Читать книгу Die Abenteuer des Sherlock Holmes - Arthur Conan Doyle, Исмаил Шихлы - Страница 5

II

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Genau um drei Uhr stellte ich mich in der Baker Street ein, aber Holmes war noch nicht zurückgekehrt. Die Hauswirtin teilte mir mit, er sei kurz nach acht Uhr morgens aus dem Haus gegangen. Ich ließ mich jedoch neben dem Kamin nieder in der Absicht, auf ihn zu warten, gleich wie lang es dauern mochte. Ich war von dieser Untersuchung längst gefesselt, denn wenn sie auch keinen der grimmen und merkwürdigen Züge aufwies, die die zwei von mir an anderer Stelle aufgezeichneten Verbrechen6 umgaben, so erhielt die Untersuchung doch durch die Art des Falles und die hohe Stellung von Holmes' Klienten einen ganz eigenen Charakter. Abgesehen von den Eigentümlichkeiten dieser Nachforschung, mit der sich mein Freund befaßte, gab es da etwas in seiner meisterhaften Erfassung der Lage und seinem kühlen, scharfen Denken, das es mir zu einem Vergnügen machte, seine Arbeitsweise zu studieren und die schnellen, feinsinnigen Griffe zu verfolgen, mit denen er die verwickeltsten Rätsel entwirrte. So sehr war ich an seine ständigen Erfolge gewöhnt, daß auch nur die Möglichkeit eines Scheiterns mir längst nicht mehr in den Kopf kam.

Es war fast vier Uhr, als sich endlich die Tür öffnete und ein Mensch, der ein betrunkener Pferdeknecht hätte sein können, mit wirrem Haar und Backenbart, rotglühendem Gesicht und verkommener Kleidung den Raum betrat. Obwohl ich doch meines Freundes erstaunliche Fähigkeiten bei der Verwendung von Verkleidungen kannte, mußte ich dreimal hinschauen, bevor ich sicher war, daß es sich wirklich um ihn handelte. Er nickte mir zu und verschwand im Schlafraum, aus dem er fünf Minuten später im Tweedanzug und respektabel wie eh und je zurückkehrte. Er steckte die Hände in die Taschen, streckte seine Beine vor dem Feuer aus und lachte eine ganze Weile herzhaft.

»Nein, wirklich!« rief er und verschluckte sich; dann lachte er wieder, bis er sich schlaff und hilflos im Lehnstuhl zurückfallen lassen mußte.

»Was gibt es denn?«

»Es ist einfach zu lustig. Ich wette, Sie kämen nie darauf, wie ich meinen Vormittag zugebracht oder was ich zuletzt getan habe.«

»Ich habe keine Ahnung. Ich nehme an, Sie haben die Gewohnheiten und vielleicht das Haus von Miss Irene Adler beobachtet.«

»Das habe ich, aber was dann kam, war ziemlich ungewöhnlich. Ich will es Ihnen aber erzählen. Ich bin heute morgen kurz nach acht Uhr aus dem Haus gegangen, als arbeitsloser Pferdeknecht. Unter Pferdeleuten herrschen wunderbares Einvernehmen und Freizügigkeit. Wenn Sie einer von ihnen sind, werden Sie bald alles wissen, was zu wissen ist. Ich habe Briony Lodge schnell gefunden. Ein Schmuckstück von einer Villa, mit einem rückwärtigen Garten, aber vorn bis an die Straße gebaut, zwei Stockwerke. Ein Chubb-Schloß7 an der Tür. Rechts ein großer Wohnraum, gut möbliert, mit langen Fenstern fast bis zum Boden und diesen albernen englischen Fensterriegeln, die ein Kind öffnen könnte. Dahinter war nichts Bemerkenswertes, abgesehen davon, daß man das Korridorfenster vom Dach der Remise aus erreichen kann. Ich habe einen Rundgang gemacht und alles aus allen möglichen Blickwinkeln gründlich untersucht, konnte aber sonst nichts Interessantes feststellen.

Dann bin ich die Straße hinabgeschlendert und habe wie erwartet einen Pferdestall an einer Straße gefunden, die an einer der Gartenmauern verläuft. Ich habe den Stallburschen beim Abreiben der Pferde geholfen, und als Gegenleistung habe ich zwei Pence, ein Glas halb Porter halb Ale, zwei Pfeifen voll Shag und über Miss Adler so viele Informationen bekommen, wie ich mir nur wünschen konnte, ganz zu schweigen von einem halben Dutzend anderer Leute in der Nachbarschaft, an denen ich nicht im geringsten interessiert war, deren Biographien ich mir aber anhören mußte.«

»Und was ist mit Irene Adler?« fragte ich.

»Oh, die hat in der Gegend allen Männern den Kopf verdreht. Auf diesem Planeten ist sie das süßeste Ding, das eine Haube trägt. So heißt es im Serpentine-Stall, wie aus einem Mund. Sie führt ein ruhiges Leben, singt bei Konzerten, fährt jeden Tag um fünf Uhr aus und kommt Punkt sieben zurück zum Dinner. Zu anderen Zeiten geht sie selten aus, außer wenn sie singt. Sie hat nur einen männlichen Besucher, den aber oft. Er ist dunkelhaarig, hübsch und schneidig; er kommt nie seltener als einmal pro Tag und oft auch zweimal. Er ist ein Mr. Godfrey Norton, vom Gericht am Inner Temple. Sie sehen, wie gut es ist, einen Kutscher als Vertrauensmann zu haben. Sie haben ihn ein Dutzend Mal vom Serpentine-Stall nach Hause gefahren und wissen alles über ihn. Nachdem ich mir alles angehört hatte, was sie erzählen konnten, bin ich wieder in der Nähe von Briony Lodge auf und ab gegangen und habe mir meinen Schlachtplan zurechtgelegt.

Dieser Godfrey Norton ist offenbar ein wichtiger Faktor in der Angelegenheit. Er ist Anwalt. Das klingt ominös. Wie sieht ihre Beziehung aus, und was ist der Sinn seiner wiederholten Besuche? Ist sie seine Klientin, seine Freundin oder seine Maitresse? Im ersten Fall hat sie ihm vermutlich die Photographie zur Aufbewahrung übergeben, im letzten ist das weniger wahrscheinlich. Von der Beantwortung dieser Frage hing nun ab, ob ich meine Arbeit in Briony Lodge fortsetzen oder meine Aufmerksamkeit den Räumlichkeiten des Gentleman im Temple zuwenden sollte. Das war ein heikler Punkt, und er dehnte den Bereich meiner Nachforschungen aus. Ich fürchte, ich langweile Sie mit diesen Einzelheiten, aber ich muß Ihnen meine kleinen Schwierigkeiten vor Augen führen, damit Sie die Situation begreifen können.«

»Ich kann Ihnen ganz gut folgen«, antwortete ich.

»Ich war immer noch damit beschäftigt, die Sache im Geiste abzuwägen, als eine Droschke vor Briony Lodge vorfuhr und ein Gentleman heraussprang. Er war ein bemerkenswert gutaussehender Mann, dunkelhaarig, mit Adlernase und Schnurrbart – augenscheinlich der Mann, von dem ich so viel gehört hatte. Er schien in großer Eile zu sein, rief dem Kutscher zu, er solle warten, und dann ist er an dem Mädchen, das die Tür öffnete, vorbeigestürmt wie einer, der sich sehr gut auskennt.

Er ist ungefähr eine halbe Stunde im Haus geblieben, und ich konnte ihn hin und wieder sehen, wie er hinter den Fenstern des Wohnraums auf und ab ging, erregt redete und mit den Armen fuchtelte. Dann kam er wieder heraus und sah noch gehetzter aus als zuvor. Als er zum Wagen ging, hat er eine goldene Uhr aus der Tasche gezogen und sie besorgt angesehen. ›Fahren Sie wie der Teufel‹, hat er gerufen, ›erst zu Gross and Hankey's in der Regent Street und dann zur Kirche St. Monica in der Edgware Road. Eine halbe Guinee, wenn Sie es in zwanzig Minuten schaffen!‹

Damit sind sie losgebraust, und ich überlegte mir gerade, ob ich ihnen nicht besser folgen sollte, als ein hübscher kleiner Landauer die Straße heraufkam; der Kutscher hatte seine Jacke nur zur Hälfte zugeknöpft und die Krawatte saß unter dem Ohr, und alle Riemen starrten aus den Schnallen des Geschirrs heraus. Der Wagen stand noch nicht, als sie auch schon aus der Tür geschossen kam und einstieg. Ich habe in diesem Moment nur einen kurzen Blick auf sie werfen können, aber sie ist eine wunderschöne Frau, mit einem Gesicht, für das mancher Mann sein Leben hingäbe.

›Die St. Monica-Kirche, John‹, rief sie, ›und einen halben Sovereign, wenn wir in zwanzig Minuten dort sind.‹

Die Gelegenheit war zu gut, um sie verstreichen zu lassen, Watson. Ich habe noch überlegt, ob ich laufen oder hinten auf ihrem Landauer aufsitzen soll, als eine Mietdroschke die Straße herunterkam. Der Fahrer hat seinen schäbigen Fahrgast mißtrauisch angesehen, ich bin aber in den Wagen gesprungen, bevor er Einwände erheben konnte. ›Die St. Monica-Kirche‹, habe ich gesagt, ›und einen halben Sovereign, wenn Sie es in zwanzig Minuten schaffen.‹ Es war fünfundzwanzig Minuten vor zwölf, und natürlich war mir klar, was in der Luft lag.

Mein Kutscher ist sehr schnell gefahren. Ich glaube nicht, daß er jemals schneller gefahren ist, aber die anderen waren vor uns dort. Droschke und Landauer mit dampfenden Pferden standen vor der Tür, als ich ankam. Ich habe den Mann bezahlt und bin in die Kirche gestürzt. Keine Menschenseele war in der Kirche, außer den beiden, denen ich gefolgt war, und einem Priester im Chorhemd, der ihnen Vorhaltungen zu machen schien. Sie standen alle drei dicht zusammen vor dem Altar. Ich bin durch den Seitengang nach vorn geschlendert wie ein beliebiger Müßiggänger, der zufällig in eine Kirche hineinschaut. Zu meiner Überraschung drehen sich die drei am Altar plötzlich zu mir um, und Godfrey Norton kommt zu mir gestürmt, so schnell er kann.

›Gott sei Dank!‹ ruft er, ›Sie können uns helfen. Kommen Sie! Kommen Sie!‹

›Was gibt's denn?‹ frage ich.

›Kommen Sie, Mann, kommen Sie, nur noch drei Minuten, sonst ist es nicht rechtsgültig.‹

Er hat mich förmlich zum Altar gezerrt, und bevor ich so recht wußte wo ich war, murmelte ich schon Antworten, die man mir ins Ohr flüsterte, und verbürgte mich für Dinge, von denen ich nichts wußte, und im übrigen half ich dabei, die Jungfer Irene Adler fest und sicher an den Junggesellen Godfrey Norton zu binden. Alles war im Nu erledigt, und da standen der Gentleman auf einer und die Lady auf der anderen Seite und dankten mir, und der Priester strahlte mich von vorn an. Es war die lächerlichste Situation, in der ich mich in meinem Leben je befunden habe, und beim Gedanken daran habe ich vorhin so gelacht. Anscheinend hatte es in ihren Papieren einen Formfehler gegeben, so daß der Priester sich kategorisch weigerte, sie ohne einen Zeugen zu vermählen, und mein glückliches Auftauchen hat den Bräutigam davor gerettet, einen Ausfall auf die Straße unternehmen und einen Brautführer suchen zu müssen. Die Braut hat mir einen Sovereign gegeben, und ich beabsichtige, ihn als Andenken an dieses Ereignis an meiner Uhrkette zu tragen.«

»Die Sache nimmt einen reichlich unerwarteten Verlauf«, sagte ich; »und was ist dann geschehen?«

»Nun ja, meine Pläne waren natürlich vom Scheitern bedroht. Es sah so aus, als könnte das Paar sich sofort auf eine Reise begeben, was umgehende und energische Maßnahmen meinerseits erfordert hätte. Sie trennten sich aber an der Kirchentür; er ist zurückgefahren zum Temple und sie zu ihrem Haus. ›Ich werde wie üblich um fünf im Park ausfahren‹, sagte sie, als sie von ihm wegging. Mehr habe ich nicht gehört. Sie sind in verschiedene Richtungen gefahren, und ich bin aufgebrochen, um meine eigenen Vorkehrungen zu treffen.«

»Welcher Art?«

»Kaltes Rindfleisch und ein Glas Bier«, antwortete er, wobei er die Glocke betätigte. »Ich war zu beschäftigt, um an Essen zu denken, und wahrscheinlich werde ich heute abend noch beschäftigter sein. Übrigens, Doktor, ich brauche Ihre Mitwirkung.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Macht es Ihnen etwas aus, das Gesetz zu übertreten?«

»Nicht im mindesten.«

»Oder möglicherweise verhaftet zu werden?«

»Nicht wenn es für eine gute Sache ist.«

»Oh, es ist eine ganz ausgezeichnete Sache!«

»Dann bin ich dabei.«

»Ich war sicher, daß ich mich auf Sie würde verlassen können.«

»Aber was haben Sie denn vor?«

»Ich werde es Ihnen erklären, wenn Mrs. Turner das Tablett gebracht hat. – So«, sagte er, als er sich hungrig auf die einfache Mahlzeit stürzte, die unsere Wirtin beschafft hatte, »wir müssen das besprechen, während ich esse, ich habe nämlich nicht viel Zeit. Es ist jetzt fast fünf. In zwei Stunden müssen wir auf dem Schauplatz sein. Miss Irene, oder genauer Madame, kommt um sieben Uhr von ihrer Ausfahrt zurück. Wir müssen in Briony Lodge sein, um sie zu treffen.«

»Und was dann?«

»Das müssen Sie mir überlassen. Ich habe schon für alles Vorkehrungen getroffen. Es gibt nur einen Punkt, auf dem ich bestehen muß. Sie dürfen sich nicht einmischen, ganz gleich, was geschieht. Haben Sie das verstanden?«

»Ich soll unbeteiligt bleiben?«

»Sie sollen gar nichts tun. Vermutlich werden sich einige kleine Unfreundlichkeiten ereignen. Halten Sie sich heraus. Es wird damit enden, daß man mich ins Haus schleppt. Vier oder fünf Minuten später wird sich das Fenster des Wohnraums öffnen. Sie sollen sich nahe bei diesem offenen Fenster aufhalten.«

»Ja.«

»Und Sie sollten mich im Auge behalten, denn Sie werden mich sehen können.«

»Ja.«

»Und wenn ich meine Hand hebe – so –, werden Sie etwas in den Raum werfen, was ich Ihnen gebe, und gleichzeitig werden Sie ›Feuer‹ rufen. Können Sie mir folgen?«

»Ich kann.«

»Es ist nichts besonders Großartiges«, sagte er; er nahm eine längliche, zigarrenförmige Walze aus der Tasche. »Das ist eine gewöhnliche Rauchpatrone, wie Klempner sie zum Aufspüren von Rohrbrüchen benutzen, auf jeder Seite eine Kappe zur Selbstzündung. Das ist alles, was Sie zu tun haben. Wenn Sie ›Feuer‹ rufen, wird eine ganze Menge Leute in den Schrei einstimmen. Danach können Sie zum Ende der Straße gehen, und ich werde innerhalb von zehn Minuten zu Ihnen stoßen. Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt?«

»Ich soll unbeteiligt bleiben, in die Nähe des Fensters kommen, Sie im Auge behalten und auf Ihr Zeichen hin diesen Gegenstand in den Raum werfen, dann ›Feuer‹ schreien und an der Straßenecke auf Sie warten.«

»Ganz genau.«

»Wenn das alles ist, können Sie sich voll und ganz auf mich verlassen.«

»Ausgezeichnet. Ich glaube, es ist fast an der Zeit, mich auf meine neue Rolle vorzubereiten.«

Er verschwand in seinem Schlafgemach und kam einige Minuten später als freundlicher und einfältig dreinblickender nonkonformistischer Geistlicher8 zurück. Sein breiter schwarzer Hut, die ausgebeulten Hosen, das weiße Beffchen, das sympathische Lächeln und der allgemeine Ausdruck spähender und wohlwollender Neugier ließen ihn wie die Bilderbuchausgabe eines betulichen Priesters erscheinen. Nicht, daß Holmes nur seine Kleidung gewechselt hätte. Sein Ausdruck, seine Haltung, ja seine Seele schien sich mit jeder neuen Rolle, in die er schlüpfte, zu verändern. Die Bühne verlor einen prächtigen Schauspieler und die Wissenschaft verlor einen scharfen Denker, als er zum Verbrechensexperten wurde.

Es war Viertel nach sechs, als wir aus dem Haus in der Baker Street gingen, und zehn vor sieben, als wir Serpentine Avenue erreicht hatten. Die Abenddämmerung war bereits gefallen und man zündete gerade die Lampen an, während wir vor Briony Lodge auf und ab wanderten und auf die Heimkehr der Bewohnerin warteten. Das Haus war genau so, wie ich es mir nach Sherlock Holmes' bündiger Beschreibung vorgestellt, doch schien die Lage weniger abgeschieden zu sein, als ich erwartet hatte. Im Gegenteil: Für eine kleine Straße in ruhiger Gegend war sie auffallend lebhaft. Eine Gruppe schäbig gekleideter Männer rauchte und lachte an einer Ecke, da war ein Scherenschleifer mit seinem Schleifstein, zwei Gardisten schäkerten mit einem Kindermädchen, und mehrere gutgekleidete junge Männer mit Zigarren schlenderten hin und her.

»Sie sehen«, bemerkte Holmes, während wir vor dem Haus auf und ab gingen, »diese Eheschließung vereinfacht die Sache entschieden. Damit wird die Photographie zu einer zweischneidigen Waffe. Es besteht die Möglichkeit, daß die Dame ebenso dagegen ist, daß Mr. Godfrey Norton das Bild sieht, wie unser Klient dagegen ist, daß es seiner Prinzessin zu Augen kommt. Nun ist allerdings die Frage: Wo können wir die Photographie finden?«

»Ja, das stimmt. Wo?«

»Es ist nicht wahrscheinlich, daß sie sie bei sich trägt. Sie ist fast so groß wie eine Postkarte. Zu groß, um irgendwo in der Kleidung einer Frau versteckt zu werden. Sie weiß, daß der König imstande ist, ihr auflauern und sie durchsuchen zu lassen. Zwei derartige Versuche sind schon unternommen worden. Wir können also wohl davon ausgehen, daß sie sie nicht bei sich trägt.«

»Wo hat sie sie denn dann?«

»Bei ihrem Bankier oder ihrem Anwalt. Diese doppelte Möglichkeit gibt es. Ich glaube aber eher, daß keine von beiden zutrifft. Frauen sind von Natur aus Geheimniskrämer, und sie möchten ihre Geheimnisse für sich behalten. Warum sollte sie das Bild jemandem übergeben? Sich selbst kann sie vertrauen, aber sie könnte niemals sicher sein, daß nicht indirekt oder politisch Einfluß auf einen Geschäftsmann ausgeübt wird. Und denken Sie außerdem daran, daß sie sich entschlossen hat, das Bild innerhalb der nächsten Tage zu verwenden. Es muß an einer Stelle sein, an der sie es sofort findet. Es muß in ihrem eigenen Haus sein.«

»Aber da ist doch zweimal eingebrochen worden.«

»Pah! Die wissen nicht, wie man gründlich sucht.«

»Und wie wollen Sie suchen.«

»Ich werde nicht suchen.«

»Was denn?«

»Ich werde sie dazu bringen, es mir zu zeigen.«

»Sie wird sich bestimmt weigern.«

»Das wird sie gar nicht können. Aber ich höre Räder rattern. Das ist ihr Wagen. Führen Sie nun bitte meine Anweisungen buchstabengetreu aus.«

Noch während er sprach, kam das Leuchten der Seitenlampen einer Kutsche um die Biegung der Avenue. Es war ein ansehnlicher kleiner Landauer, und er ratterte bis zur Tür von Briony Lodge. Als der Wagen zum Stehen kam, stürzte einer der herumlungernden Männer von der Ecke vor, um die Tür zu öffnen, in der Hoffnung, eine Kupfermünze zu verdienen; er wurde jedoch von einem anderen Faulenzer beiseitegestoßen, der in der gleichen Absicht zum Wagen gerannt war. Ein heftiger Streit brach aus, der noch größere Ausmaße annahm, weil die beiden Gardisten sich auf die Seite eines der Lungerer schlugen und der Scherenschleifer sich mit gleicher Hitzigkeit auf die andere stellte. Schläge wurden ausgeteilt, und innerhalb eines Augenblicks war die Dame, die aus der Kutsche gestiegen war, der Mittelpunkt eines Knäuels zornroter, kämpfender Männer, die einander wild mit Fäusten und Stöcken bearbeiteten. Holmes stürzte sich in die Menge, um die Dame zu schützen; genau in dem Moment jedoch, da er sie erreichte, stieß er einen Schrei aus und stürzte zu Boden, und Blut strömte über sein Gesicht. Bei seinem Sturz zahlten die Gardisten Fersengeld nach der einen, die Lungerer nach der anderen Seite, wogegen eine Anzahl besser gekleideter Leute, die dem Handgemenge zugesehen hatten, ohne sich zu beteiligen, sich nun herandrängten, um der Dame zu helfen und sich um den verletzten Mann zu kümmern. Irene Adler, wie ich sie immer noch nennen will, war die Stufen hinaufgeeilt; nun jedoch stand sie oben auf der Treppe und blickte zurück zur Straße, und ihre herrliche Gestalt war umrissen von der Beleuchtung der Eingangshalle.

»Ist der arme Gentleman schlimm verletzt?« fragte sie.

»Er ist tot«, riefen mehrere Stimmen.

»Nein, nein, er lebt noch«, schrie eine andere. »Aber er wird hinüber sein, bevor man ihn ins Hospital bringen kann.«

»Er ist ein tapferer Kerl«, sagte eine Frau. »Wenn er nicht gewesen wäre, dann hätten sie die Börse und die Uhr der Lady bekommen. Das muß eine Bande gewesen sein, und rauh außerdem. Ah, er atmet noch.«

»Er kann nicht hier auf der Straße liegen bleiben. Können wir ihn reinbringen, Ma'm?«

»Natürlich. Bringen Sie ihn in den Wohnraum. Da steht ein bequemes Sofa. Hier entlang, bitte!«

Langsam und feierlich trugen sie ihn nach Briony Lodge hinein und legten ihn im großen Raum nieder, während ich die Vorgänge weiterhin von meinem Posten beim Fenster aus beobachtete. Die Lampen waren angezündet worden, aber man hatte die Gardinen nicht zugezogen, so daß ich Holmes auf der Couch liegen sehen konnte. Ich weiß nicht, ob er in diesem Moment Gewissensbisse wegen der von ihm gespielten Rolle verspürte, ich weiß aber, daß ich mich in meinem ganzen Leben nie so sehr geschämt habe wie in diesem Augenblick, als ich das wunderschöne Geschöpf sah, gegen das ich konspirierte, und die Anmut und Güte, mit der die Frau sich um den verletzten Mann kümmerte. Und dennoch wäre es der finsterste Verrat an Holmes gewesen, wenn ich mich nun von der mir anvertrauten Aufgabe fortgestohlen hätte. Ich verschloß mein Herz und zog die Rauchpatrone unter meinem Ulster hervor. Wenigstens, dachte ich bei mir, fügen wir ihr keinen Schaden zu. Wir hindern sie nur daran, einem anderen zu schaden.

Holmes hatte sich auf der Couch aufgerichtet, und ich sah ihn gestikulieren wie einen, der keine Luft bekommt. Ein Dienstmädchen stürzte ans Fenster und riß es auf. Im gleichen Augenblick sah ich, wie er die Hand hob, und auf das Zeichen hin warf ich mit dem Schrei »Feuer« meine Patrone in den Raum. Ich hatte das Wort noch kaum gerufen, als auch schon die ganze Menge der Zuschauer, gut und schlecht Gekleidete – Gentlemen, Stallknechte und Dienstmädchen – allesamt »Feuer« zu schreien begannen. Dicke Rauchwolken bildeten sich im Raum und quollen aus dem Fenster. Undeutlich sah ich eilende Gestalten, und einen Augenblick später hörte ich Holmes' Stimme im Haus, wie sie alle damit beruhigte, daß es ein falscher Alarm sei. Ich schlüpfte durch die rufende Menge und begab mich zur Straßenecke, und zehn Minuten später fühlte ich zu meiner Erleichterung den Arm meines Freundes in meinem, und wir entfernten uns von der Szene des Aufruhrs. Einige Minuten lang schritt Holmes schnell aus und schwieg, bis wir in eine der ruhigen Straßen eingebogen waren, die zur Edgware Road führen.

»Das haben Sie sehr gut gemacht, Doktor«, bemerkte er.

»Es hätte nicht besser sein können. Alles ist in Ordnung.«

»Dann haben Sie die Photographie?«.

»Ich weiß, wo sie ist.«

»Und wie haben Sie das herausgefunden?«

»Sie hat sie mir gezeigt, wie ich es Ihnen vorausgesagt habe.«

»Ich begreife noch immer nichts.«

»Ich will kein Geheimnis daraus machen«, sagte er lachend. »Die Sache war ganz einfach. Sie haben natürlich sofort gesehen, daß alle auf der Straße Komplizen waren. Ich hatte sie alle für diesen Abend engagiert.«

»So viel hatte ich mir gedacht.«

»Als dann das Durcheinander losging, hatte ich ein wenig feuchte rote Farbe in der Handfläche. Ich bin losgerannt, gestürzt, habe die Hand vors Gesicht geschlagen und wurde zu einem erbarmungswürdigen Anblick. Das ist ein alter Trick.«

»Auch das habe ich noch durchschaut.«

»Dann hat man mich hineingetragen. Sie mußte mich natürlich ins Haus holen. Was hätte sie sonst tun können? Und in ihren Wohnraum, und das ist genau der Raum, den ich in Verdacht hatte. Das heißt, dieser oder ihr Schlafraum, und ich war entschlossen, herauszufinden, welcher es war. Man hat mich auf eine Couch gelegt, ich habe so getan, als bekäme ich keine Luft, sie mußten das Fenster öffnen und das war Ihre Gelegenheit.«

»Inwiefern hat Ihnen das geholfen?«

»Das war das Wichtigste überhaupt. Wenn eine Frau glaubt, ihr Haus stehe in Flammen, dann läßt ihr Instinkt sie zuerst zu dem Objekt laufen, das sie am höchsten schätzt. Dieser Impuls ist unwiderstehlich, und ich habe mehr als nur einmal meinen Nutzen daraus gezogen. Im Fall des Skandals um die Darlington-Unterschiebung hat er mir genutzt, und ebenso in der Sache Answorth Castle. Eine verheiratete Frau greift nach ihrem Baby – eine unverheiratete nach ihrer Schmuckschatulle. Nun war mir klar, daß unsere heutige Dame nichts für sie Kostbareres im Haus hatte als das, was wir suchen. Sie würde also loslaufen, um es in Sicherheit zu bringen. Der Feueralarm war hervorragend gemacht. Der Rauch und das Geschrei reichten völlig aus, um auch Nerven aus Stahl zu erschüttern. Sie hat wunderbar reagiert. Die Photographie befindet sich in einer Höhlung hinter einer beweglichen Täfelung, gerade oberhalb des rechten Glockenzugs. Sie war im Nu da, und ich konnte einen Blick auf das Bild erhaschen, als sie es halb aus dem Versteck zog. Als ich dann rief, daß es ein falscher Alarm gewesen sei, hat sie es wieder zurückgesteckt, die Patrone angestarrt, dann ist sie aus dem Raum gestürzt, und seither habe ich sie nicht gesehen. Ich bin aufgestanden, habe mich entschuldigt und das Haus verlassen. Ich habe überlegt, ob ich nicht sofort versuchen sollte, das Bild in Sicherheit zu bringen; inzwischen war aber der Kutscher hereingekommen, und da er mich mißtrauisch beobachtet hat, schien es mir besser, zu warten. Ein wenig Übereiltheit kann alles ruinieren.«

»Und nun?« fragte ich.

»Unsere Aufgabe ist fast erledigt. Ich werde morgen mit dem König dort vorsprechen, mit Ihnen zusammen, wenn Sie mit uns kommen mögen. Man wird uns in den Wohnraum führen, wo wir auf die Lady warten können, aber es steht zu vermuten, daß sie, wenn sie kommt, weder uns noch die Photographie antrifft. Es könnte Seiner Majestät eine besondere Befriedigung sein, das Bild eigenhändig wiederzubeschaffen.«

»Und wann wollen Sie dort vorsprechen?«

»Um acht Uhr morgens. Sie wird noch nicht aufsein, wir werden also freies Spiel haben. Außerdem müssen wir schnell sein, denn diese Heirat könnte eine völlige Umstellung in ihrem Leben und ihren Gewohnheiten bedeuten. Ich muß unverzüglich dem König drahten.«

Wir hatten die Baker Street erreicht und waren vor der Tür stehengeblieben. Er suchte in seinen Taschen nach dem Schlüssel, als ein Passant sagte:

»Gute Nacht, Mister Sherlock Holmes.«

Zu dieser Zeit waren mehrere Leute auf dem Gehweg, aber der Gruß schien von einem schmächtigen Jüngling in einem Ulster zu kommen, der an uns vorbeigeeilt war.

»Die Stimme habe ich schon einmal gehört«, sagte Holmes; er starrte die undeutlich erhellte Straße hinab. »Also, ich wüßte gern, wer zum Teufel das gewesen sein mag.«

Die Abenteuer des Sherlock Holmes

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