leadenhall Street angestellt. Für verläßliche Informationen‹ usw. usw.«

»Das genügt«, sagte Holmes. »Was nun die Briefe angeht«, fuhr er fort, wobei er sie überflog, »so sind sie ziemlich gewöhnlich. Keinerlei brauchbare Hinweise auf Mr. Angel, abgesehen davon, daß er einmal Balzac zitiert. Eines ist allerdings an ihnen bemerkenswert und wird Ihnen sicher auffallen.«

»Sie sind mit der Maschine geschrieben«, bemerkte ich.

»Nicht nur das, sondern auch die Unterschrift ist mit Maschine geschrieben. Schauen Sie sich das saubere kleine ›Hosmer Angel‹ hier unten an. Wie Sie sehen, sind die Briefe datiert, aber nur mit Leadenhall Street überschrieben, das ist reichlich vage. Die Sache mit der Unterschrift ist sehr wichtig – wir können sie sogar als entscheidend ansehen.«

»Entscheidend wofür?«

»Mein lieber Freund, kann es denn sein, daß Sie wirklich nicht sehen, welche große Bedeutung das für den Fall hat?«

»Das kann ich wirklich nicht behaupten, außer Sie meinen, er hat Wert darauf gelegt, seine Unterschrift leugnen zu können, wenn gegen ihn Anklage wegen eines nicht eingehaltenen Eheversprechens erhoben wird.«

»Nein, das ist nicht der Punkt. Ich werde aber jedenfalls zwei Briefe schreiben, die die Sache klären sollten. Einen an eine Firma in der City, den anderen an Mr. Windibank, den Stiefvater der jungen Dame, mit der Frage, ob er bereit wäre, uns hier morgen nachmittag um 6 Uhr zu treffen. Und jetzt, Doktor, können wir nichts tun, bis die Antworten auf diese Briefe eintreffen, wir können also unser kleines Problem in der Zwischenzeit beiseitelegen.«

Ich hatte so viele gute Gründe, an das feinsinnige Denkvermögen meines Freundes zu glauben, daß ich sicher war, er müsse ausreichenden Anlaß zu der selbstsicheren und gelassenen Art haben, in der er das einzigartige Rätsel handhabte, das auszuloten man ihn gebeten hatte. Nur einmal hatte ich ihn versagen sehen, im Fall mit der Photographie von Irene Adler und dem König von Böhmen; wenn ich aber an die unheimliche Geschichte des Zeichens der Vier und die außerordentlichen Umstände im Zusammenhang mit der Studie in Scharlach zurückdachte, schien es mir, es müßte eine wahrhaft seltsame Verwicklung sein, die er nicht aufzulösen vermöchte.

So verließ ich ihn, der noch immer seine schwarze Tonpfeife paffte, in der Überzeugung, bei meiner Rückkehr am nächsten Abend festzustellen, daß er alle Hinweise in Händen hielt, die uns zur Identität von Miss Mary Sutherlands verschwundenem Bräutigam fuhren würden.

Ein sehr ernster Fall forderte zu dieser Zeit meine berufliche Aufmerksamkeit, und den ganzen nächsten Tag verbrachte ich neben dem Bett des Leidenden. Erst kurz vor sechs Uhr fand ich die Zeit, in eine Kutsche zu springen und zur Baker Street zu fahren; fast fürchtete ich, zu spät zu kommen, um dem dénouement des kleinen Rätsels beizuwohnen. Ich traf Sherlock Holmes jedoch allein an; in die Tiefen des Lehnsessels gekuschelt schien seine lange, dünne Gestalt entschlummert zu sein. Eine gewaltige Menge von Flaschen und Reagenzgläsern sowie der stechende, saubere Geruch von Salzsäure sagten mir, daß er den Tag mit seinen geliebten chemischen Arbeiten zugebracht hatte.

»Na, haben Sie es gelöst?« fragte ich beim Eintreten.

»Ja. Es war Baryt-Bisulphat.«

»Nein, nein, das Rätsel!« rief ich.

»Ach, das! Ich dachte an das Salz, mit dem ich gearbeitet habe. Im übrigen war der Fall nie rätselhaft, wenn er auch, wie ich gestern sagte, einige interessante Einzelheiten aufweist. Der einzige Nachteil dabei ist, daß es, fürchte ich, kein Gesetz gibt, mit dem man dem Schuft zu Leibe rücken kann.«

»Wer ist es denn, und was hat er beabsichtigt, als er Miss Sutherland im Stich gelassen hat?«

Ich hatte die Frage kaum ausgesprochen und Holmes hatte noch nicht den Mund geöffnet, um zu antworten, als wir schwere Schritte im Flur und ein Klopfen an der Tür hörten.

»Das ist der Stiefvater des Mädchens, Mr. James Windibank«, sagte Holmes. »Er hat mir geschrieben, daß er gegen sechs Uhr hier sein würde. Treten Sie ein!«

Der Mann, der den Raum betrat, war stämmig und mittelgroß, in den Dreißigern, glattrasiert und blaßhäutig, mit einem sanften, einschmeichelnden Gesichtsausdruck und zwei überaus scharfen und durchdringenden, grauen Augen. Er warf jedem von uns einen fragenden Blick zu, legte seinen glänzenden Zylinder auf das Bord und ließ sich mit einer angedeuteten Verbeugung in den nächsten Sessel fallen.

»Guten Abend, Mr. James Windibank«, sagte Holmes. »Ich glaube, dieser mit der Maschine geschriebene Brief, in dem Sie sich mit mir für sechs Uhr verabredet haben, stammt von Ihnen.«

»Ja, Sir. Ich fürchte, ich komme ein wenig zu spät, aber ich bin nicht ganz mein eigener Herr, wie Sie wohl wissen. Ich bedaure es, daß Miss Sutherland Sie mit dieser Angelegenheit behelligt hat; ich glaube nämlich, es ist viel besser, wenn man solche Art Wäsche nicht in der Öffentlichkeit wäscht. Sie ist gegen meinen ausdrücklichen Willen gekommen, aber sie ist ein leicht erregbares, impulsives Mädchen, wie Ihnen aufgefallen sein mag, und es ist nicht einfach, sie zurückzuhalten, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. Natürlich habe ich nichts Besonderes gegen Sie, da Sie ja nichts mit der offiziellen Polizei zu tun haben, aber es ist nicht sehr erfreulich, wenn über ein derartiges Mißgeschick einer Familie überall gemunkelt wird. Davon abgesehen ist es nutzlose Geldverschwendung – wie könnten Sie denn wohl je diesen Hosmer Angel ausfindig machen?«

»Im Gegenteil«, sagte Holmes ruhig; »ich habe gute Gründe, anzunehmen, daß es mir gelingen wird, Mr. Hosmer Angel zu entdecken.«

Mr. Windibank schrak heftig zusammen und ließ seine Handschuhe fallen. »Ich freue mich sehr, das zu hören«, sagte er.

»Es ist ein seltsamer Umstand«, meinte Holmes, »daß eine Schreibmaschine genausoviel Individualität besitzt wie die Handschrift eines Mädchens. Wenn sie nicht mehr ganz neu sind, schreiben keine zwei Maschinen genau gleich. Manche Typen sind mehr abgenutzt als andere, manche nutzen sich nur an einer Seite ab. An diesem Brief von Ihnen, Mr. Windibank, werden Sie feststellen, daß über jedem ›e‹ ein kleiner Fleck ist und ein kleiner Defekt im Schwänzchen des ›r‹. Es gibt noch vierzehn weitere Charakteristika, aber dies sind die wichtigsten.«

»In der Firma erledigen wir unsere gesamte Korrespondenz mit dieser Maschine, und zweifellos ist sie ein wenig abgenutzt«, erwiderte unser Besucher; er sah Holmes mit seinen hellen kleinen Augen aufmerksam an.

»Ich will Ihnen jetzt etwas zeigen, was wirklich sehr interessant ist, Mr. Windibank«, fuhr Holmes fort. »Ich beabsichtige, eines Tages eine weitere kleine Monographie über Schreibmaschinen und ihre Beziehung zu Verbrechen zu verfassen. Es ist dies ein Thema, dem ich eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet habe. Hier habe ich vier Briefe, die angeblich von dem vermißten Mann stammen. Sie alle sind mit der Maschine geschrieben. In allen Fällen ist nicht nur das ›e‹ verwaschen und das ›r‹ defekt, sondern Sie werden auch feststellen, wenn Sie sich meines Vergrößerungsglases bedienen wollen, daß die weiteren vierzehn Charakteristika, von denen ich sprach, sich dort ebenfalls finden.«

Mr. Windibank sprang aus seinem Sessel auf und ergriff seinen Hut. »Ich kann meine Zeit nicht mit dieser Art phantastischen Geschwätzes vergeuden, Mr. Holmes«, sagte er. »Wenn Sie den Mann fangen können, dann fangen Sie ihn, und lassen Sie es mich wissen, wenn Sie es getan haben.«

»Aber gewiß«, sagte Holmes; er trat vor und drehte den Schlüssel in der Tür um. »Hiermit lasse ich Sie wissen, daß ich ihn gefangen habe!«

»Was! Wo?« rief Mr. Windibank; er wurde bleich bis in die Lippen und starrte um sich wie eine Ratte in einer Falle.

»Oh, es hat keinen Sinn – wirklich nicht«, sagte Holmes sanft. »Sie kommen da unmöglich wieder hinaus, Mr. Windibank. Das war alles viel zu durchsichtig, und Sie haben mir ein schlechtes Kompliment gemacht, als Sie sagten, es wäre mir unmöglich, ein so einfaches Problem zu lösen. So ist es recht! Setzen Sie sich, und wir wollen alles durchsprechen.«

Unser Besucher brach mit verzerrtem Gesicht und glitzernder Nässe auf der Stirn in einem Sessel zusammen. »Es ... es ist nicht strafbar«, stammelte er.

»Ich befürchte sehr stark, daß das stimmt. Aber unter uns, Windibank, das war der grausamste, selbstsüchtigste und herzloseste Trick, der mir je als schäbiger Bagatellfall untergekommen ist. Ich will jetzt kurz den Verlauf der Ereignisse durchgehen, und Sie widersprechen mir, wenn ich mich irre.«

Der Mann hockte zusammengesunken in seinem Sessel, das Kinn auf der Brust, als wäre er völlig niedergeschmettert. Holmes legte seine Füße auf eine Ecke des Kaminsimses, steckte die Hände in die Taschen, lehnte sich zurück und begann zu sprechen, eher zu sich selbst, wie es schien, denn zu uns.

»Der Mann hat eine sehr viel ältere Frau wegen ihres Geldes geheiratet«, sagte er, »und er konnte über das Geld der Tochter verfügen, solange sie bei ihnen lebte. Für Leute in ihrer Lage war es eine beträchtliche Summe, und der Verlust hätte schon einiges ausgemacht. Also lohnte sich ein Versuch, das Geld zu bewahren. Von ihrer Veranlagung her war die Tochter gutmütig und freundlich, in ihrem Betragen aber auch liebevoll und warmherzig, daher war es offensichtlich, daß sie mit ihren ansehnlichen persönlichen Vorzügen und ihrem eigenen kleinen Einkommen nicht sehr lange allein bleiben würde. Nun liefe ihre Heirat natürlich auf einen Verlust von hundert Pfund pro Jahr hinaus; was also tut der Stiefvater, um das zu verhindern? Er wählt den naheliegenden Weg, sie häuslich zu halten, und verbietet ihr, die Gesellschaft von Leuten ihres Alters zu suchen. Er mußte aber bald feststellen, daß dies keine dauerhafte Lösung war. Sie wurde widerspenstig, bestand auf ihren Rechten und kündigte schließlich ihre entschiedene Absicht an, auf einen bestimmten Ball zu gehen. Was macht ihr schlauer Stiefvater da? Er entwickelt einen Plan, der weitaus mehr für seinen Kopf als für sein Herz spricht. Mit dem Wissen und der Hilfe seiner Frau verkleidet er sich, verdeckt seine scharfen Augen mit einer getönten Brille, macht das Gesicht mit einem Schnauzbart und einem Paar buschiger Backenbärte unkenntlich, läßt seine helle Stimme zu einem einschmeichelnden Flüstern absinken; daß das Mädchen kurzsichtig ist, gibt ihm doppelte Sicherheit, und so tritt er als Mr. Hosmer Angel auf und scheidet andere mögliche Liebhaber dadurch aus, daß er selbst dem Mädchen den Hof macht.«

»Zuerst war es nur ein Scherz«, ächzte unser Besucher. »Wir haben nie geglaubt, daß sie sich so weit hinreißen lassen würde.«

»Das mag schon sein. Wie auch immer, jedenfalls hat sich die junge Dame ganz entschieden hinreißen lassen, und weil sie davon überzeugt war, daß sich ihr Stiefvater in Frankreich aufhielt, kam ihr der Verdacht, es könnte sich um üble Maschenschaften handeln, nie auch nur einen Moment in den Sinn. Sie fühlte sich durch die Aufmerksamkeiten des Gentlemans geschmeichelt, und diese Wirkung wurde dadurch noch verstärkt, daß ihre Mutter lauthals Zustimmung äußerte. Dann hat Mr. Angel begonnen, sie zu Hause zu besuchen, denn offenbar sollte die Sache so weit getrieben werden wie möglich, um eine dauerhafte Wirkung zu erzielen. Es kam zu Verabredungen und einer Verlobung, die endgültig dafür sorgen sollte, daß das Mädchen seine Neigungen nicht einem anderen zuwandte. Aber die Täuschung konnte nicht ewig aufrechterhalten bleiben. Diese angeblichen Reisen nach Frankreich waren ziemlich lästig. Es lag auf der Hand, daß man die Sache auf eine so dramatische Weise zu einem Ende bringen mußte, daß sie einen dauerhaften Eindruck im Gemüt der jungen Dame zurücklassen und sie für lange Zeit davon abhalten würde, nach einem anderen Freier Ausschau zu halten. Daher die geforderten Treueschwüre auf eine Bibel, und daher auch die Andeutungen, daß sich am Hochzeitsmorgen selbst irgend etwas würde ereignen können. James Windibank wollte, daß sich Miss Sutherland so eng an Hosmer Angel bindet und so sehr im Ungewissen über sein Geschick ist, daß sie wenigstens die nächsten zehn Jahre keinen anderen Mann erhört. Bis zur Kirchentür hat er sie gebracht, und weil er nicht weitergehen konnte, ist er in einer für ihn sehr bequemen Weise mit Hilfe eines alten Tricks verschwunden, indem er auf der einen Seite einer Droschke einsteigt und auf der anderen Seite sofort wieder aussteigt. Ich glaube, so haben sich die Dinge abgespielt, Mr. Windibank!«

Unser Besucher hatte sich wieder ein wenig gefaßt, während Holmes sprach, und nun erhob er sich aus seinem Sessel mit eisigem Hohn in seinem bleichen Gesicht.

»Vielleicht ist es so, vielleicht ist es nicht so, Mr. Holmes«, sagte er, »aber wenn Sie schon so scharfsinnig sind, dann sollten Sie auch scharfsinnig genug sein, um zu wissen, daß Sie derjenige sind, der im Moment das Gesetz bricht, nicht ich. Ich habe von Anfang an nichts getan, dessentwegen man gegen mich Anklage erheben könnte, aber solange Sie diese Tür da verschlossen halten, setzen Sie sich selbst einem Verfahren wegen tätlicher Drohung und ungesetzlicher Nötigung aus.«

»Wie Sie sagen, kann das Gesetz Sie nicht belangen«, sagte Holmes; er schloß die Tür auf und öffnete sie. »Aber es hat nie einen Mann gegeben, der eine Strafe mehr verdient hätte als Sie. Wenn die junge Dame einen Bruder oder einen Freund hat, dann sollte er Ihnen die Peitsche über den Rücken ziehen. Beim Zeus!« fuhr er fort, erregt angesichts des grimmigen Hohns auf dem Gesicht des Mannes, »es gehört nicht zu meinen Pflichten gegenüber meiner Klientin, aber da ist eine Jagdpeitsche in Reichweite, und ich schätze, ich werde mir das Vergnügen ...« Er machte zwei schnelle Schritte hin zur Peitsche, aber bevor er sie ergreifen konnte, ächzte die Treppe unter schnellen Tritten, die schwere Haustür fiel krachend ins Schloß, und vom Fenster aus konnten wir Mr. James Windibank sehen, wie er, so schnell es ging, die Straße hinablief.

»So ein kaltblütiger Schurke!« sagte Holmes lachend, als er sich wieder in seinen Sessel fallen ließ. »Dieser Bursche wird von Verbrechen zu Verbrechen aufsteigen, bis er etwas ganz Übles tut und am Galgen endet. In mancher Hinsicht war dieser Fall keineswegs uninteressant.«

»Ich kann auch jetzt noch nicht all Ihre Denkschritte nachvollziehen«, bemerkte ich.

»Nun ja, es war doch von Anfang an klar, daß dieser Mr. Hosmer Angel sehr schwerwiegende Gründe für sein seltsames Benehmen haben mußte, und genauso klar war, daß der einzige Mann, der wirklich Nutzen aus dem Vorfall zog, der Stiefvater war, soweit wir sehen konnten. Dann die Tatsache, daß die beiden Männer nie zusammengekommen sind, sondern der eine immer nur erschien, wenn der andere abwesend war; das war sehr aufschlußreich. Aufschlußreich waren auch die getönten Gläser und die merkwürdige Stimme, die genau wie der buschige Backenbart auf eine Verkleidung hinwies. Mein Verdacht wurde dadurch bekräftigt, daß er seine Unterschrift mit der Maschine schrieb, woraus sich schließen ließ, daß ihr seine Handschrift so vertraut war, daß sie sie sofort wiedererkennen würde. Wie Sie sehen, wiesen alle Tatsachen für sich genommen, zusammen mit vielen kleineren, in dieselbe Richtung.«

»Und wie haben Sie das alles überprüft?«

»Nachdem ich den Mann einmal ausfindig gemacht hatte, war es einfach, die Verdachtspunkte zu bestätigen. Ich wußte, für welche Firma dieser Mann arbeitet. Ich habe die gedruckte Beschreibung genommen und daraus alles gestrichen, was das Ergebnis einer Verkleidung sein könnte – Backenbart, Brille, Stimme –, und dann habe ich die Beschreibung an die Firma geschickt, mit der Bitte, mir mitzuteilen, ob diese Beschreibung auf einen ihrer Vertreter zutrifft. Die Eigentümlichkeiten der Schreibmaschine hatte ich bereits bemerkt, und ich habe dem Mann an seine Geschäftsadresse geschrieben und ihn gebeten, herzukommen. Wie erwartet, war seine Antwort mit der Maschine geschrieben und wies die gleichen nebensächlichen, aber charakteristischen Mängel auf. Mit der gleichen Post erhielt ich einen Brief von Westhouse & Marbank auf der Fenchurch Street, des Inhalts, daß die Beschreibung in allen Einzelheiten auf ihren Angestellten James Windibank zutrifft. Voilà tout!«

»Und Miss Sutherland?«

»Sie wird mir nicht glauben, wenn ich es ihr erzähle. Sie erinnern sich vielleicht an das alte persische Sprichwort ›Gefahr droht dem, der das Tigerjunge stiehlt, und Gefahr auch dem, der einer Frau ein Trugbild nimmt‹. Bei Hafis findet sich ebenso viel Vernunft wie bei Horaz, und genauso viel Weltklugheit.«

Die Abenteuer des Sherlock Holmes

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