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Die Liga der Rotschöpfe

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An einem Tag im Herbst letzten Jahres besuchte ich meinen Freund Sherlock Holmes und fand ihn vertieft in ein Gespräch mit einem sehr stämmigen, älteren Gentleman mit blühender Gesichtsfarbe und feurig rotem Haar. Ich wollte mit einer Entschuldigung ob meines Eindringens sogleich wieder gehen, doch zerrte Holmes mich jäh in den Raum hinein und schloß die Tür hinter mir.

»Sie hätten unmöglich zu einer besseren Zeit kommen können, mein lieber Watson«, sagte er herzlich.

»Ich dachte, Sie seien beschäftigt.«

»Das bin ich auch. Sehr sogar.«

»Dann will ich gern im Nebenzimmer warten.«

»Das kommt nicht in Frage. Dieser Gentleman, Mr. Wilson, ist bei vielen meiner erfolgreichsten Fälle mein Partner und Helfer gewesen, und ich zweifle nicht daran, daß er mir auch in Ihrem Fall überaus nützlich sein wird.«

Der stämmige Gentleman erhob sich zur Hälfte aus seinem Sessel, nickte grüßend und warf mir aus seinen kleinen, von Fettkringeln umgebenen Augen einen schnellen, fragenden Blick zu.

»Nehmen Sie das Sofa«, sagte Holmes; er ließ sich wieder in seinen Lehnsessel sinken und legte die Fingerspitzen aneinander, wie gewöhnlich, wenn er in scharfem Denken begriffen war. »Ich weiß, mein lieber Watson, daß Sie meine Liebe für alles Bizarre teilen, das außerhalb der Konventionen und des Alltagseinerleis liegt. Ihr Gefallen daran haben Sie durch die Begeisterung gezeigt, mit der Sie viele meiner kleinen Abenteuer aufgezeichnet und, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, gern auch ausgeschmückt haben.«

»Ihre Fälle haben wirklich immer mein größtes Interesse gefunden«, bemerkte ich.

»Sie werden sich daran erinnern, daß ich vor einiger Zeit, kurz bevor wir uns mit dem sehr einfachen Problem beschäftigten, das uns Miss Mary Sutherland9 vorlegte, angemerkt habe, daß jemand, der merkwürdige Vorfälle und außergewöhnliche Zusammenfügungen haben will, sich dem Leben selbst zuwenden muß, das immer viel kühner ist als alle Höhenflüge der Phantasie.«

»Eine Behauptung, die anzuzweifeln ich mir erlaubt habe.«

»So ist es, Doktor, aber trotzdem müssen Sie sich zu meiner Ansicht bequemen; andernfalls werde ich Tatsachen über Tatsachen auf Sie häufen, bis Ihr Verstand darunter zusammenbricht und zugibt, daß ich recht habe. Nun hat heute morgen Mr. Jabez Wilson hier die Freundlichkeit besessen, mich aufzusuchen, und begonnen, mir eine Geschichte zu erzählen, die eine der ausgefallensten zu sein verspricht, die ich seit langem vernommen habe. Sie haben sicher meine Feststellung gehört, daß die seltsamsten und einzigartigen Dinge sehr oft nicht mit den großen, sondern mit den kleineren Verbrechen zusammenhängen oder gelegentlich sogar dort zu finden sind, wo man bezweifeln darf, daß ein eindeutiges Verbrechen überhaupt begangen worden ist. Soweit ich bis jetzt gehört habe, ist es mir unmöglich, zu sagen, ob im vorliegenden Fall ein Verbrechen vorliegt oder nicht, aber der Ablauf der Ereignisse gehört gewiß zu den seltsamsten Dingen, denen ich je gelauscht habe. Vielleicht hätten Sie die große Güte, Mr. Wilson, mit Ihrer Erzählung noch einmal von vorn zu beginnen. Ich bitte Sie darum nicht nur, weil mein Freund Dr. Watson den Beginn nicht gehört hat, sondern auch, weil die Eigentümlichkeit Ihrer Geschichte mich wünschen läßt, jede nur denkbare Einzelheit aus Ihrem Munde zu erfahren. In der Regel bin ich imstande, wenn ich erst einige einfache Hinweise auf den Ablauf der Dinge erhalten habe, mich selbst darin zurechtzufinden, und zwar mit Hilfe der tausende ähnlicher Fälle, deren ich mich entsinne. Im vorliegenden Fall muß ich jedoch zugeben, daß die Tatsachen, soweit ich dies glaube beurteilen zu können, einmalig sind.«

Mit einem Anflug von leisem Stolz wölbte der stattliche Klient seine Brust und zog eine schmutzige, zerknüllte Zeitung aus der Innentasche seines Paletots. Während er die Spalte mit Annoncen überflog, mit vorgestrecktem Kopf und auf den Knien ausgebreiteter Zeitung, sah ich mir den Mann gründlich an und versuchte, nach der Art meines Gefährten das zu lesen, was seine Kleidung oder sein Äußeres an Hinweisen enthalten mochten.

Ich gewann jedoch nicht viel durch meine Prüfung. Unser Besucher wies alle Kennzeichen eines durchschnittlichen, normalen britischen Geschäftsmannes auf: beleibt, wichtigtuerisch, behäbig. Er trug ziemlich ausgebeulte, grauweiß karierte Wollhosen, einen nicht übermäßig sauberen, vorn aufgeknöpften Gehrock, eine mausgraue Weste mit einer kurzen schweren Uhrkette aus Messing und einem viereckigen, durchbohrten Metallstück, das zur Zierde daran baumelte. Ein abgeschabter Zylinder und sein ausgeblichen brauner Mantel mit runzligem Samtkragen lagen auf einem Stuhl neben ihm. So genau ich auch hinsehen mochte, alles in allem war an diesem Mann nichts besonders bemerkenswert, abgesehen von seinem feuerroten Schopf und dem auf seinen Zügen liegenden Ausdruck von großem Kummer und Unzufriedenheit.

Sherlock Holmes' schnelles Auge nahm meine Beschäftigung wahr, und lächelnd schüttelte er den Kopf, als er meine fragenden Blicke bemerkte. »Neben den offensichtlichen Tatsachen, daß er zu irgendeiner Zeit mit seinen Händen gearbeitet hat, daß er Tabak schnupft, daß er Freimaurer ist, daß er in China war und daß er in der letzten Zeit sehr viel geschrieben hat, kann ich nichts deduzieren.«

Mr. Jabez Wilson fuhr in seinem Sessel auf; sein Zeigefinger lag auf der Zeitung, seine Augen jedoch auf meinem Gefährten.

»Wie um alles in der Welt können Sie das wissen, Mr. Holmes?« fragte er. »Woher wissen Sie zum Beispiel, daß ich mit den Händen gearbeitet habe? Es ist so wahr wie die Bibel, ich habe als Schiffszimmermann angefangen.«

»Ihre Hände, mein lieber Sir. Ihre rechte Hand ist um einiges größer als Ihre linke. Sie haben mit ihr gearbeitet, und die Muskeln sind besser entwickelt.«

»Gut, und der Schnupftabak, und die Freimaurerei?«

»Ich will Ihre Intelligenz nicht dadurch beleidigen, daß ich Ihnen erzähle, woran ich das ablesen kann, vor allem da Sie, wohl eher gegen die strikten Weisungen Ihres Ordens, eine Brosche mit Bogen und Zirkel tragen.«

»Ah, natürlich, das hatte ich vergessen. Aber die Schreibarbeit?«

»Was sonst könnte es bedeuten, daß Ihr rechter Ärmelaufschlag bis fast fünf Zoll oberhalb des Handgelenks so glänzt und daß der linke Ärmel am Ellenbogen da glatt ist, wo Sie den Arm auf den Tisch stützen?«

»Nun gut, aber China?«

»Ein Fisch, wie Sie ihn unmittelbar über dem rechten Handgelenk tätowiert tragen, kann nur in China verfertigt worden sein. Ich habe mich ein wenig mit Tätowierungen beschäftigt und sogar einen Beitrag zur Literatur über dieses Thema geleistet. Diese Art, die Fischschuppen zartrosa zu tönen, ist nur in China üblich. Wenn ich zusätzlich dazu eine chinesische Münze an Ihrer Uhrkette hängen sehe, wird die Sache noch einfacher.«

Mr. Jabez Wilson lachte betroffen. »Also, das hätte ich nicht für möglich gehalten!« sagte er. »Zuerst habe ich gemeint, Sie tun da etwas besonders Schlaues, aber jetzt sehe ich, daß gar nichts dabei ist.«

»Ich beginne zu fürchten, Watson«, sagte Holmes, »daß ich einen Fehler begehe, indem ich erkläre. Omne ignotum pro magnifico,10 Sie wissen ja, und meine bescheidene Reputation, wenn es sie denn gibt, wird Schiffbruch erleiden, wenn ich so aufrichtig bin. Können Sie die Anzeige nicht finden, Mr. Wilson?«

»Doch, hier habe ich sie endlich«, erwiderte er; sein dicker rötlicher Finger zeigte auf eine Stelle etwa in der Mitte der Spalte. »Da ist sie. Damit hat alles angefangen. Sie müssen das selbst lesen, Sir.«

Ich nahm die Zeitung aus seinen Händen und las das Folgende:

An die Liga der Rotschöpfe – In Zusammenhang mit dem Vermächtnis des verstorbenen Ezekiah Hopkins aus Lebanon, Penn, U.S.A., ist nun eine weitere Stelle zu besetzen, die ein Mitglied der Liga für rein symbolische Dienste zu einem Wochenlohn von vier Pfund berechtigt. Alle rotschöpfigen Männer, die körperlich und geistig gesund und älter als einundzwanzig Jahre sind, kommen hierfür in Frage. Bewerben Sie sich persönlich am Montag, um elf Uhr, bei Duncan Ross in den Geschäftsräumen der Liga, 7 Pope's Court, Fleet Street.

»Was um alles in der Welt soll das bedeuten?« rief ich aus, nachdem ich diese außergewöhnliche Ankündigung zweimal durchgelesen hatte.

Holmes kicherte und rutschte in seinem Sessel hin und her, wie er es gewöhnlich tat, wenn er bester Laune war. »Das ist ein wenig außerhalb des Üblichen, nicht wahr?« sagte er. »Und nun, Mr. Wilson, schießen Sie los und erzählen Sie uns alles über sich, Ihren Haushalt, und die Auswirkung, die diese Anzeige auf Ihr Leben hatte. Zuerst aber, Doktor, merken Sie sich Zeitung und Datum.«

»Es ist die Morning Chronicle vom 27. April 1890. Nur knapp zwei Monate alt11

»Sehr gut. Nun, Mr. Wilson?«

»Also, es ist genau, wie ich es Ihnen erzählt habe, Mr. Sherlock Holmes«, sagte Jabez Wilson. Er wischte sich die Stirn. »Ich habe eine kleine Pfandleihe am Coburg Square, in der Nähe der City. Es ist nichts besonders Großes, und in den letzten Jahren hat es nicht mehr abgeworfen als eben meinen Lebensunterhalt. Früher konnte ich mir einmal zwei Assistenten leisten, jetzt nur noch einen; und auch ihn könnte ich nicht bezahlen, wenn er nicht bereit wäre, für den halben Lohn zu arbeiten, um das Geschäft zu erlernen.«

»Wie heißt dieser entgegenkommende junge Mann?« fragte Sherlock Holmes.

»Sein Name ist Vincent Spaulding, und so jung ist er auch nicht mehr. Sein Alter ist schwer zu schätzen. Einen fähigeren Assistenten könnte ich mir nicht wünschen, Mr. Holmes, und ich weiß sehr wohl, daß er sich verbessern und mindestens das Doppelte von dem verdienen könnte, was ich ihm zahlen kann. Aber was tut's? Wenn er zufrieden ist, warum sollte ich ihm dann Rosinen in den Kopf setzen?«

»Das ist richtig, warum auch? Sie scheinen sehr viel Glück zu haben mit einem Angestellten, der unter dem Marktpreis arbeitet. Das ist in dieser Zeit nicht eben eine verbreitete Erfahrung unter Arbeitgebern. Ich bin nicht sicher, ob Ihr Assistent nicht ebenso bemerkenswert ist wie Ihre Anzeige.«

»Oh, er hat auch seine Fehler«, sagte Mr. Wilson. »Noch nie hat es einen derartigen Liebhaber der Photographie gegeben. Er knipst mit seiner Kamera herum, statt wichtigere Dinge zu lernen, und dann taucht er in den Keller wie ein Kaninchen ins Loch, um seine Bilder zu entwickeln. Das ist sein Hauptfehler; aber insgesamt arbeitet er gut. Er hat keine Laster.«

»Ich nehme an, er ist noch immer bei Ihnen?«

»Ja, Sir. Er und ein vierzehnjähriges Mädchen, das ein wenig kocht und saubermacht – das ist alles, was ich im Hause habe, ich bin nämlich Witwer, und Familie habe ich nie gehabt. Wir leben sehr ruhig, wir drei; wir haben ein Dach über dem Kopf und zahlen unsere Schulden, wenn wir auch sonst nicht viel tun.

Was uns zuallererst verblüfft hat, war diese Anzeige. Spaulding ist heute vor genau acht Wochen mit dieser Zeitung hier in der Hand in den Laden gekommen und sagt: ›Bei Gott, ich wünschte, ich wäre ein Rotschopf, Mr. Wilson.‹

›Warum?‹ frage ich.

›Warum?‹ sagt er. ›Hier, da ist schon wieder eine Stelle bei der Liga der Rotschöpfigen Männer frei. Wer die Stelle bekommt, kann ein nettes Vermögen dabei machen, und soviel ich weiß gibt es mehr freie Stellen als Männer, deshalb wissen die Treuhänder nicht mehr, wohin mit dem Geld. Wenn sich mein Haar nur verfärben wollte, da ist ein schönes gemachtes Bett, in das ich mich gern legen würde.‹

›Was ist denn nun damit?‹ frage ich. Wissen Sie, Mr. Holmes, ich bin ein sehr häuslicher Mann, und weil mein Geschäft zu mir kommt, statt daß ich zu ihm gehen muß, habe ich oft wochenlang den Fuß nicht aus dem Haus gesetzt. Deswegen weiß ich nicht viel über das, was draußen passiert, und bin immer froh über ein paar Neuigkeiten.

›Haben Sie denn noch nie von der Liga der Rothaarigen Männer gehört?‹ fragt er mich mit aufgerissenen Augen.

›Nie.‹

›Also, das verblüfft mich, Sie kommen doch selbst für eine der freien Stellen in Frage.‹

›Und was sind die wert?‹ frage ich.

›Oh, nur ein paar hundert im Jahr, aber die Arbeit ist leicht und braucht einen nicht bei dem zu stören, was man sonst zu tun hat.‹

Sie können sich wohl denken, daß ich die Ohren gespitzt habe, weil mein Geschäft seit einigen Jahren nicht besonders gut war und ein paar hundert extra hätte ich sehr gut gebrauchen können.

›Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen‹, sage ich.

›Hier‹, sagt er und zeigt mir die Anzeige, ›da können Sie selbst sehen, daß die Liga eine Stelle frei hat, und da ist die Adresse, wo Sie nach Einzelheiten fragen sollten. Soweit ich das feststellen kann, ist die Liga von einem amerikanischen Millionär, Ezekiah Hopkins, gegründet worden, der reichlich seltsame Gewohnheiten hatte. Er war selbst rothaarig und hatte große Sympathie für alle Rotschöpfe; als er gestorben ist, hat man herausgefunden, daß er sein ganzes riesiges Vermögen Treuhändern hinterlassen hat mit der Anweisung, die Zinsen zu verwenden, um Männern mit dieser Haarfarbe gute und gemütliche Posten zu verschaffen. Nach allem, was ich gehört habe, ist die Bezahlung sehr gut, und man braucht nicht viel zu tun.‹

›Aber‹, sage ich, ›es gibt doch bestimmt Millionen von Rotschöpfen, die sich da bewerben.‹

›Nicht so viele, wie man glauben könnte‹, sagt er. ›Sehen Sie, das Angebot gilt nur für Londoner, und für Erwachsene. Dieser Amerikaner war aus London aufgebrochen, als er jung war, und er wollte dem lieben alten Ort etwas Gutes tun. Außerdem habe ich gehört, man braucht sich nicht erst zu bewerben, wenn man hellrotes oder dunkelrotes und sonst ein anderes Haar als wirklich leuchtendes, flammendes, feuerrotes hat. Also, wenn Sie sich da bewerben würden, Mr. Wilson, dann hätten Sie die Stelle, aber vielleicht ist es für Sie die Mühe nicht wert, für ein paar hundert Pfund Ihre gewohnte Umgebung zu verlassen.‹

Nun ist es, wie Sie selbst sehen können, Gentleman, eine Tatsache, daß mein Haar eine sehr volle, kräftige Farbe hat, deshalb dachte ich, daß ich eine genauso gute Chance wie jeder, den ich je getroffen habe, hätte, wenn es in der Sache einen Wettbewerb geben sollte. Vincent Spaulding schien so viel darüber zu wissen, daß ich mir gedacht habe, er könnte von Nutzen sein, und deshalb habe ihm sofort befohlen, für den Tag die Fensterläden anzubringen und gleich mit mir zu kommen. Er war sehr für einen freien Tag zu haben, also haben wir den Laden geschlossen und uns auf den Weg zu der Anschrift gemacht, die in der Anzeige stand.

Ich hoffe, nie wieder solch einen Anblick zu sehen, Mr. Holmes. Von Norden, Süden, Osten und Westen waren alle Männer mit einem Anflug von Rot im Haar in die City gekommen, um sich auf die Anzeige zu bewerben. Die Fleet Street war von Rotschöpfen verstopft, und Pope's Court sah aus wie der Verkaufswagen eines Orangenhändlers. Ich hätte nie geglaubt, daß es im ganzen Land so viele Rotschöpfe gibt, wie da wegen dieser einen Anzeige zusammengebracht worden waren. Sie hatten alle möglichen Farbtöne – Stroh, Zitrone, Orange, Ziegel, irischer Hühnerhund, Leber, Tonerde; aber wie Spaulding gesagt hatte, gab es nicht viele, die die richtige, lebendige, flammendrote Farbe hatten. Als ich gesehen habe, wie viele da warteten, hätte ich am liebsten die Hoffnung aufgegeben, aber Spaulding wollte nichts davon wissen. Ich habe keine Ahnung, wie er es geschafft hat, aber er hat gezogen und gestoßen und gerempelt, bis er mich durch die Menge gebracht hatte, und dann gleich die Treppe hinauf, die zu dem Büro führt. Auf der Treppe war ein doppelter Strom – einige gingen hoffnungsvoll hinauf, andere kamen niedergeschlagen herunter, aber wir haben uns durchgedrängt so gut es ging, und bald waren wir im Büro.«

»Ihre Erlebnisse sind ausgesprochen unterhaltsam«, bemerkte Holmes, als sein Klient eine Pause machte und sein Gedächtnis mittels einer großen Prise Schnupftabaks auffrischte. »Bitte, fahren Sie fort mit Ihrem sehr interessanten Bericht.«

»In dem Büro war nichts außer ein paar Holzstühlen und einem Verkaufstisch, hinter dem ein kleiner Mann saß, mit einem Schopf, der noch röter war als meiner. Er hat mit jedem Kandidaten, der an die Reihe kam, ein paar Worte gewechselt, und dann hat er immer irgendeinen Fehler an ihnen gefunden, der sie ausschloß. So einfach schien es dann doch nicht zu sein, an die freie Stelle zu kommen. Als wir an die Reihe gekommen sind, war der kleine Mann mir gegenüber aber wohlwollender als zu irgendeinem der anderen, und als wir eingetreten waren, hat er die Tür geschlossen, um ungestört mit uns reden zu können.

›Das ist Mr. Jabez Wilson‹, sagt mein Assistent, ›und er ist bereit, eine freie Stelle in der Liga aufzufüllen.‹

›Und er ist bestens dazu geeignet‹, antwortet der andere. ›Er erfüllt alle Voraussetzungen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas so Schönes gesehen zu haben.‹ Er geht einen Schritt zurück, legt seinen Kopf auf die Seite und starrt mein Haar an, bis ich ganz verlegen werde. Dann ist er plötzlich vorwärts gesprungen, hat mir die Hand geschüttelt und mir sehr freundlich zu dem Erfolg gratuliert.

›Es wäre ungerecht, zu zögern‹, sagt er. ›Trotzdem werden Sie mir sicher verzeihen, daß ich eine verständliche Vorsichtsmaßnahme treffe.‹ Damit packt er mich mit beiden Händen am Haar und zieht, bis ich vor Schmerzen schreie. ›Sie haben Wasser in den Augen‹, sagt er, als er mich losläßt. ›Ich sehe, alles ist, wie es sein sollte. Aber wir müssen uns vorsehen, wir sind nämlich schon zweimal mit Perücken und einmal mit Farbe getäuscht worden. Ich könnte Ihnen Geschichten von Schusterpapp erzählen, die Sie mit Abscheu vor der menschlichen Natur erfüllen würden.‹ Dann ist er zum Fenster gegangen und hat, so laut er konnte, hinausgeschrien, daß die freie Stelle besetzt ist. Von unten kam ein Stöhnen der Enttäuschung, und die ganzen Leute haben sich in alle Himmelsrichtungen davongemacht, bis außer meinem und dem des Geschäftsführers kein roter Schopf mehr zu sehen war.

›Ich bin Mr. Duncan Ross‹, sagt er, ›und ich selbst bin einer derjenigen, die aus dem Fonds, den unser edler Wohltäter hinterlassen hat, ein Gehalt beziehen. Sind Sie verheiratet, Mr. Wilson? Haben Sie Familie?‹

Ich antworte ihm, daß ich keine habe.

Sein Gesicht wird sogleich düster.

›Liebe Güte!‹ sagt er ernst, ›das ist schlimm! Ich bin sehr traurig, das zu hören. Der Fonds war natürlich gedacht für die Fortsetzung und Verbreitung von Rotschöpfen und ihren Unterhalt. Es ist sehr traurig, daß Sie Junggeselle sind.‹

Ich habe natürlich ein langes Gesicht gemacht, Mr. Holmes, weil ich dachte, ich würde die freie Stelle am Ende doch nicht bekommen; aber nachdem er es sich ein paar Minuten überlegt hatte, sagte er, es ginge in Ordnung.

›Bei einem anderen‹, sagt er, ›wäre das ein entscheidendes Hindernis, aber bei einem Mann mit einem Schopf, wie Sie ihn haben, muß man schon einmal fünf gerade sein lassen. Wann werden Sie sich Ihren neuen Pflichten widmen können?‹

›Nun, das ist ein bißchen schwierig, weil ich nämlich schon ein Geschäft habe‹, sage ich.

›Oh, machen Sie sich deswegen keine Sorgen‹, Mr. Wilsons, sagt Vincent Spaulding. ›Darum werde ich mich schon für Sie kümmern.‹

›Wie sehen meine Dienstzeiten aus?‹ frage ich.

›Zehn bis zwei.‹

Nun macht ein Pfandleiher seine Geschäfte meistens am Abend, Mr. Holmes, vor allem donnerstags und freitags, vor dem Zahltag; es würde mir also gut zupaß kommen, an den Vormittagen ein wenig zu verdienen. Außerdem wußte ich, daß mein Assistent ein guter Mann ist und sich um alles kümmert, das anfallen kann.

›Das ist mir sehr recht‹, sage ich. ›Und die Bezahlung?‹

›Vier Pfund pro Woche.‹

›Und die Arbeit?‹

›Ist rein symbolisch.‹

›Was nennen Sie rein symbolisch?‹

›Nun, Sie müssen die ganze Zeit im Büro oder wenigstens im Gebäude zubringen. Wenn Sie es verlassen, geben Sie Ihre gesamte Stellung für immer auf. Das Testament ist in dieser Beziehung sehr klar. Sie erfüllen die Bedingungen nicht, wenn Sie sich in dieser Zeit aus dem Büro rühren.‹

›Es sind ja nur vier Stunden am Tag, und ich denke nicht daran, in dieser Zeit zu gehen‹, sage ich.

›Alle Entschuldigungen wären zwecklos‹, sagt Mr. Duncan Ross, ›weder Krankheit noch Geschäft noch sonst etwas. Sie müssen dableiben, oder Sie verlieren Ihre Stellung.‹

›Und die Arbeit?‹

›Besteht daraus, aus der Encyclopedia Britannica abzuschreiben. In dem Schrank da liegt der erste Band. Tinte, Federn und Löschpapier müssen Sie sich selbst beschaffen, aber wir stellen diesen Tisch und diesen Stuhl zur Verfügung. Können Sie morgen anfangen?‹

›Natürlich‹, sage ich.

›Dann good-bye, Mr. Jabez Wilson, und erlauben Sie, daß ich Sie nochmals zu der wichtigen Stellung beglückwünsche, die Sie so glücklich errungen haben.‹ Er hat mich höflich aus dem Raum geleitet, und ich bin zusammen mit meinem Assistenten heimgegangen; ich wußte kaum, was ich sagen oder tun sollte, so zufrieden war ich mit meinem glücklichen Los.

Dann habe ich den ganzen Tag lang über die Sache nachgedacht, und abends war ich wieder in bedrückter Stimmung, denn ich hatte mir selbst eingeredet, daß die ganze Angelegenheit ein großer Scherz oder Schwindel sein mußte, obwohl ich mir nicht denken konnte, was man damit bezwecken mochte. Es erschien mir gänzlich unglaublich, daß jemand solch ein Testament machen oder solch eine Summe für eine so einfache Arbeit, wie die Encyclopedia Britannica abschreiben, bezahlen sollte. Vincent Spaulding hat getan, was er konnte, um mich aufzuheitern, aber als es Zeit war, ins Bett zu gehen, hatte ich mir die ganze Sache, aus dem Kopf geschlagen. Am Morgen war ich jedoch entschlossen, mir jedenfalls alles anzusehen, also habe ich für einen Penny eine kleine Flasche Tinte gekauft und mich mit einem Federkiel und sieben Blatt Kanzleipapier nach Pope's Court auf den Weg gemacht.

Zu meiner Überraschung und Freude war aber alles so, wie es nicht besser sein konnte. Der Tisch stand für mich bereit, und Mr. Duncan Ross war anwesend, um dafür zu sorgen, daß ich gut in die Arbeit hineinkam. Er hat mich mit dem Buchstaben A anfangen lassen, und dann ist er gegangen, aber er wollte von Zeit zu Zeit hineinschauen, um sicher zu sein, daß mit mir alles in Ordnung war. Um zwei Uhr hat er mir einen guten Tag gewünscht, mir Komplimente wegen der Menge gemacht, die ich geschrieben hatte, und dann hinter mir die Bürotür abgeschlossen.

So ging es Tag für Tag, Mr. Holmes, und am Samstag kam der Geschäftsführer und hat mir für meine Wochenarbeit vier goldene Sovereigns auf den Tisch gelegt. Genau so war es in der nächsten Woche und auch in der Woche danach. Jeden Morgen war ich um zehn Uhr da, und jeden Nachmittag bin ich um zwei Uhr gegangen. Nach und nach gewöhnte sich Mr. Duncan Ross daran, nur noch einmal am Vormittag hereinzukommen, und nach einiger Zeit kam er überhaupt nicht mehr. Natürlich habe ich trotzdem nie gewagt, den Raum auch nur für einen Augenblick zu verlassen, weil ich nicht sicher war, ob er nicht doch kommen würde, und die Stellung war so schön und paßte mir so gut, daß ich es nicht riskieren wollte, sie zu verlieren.

So vergingen acht Wochen, und ich hatte über Äbte und Arkaden und Armenrecht und Architektur und Attika geschrieben, und ich hoffte zuversichtlich, daß ich bald zu den Bs kommen würde. Das hatte mich einiges an Büttenpapier gekostet, und mit meinem Geschreibe hatte ich ein Regalbord fast gefüllt. Und dann war plötzlich alles zu Ende.«

»Zu Ende?«

»Ja, Sir. Und zwar genau heute früh. Ich bin wie üblich um zehn Uhr zu meiner Arbeit gegangen, aber die Tür war zu und verschlossen, und ein kleines viereckiges Pappschild war auf die Tür genagelt. Hier ist es, und Sie können es selbst lesen.«

Er hielt ein Stück weißer Pappe hoch, etwa so groß wie ein Blatt Notizpapier. Es lautete wie folgt:

DIE LIGA DER ROTSCHÖPFE IST AUFGELÖST 9. OKTOBER 1890

Sherlock Holmes und ich betrachteten diese knappe Mitteilung und das traurige Gesicht dahinter, bis die komische Seite der Angelegenheit jede sonstige Erwägung restlos beiseite schob und wir beide in brüllendes Gelächter ausbrachen.

»Ich wüßte nicht, daß da irgend etwas komisch ist«, rief unser Klient; er errötete bis an die Wurzel seines flammenden Schopfes. »Wenn Sie nichts Besseres tun können als mich auslachen, kann ich genausogut anderswo hingehen.«

»Nein, nein«, rief Holmes und schob ihn zurück in den Sessel, aus dem er sich zur Hälfte erhoben hatte. »Ich möchte Ihren Fall um nichts in der Welt missen. Er ist überaus erfrischend ungewöhnlich. Aber, wenn Sie mir das zu sagen erlauben, es ist daran etwas, das ein klein wenig lustig ist. Bitte, welche Schritte haben Sie unternommen, als Sie die Mitteilung an der Tür gefunden hatten?«

»Ich war fassungslos, Sir. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Schließlich bin ich zum Hausbesitzer gegangen, einem Revisor, der im Erdgeschoß wohnt, und habe ihn gefragt, ob er mir vielleicht sagen könnte, was aus der Liga der Rotschöpfe geworden ist. Er sagte, er hätte nie von einer solchen Körperschaft gehört. Dann habe ich ihn gefragt, wer Mr. Duncan Ross ist. Er hat geantwortet, der Name sei ihm neu.

›Na‹, sage ich, ›der Gentleman in Nummer 4.‹

›Was, der Rotschopf?‹

›Ja.‹

›Oh‹, sagt er, ›sein Name war William Morris. Er ist Anwalt und hat meine Räumlichkeiten vorübergehend benutzt, bis seine neue Kanzlei fertig ist. Er ist gestern ausgezogen.‹

›Wo könnte ich ihn finden?‹

›Na, in seinem neuen Büro. Er hat mir die Anschrift genannt. Ja, 17 King Edward Street, nahe St. Paul's.‹

Ich bin sofort aufgebrochen, Mr. Holmes, aber als ich zu dieser Adresse kam, war es eine Manufaktur für künstliche Kniescheiben, und niemand dort hatte je weder von Mr. William Morris noch von Mr. Duncan Ross gehört.«

»Und was haben Sie dann getan?« fragte Holmes.

»Ich bin heimgegangen, zum Saxe-Coburg Square, und habe den Rat meines Assistenten eingeholt. Aber er konnte mir in keiner Weise helfen. Er konnte nur sagen, ich würde postalisch etwas hören, wenn ich nur Geduld hätte. Aber das war mir nicht genug, Mr. Holmes. Ich wollte eine so gute Stellung nicht kampflos aufgeben, und deshalb bin ich sofort zu Ihnen gekommen, weil ich gehört habe, daß Sie so gut sind, armen Leuten, die sie brauchen, Ratschläge zu geben.«

»Das war ein sehr kluger Entschluß von Ihnen«, sagte Holmes. »Ihr Fall ist über alle Maßen bemerkenswert, und es ist mir ein Vergnügen, mich damit zu befassen. Nach dem, was Sie mir erzählt haben, halte ich es für möglich, daß ernstere Dinge daran hängen, als man auf den ersten Blick denken könnte.«

»Ziemlich ernst«, sagte Jabez Wilson. »Ich habe nämlich vier Pfund die Woche verloren.«

»Soweit Sie persönlich betroffen sind«, meinte Holmes, »sehe ich für Sie keinen Grund, sich über diese außergewöhnliche Liga zu beklagen. Im Gegenteil – wenn ich Sie richtig verstanden habe, sind Sie um etwa dreißig Pfund reicher geworden, ganz zu schweigen von den eingehenden Kenntnissen, die Ihnen über alle mit A beginnenden Themen zuteil geworden sind. Sie haben durch die Liga keinen Verlust erlitten.«

»Nein, Sir. Aber ich möchte herausbekommen, wer sie sind und welches Ziel sie hatten, als sie mir diesen Streich gespielt haben – wenn es ein Streich war. Für sie war es ein ziemlich teurer Spaß, er hat sie nämlich zweiunddreißig Pfund gekostet.«

»Wir werden versuchen, diese Fragen für Sie zu klären. Zunächst eine oder zwei Fragen dazu. Ihr Assistent, der Sie überhaupt erst auf die Anzeige aufmerksam gemacht hat – wie lange war er da bei Ihnen gewesen?«

»Damals ungefähr einen Monat.«

»Wie ist er zu Ihnen gekommen?«

»Auf eine Annonce hin.«

»War er der einzige Bewerber?«

»Nein, ich hatte ein Dutzend.«

»Warum haben Sie ihn genommen?«

»Weil er sehr geschickt war, und außerdem billig.«

»Er wollte nur den halben Lohn, nicht wahr?«

»Ja.«

»Erzählen Sie mir etwas über diesen Vincent Spaulding.«

»Er ist klein, stämmig, in allem sehr schnell, hat kein Haar im Gesicht, obwohl er nicht viel unter dreißig sein kann. Er hat ein weißes Säuremal auf der Stirn.«

Mit beträchtlicher Erregung richtete sich Holmes in seinem Sessel auf.

»Das hatte ich fast erwartet«, sagte er. »Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, ob seine Ohren wie für Ohrringe durchbohrt sind?«

»Ja, Sir. Er hat mir erzählt, daß ein Zigeuner das gemacht hat, als er noch ein Junge war.«

»Hmmm«, machte Holmes; gedankenschwer ließ er sich wieder in den Sessel sinken. »Er ist noch immer bei Ihnen?«

»O ja, Sir; ich habe ihn eben erst verlassen.«

»Und hat er sich während Ihrer Abwesenheit um Ihr Geschäft gekümmert?«

»Kein Grund zur Klage, Sir. Vormittags ist da aber nie sehr viel zu tun.«

»Das hilft mir schon weiter, Mr. Wilson. Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen innerhalb von einem Tag oder zweien ein Gutachten zu diesem Problem geben zu können. Heute ist Samstag, und ich hoffe, daß wir bis Montag zu einem Schluß gelangt sind.«

»Nun, Watson«, sagte Holmes, als unser Besucher uns verlassen hatte, »was halten Sie von der Sache?«

»Ich kann nichts damit anfangen«, antwortete ich freimütig. »Das ist eine ganz mysteriöse Geschichte.«

»In der Regel«, sagte Holmes, »stellt sich eine Sache, je bizarrer sie zu sein scheint, als desto weniger rätselhaft heraus. Es sind die gewöhnlichen Verbrechen ohne auffällige Züge, die am schwierigsten zu lösen sind, genau so, wie ein gewöhnliches Gesicht am schwierigsten zu identifizieren ist. Aber diese Sache muß ich unverzüglich in Angriff nehmen.«

»Was wollen Sie denn machen?« fragte ich.

»Rauchen«, erwiderte er. »Dies ist durchaus ein Drei-Pfeifen-Problem, und ich bitte Sie, die nächsten fünfzig Minuten nicht mit mir zu sprechen.« Er rollte sich in seinem Sessel zusammen, zog die dürren Knie bis zur Falkennase empor und blieb so sitzen, mit geschlossenen Augen, und die schwarze Tonpfeife ragte wie der Schnabel eines seltsamen Vogels hervor. Ich war zu dem Schluß gekommen, daß er eingeschlafen sein mußte, und begann eben selbst einzunicken, als er jäh aus seinem Sessel aufsprang, mit der Miene eines Mannes, der einen Entschluß gefaßt hat; er legte seine Pfeife auf den Kaminsims.

»Sarasate spielt heute nachmittag12 in der St. James' Hall«, bemerkte er. »Was meinen Sie, Watson? Können Ihre Patienten Sie ein paar Stunden entbehren?«

»Ich habe heute nichts zu tun. Meine Praxis nimmt mich nie sehr in Anspruch.«

»Dann setzen Sie Ihren Hut auf und kommen Sie. Ich will zuerst durch die City gehen, und unterwegs können wir einen Lunch zu uns nehmen. Wie ich sehe, besteht das Programm zum größten Teil aus deutscher Musik, die meinem Geschmack eher entspricht als italienische oder französische. Sie ist grüblerisch, und ich möchte grübeln. Kommen Sie!«

Wir fuhren mit der Untergrundbahn bis Aldersgate, und ein kurzer Fußmarsch brachte uns zum Saxe-Coburg Square, dem Schauplatz der einzigartigen Geschichte, der wir morgens gelauscht hatten. Es war ein dumpfer, enger, schäbigfeiner Ort; vier Reihen trüber, zweistöckiger Ziegelhäuser blickten auf eine kleine, von Geländern umgebene Fläche, auf der ein von Unkraut durchsetzter Rasen und einige Grüppchen welker Lorbeerbäume schwer gegen eine rauchüberladene und unfreundliche Atmosphäre anzukämpfen hatten. Drei vergoldete Kugeln und ein braunes Schild an einem Eckhaus, auf dem in weißen Buchstaben Jabez Wilson stand, zeigten uns, wo unser rothaariger Klient seine Geschäfte machte. Sherlock Holmes blieb vor dem Haus stehen, legte den Kopf schief und sah sich alles gründlich an; zwischen halbgeschlossenen Lidern leuchteten seine Augen hell. Danach ging er langsam die Straße hinauf und dann wieder hinab bis zur Ecke und musterte weiter die Häuser. Schließlich kam er zum Haus des Pfandleihers zurück, und nachdem er mit seinem Stock zwei- oder dreimal heftig auf das Pflaster geschlagen hatte, ging er zur Tür und klopfte. Sogleich wurde sie von einem aufgeweckt dreinblickenden, glattrasierten jungen Mann geöffnet, der ihn aufforderte, einzutreten.

»Danke sehr«, sagte Holmes, »aber ich wollte Sie nur fragen, wie man von hier aus nach The Strand kommt.«

»Dritte rechts, vierte links«, antwortete der Assistent prompt und schloß die Tür wieder.

»Das ist ein gerissener Bursche«, bemerkte Holmes, als wir uns von dem Haus entfernten. »Meiner Meinung nach ist er der viertschlaueste Mann in London, und was Verwegenheit angeht, bin ich nicht sicher, ob er nicht Anspruch auf Platz Drei erheben kann. Ich habe von ihm schon einiges gehört.«

»Offenbar spielt Mr. Wilsons Assistent eine nicht unbeträchtliche Rolle in diesem Rätsel der Liga der Rotschöpfe«, sagte ich. »Ich schätze, Sie haben nur deshalb nach dem Weg gefragt, um ihn zu sehen.«

»Nicht ihn.«

»Was denn?«

»Die Knie seiner Hosen.«

»Und was haben Sie gesehen?«

»Was ich erwartet hatte.«

»Warum haben Sie auf das Pflaster geschlagen?«

»Mein lieber Doktor, dies ist nicht die Zeit für Gespräche, sondern für Beobachtungen. Wir sind Spione im Land des Feindes. Wir wissen einiges über den Saxe-Coburg Square. Erforschen wir jetzt die Pfade, die dahinter liegen.«

Als wir am Ende des abgeschiedenen Saxe-Coburg Square um die Ecke bogen, befanden wir uns in einer Straße, die sich von dem Platz so sehr unterschied wie die Vorderseite eines Bildes von der Rückseite. Es war eine der Hauptschlagadern des Verkehrs von der City nach Norden und Westen. Die Fahrbahn war von den ungeheuren, gegenläufigen Gezeitenströmen des in die Stadt und aus ihr heraus fließenden Verkehrs überfüllt, und die Gehsteige waren schwarz von den wimmelnden Schwärmen der Fußgänger. Als wir die Reihen vornehmer Läden und stattlicher Geschäftshäuser betrachteten, konnten wir uns kaum vorstellen, daß auf ihrer Rückseite wirklich der welke, in der Zeit stehengebliebene Platz liegen sollte, den wir eben erst verlassen hatten.

»Nun wollen wir mal sehen«, sagte Holmes; er stand an der Straßenecke und blickte die Häuserfront entlang. »Ich möchte mir die Reihenfolge der Häuser hier genau einprägen. Es ist eines meiner Steckenpferde, London genau zu kennen. Mortimer, der Tabakhändler, der kleine Zeitungsladen, die Coburg-Filiale der City and Suburban Bank, das Vegetarische Restaurant, und das Lagerhaus von McFarlane, dem Wagenbauer. Da beginnt dann der nächste Block. Und nun, Doktor, haben wir unsere Arbeit getan, also ist es an der Zeit für ein wenig Spiel. Ein Sandwich und eine Tasse Kaffee, und dann auf ins Land der Geigen, wo alles Süße und Feinheit und Harmonie ist und keine rotschöpfigen Klienten uns mit Scherzfragen schikanieren.«

Mein Freund war ein begeisterter Musiker und selbst nicht nur ein sehr guter Geiger, sondern auch ein Komponist mit ansehnlichen Leistungen. Er brachte den ganzen Nachmittag in der Parkettloge zu, angetan mit der vollkommensten Heiterkeit; seine langen, schmalen Finger bewegten sich sanft im Takt der Musik, während sein milde lächelndes Gesicht und seine verträumt schmachtenden Augen denen von Holmes dem Spürhund, Holmes dem unerbittlichen, scharfsinnigen, zupackenden Kriminalisten so unähnlich waren, wie man es sich unähnlicher nicht vorstellen kann. Die zwei Wesen seines einzigartigen Charakters setzten sich abwechselnd durch, und seine äußerste Genauigkeit und Schlauheit stellten, wie ich oft bei mir überlegte, eine Reaktion auf die poetische und beschauliche Stimmung dar, die sich seiner gelegentlich bemächtigte. Der Pendelschlag seines Wesens trug ihn von äußerster Mattheit zu verzehrender Energie, und wie ich wohl wußte, war er nie furchtbarer, als wenn er tagelang in seinem Lehnsessel die Zeit zwischen Improvisationen auf der Geige und seinen alten Fraktur-Editionen vertändelt hatte. Dann mochte jählings das Jagdfieber ihn packen, und sein glänzendes Denkvermögen schwang sich zu den Höhen der Intuition auf, bis jene, die mit seinen Methoden nicht vertraut waren, ihn scheel ansahen, als einen Mann, dessen Kenntnisse nicht die anderer Sterblicher waren. Als ich ihn an diesem Nachmittag in der St. James' Hall so völlig in Musik eingehüllt sah, fühlte ich, daß eine schlimme Zeit über jene zu kommen sich anschickte, die zur Strecke zu bringen er sich vorgenommen hatte.

»Sie wollen sicher nach Hause gehen, Doktor«, meinte er, als wir das Konzert verließen.

»Ja, das sollte ich wohl besser tun.«

»Und ich habe Arbeit, die zu erledigen einige Stunden in Anspruch nehmen wird. Diese Geschichte am Coburg Square ist sehr ernst.«

»Inwiefern ernst?«

»Da ist ein großes Verbrechen in Vorbereitung. Ich habe gute Gründe für die Annahme, daß wir es noch rechtzeitig verhindern können. Aber daß heute Samstag ist, macht die Sache noch ein wenig verwickelter. Ich werde heute nacht Ihre Hilfe brauchen.«

»Zu welcher Zeit?«

»Zehn ist früh genug.«

»Ich werde um zehn in der Baker Street sein.«

»Sehr gut. Ach, übrigens, Doktor, es könnte ein wenig gefährlich werden, also seien Sie so gut und stecken Sie Ihren Armeerevolver ein.« Er winkte mir zu, wandte sich auf dem Absatz um und war im Nu in der Menge verschwunden.

Ich nehme an, daß ich nicht beschränkter bin als meine Mitmenschen, aber bei meinem Umgang mit Sherlock Holmes deprimierte mich doch immer das Gefühl meiner eigenen Dummheit. Da hatte ich nun gehört, was er gehört hatte, gesehen, was er gesehen hatte, und doch war aus seinen Worten ersichtlich, daß er nicht nur deutlich sah, was geschehen war, sondern auch, was erst geschehen sollte, während mir die ganze Angelegenheit immer noch verworren und grotesk erschien. Auf der Heimfahrt zu meinem Haus in Kensington überdachte ich alles, von der außerordentlichen Geschichte des rotschöpfigen Kopisten der Encyclopedia bis hin zum Besuch am Saxe-Coburg Square und den ominösen Worten, mit denen sich Holmes von mir verabschiedet hatte. Was war mit dieser nächtlichen Expedition, und warum sollte ich bewaffnet sein? Wohin wollten wir gehen, um dort was zu tun? Ich hatte von Holmes den Hinweis erhalten, daß dieser glattgesichtige Assistent des Pfandleihers ein Mann sei, den man fürchten müsse – ein Mann, der ein dunkles Spiel spielen mochte. Ich zerbrach mir den Kopf, um es auszutüfteln, gab dann aber verzweifelt auf und ließ die Sache auf sich beruhen, in der Hoffnung darauf, daß die Nacht eine Erklärung bringen würde.

Es war Viertel nach neun, als ich von zu Hause aufbrach und mich auf den Weg durch den Park und über die Oxford Street zur Baker Street machte. Zwei zweisitzige Droschken standen vor der Tür, und als ich den Korridor betrat, hörte ich von oben Stimmen. Ich betrat seinen Raum und fand Holmes in angeregtem Gespräch mit zwei Männern vor, deren einen ich als den Polizeibeamten Peter Jones erkannte; der andere war ein langer, dürrer Mann mit traurigem Gesicht, glänzendem Hut und bedrückend respektablem Gehrock.

»Ha! Die Gesellschaft ist versammelt«, sagte Holmes; er knöpfte seine Seemannsjacke zu und nahm die schwere Jagdpeitsche aus dem Ständer. »Watson, ich glaube, Sie kennen Mr. Jones von Scotland Yard? Ich möchte Sie Mr. Merryweather vorstellen, der heute nacht bei unserem Abenteuer mit von der Partie sein wird.«

»Wir jagen wieder als Gespann, Doktor, wie Sie sehen«, sagte Jones in seiner wichtigtuerischen Art. »Unser Freund hier ist bestens geeignet, zur Jagd zu blasen. Er braucht nur einen gerissenen alten Hund, um die Hatz zu Ende zu bringen.«

»Ich hoffe, wir bringen nicht nur ein Hirngespinst zur Strecke«, bemerkte Mr. Merryweather düster.

»Sie können einiges Vertrauen auf Mr. Holmes setzen, Sir«, sagte der Polizeibeamte hochmütig. »Er hängt zwar an seinen eigenen netten Methoden, die – wenn er mir diese Äußerung nicht übelnimmt – ein klein wenig zu theoretisch und phantastisch sind, aber aus ihm könnte ein guter Detektiv werden. Man übertreibt nicht, wenn man feststellt, daß er ein- oder zweimal, wie in der Sache mit dem Sholto-Mord oder dem Schatz von Agra, fast besser war als die offizielle Polizei.«

»Oh, wenn Sie das sagen, Mr. Jones, dann ist es wohl in Ordnung«, meinte der Fremde nachgiebig. »Ich muß trotzdem gestehen, daß ich meine Whist-Partie vermisse. Das ist der erste Samstagabend seit siebenunddreißig Jahren, an dem ich meinen Robber ausfallen lasse13

»Ich glaube, Sie werden feststellen«, sagte Sherlock Holmes, »daß Sie heute nacht um einen höheren Einsatz spielen als je zuvor und daß das Spiel sehr viel aufregender ist. Für Sie, Mr. Merryweather, stehen ungefähr dreißigtausend Pfund auf dem Spiel, und für Sie, Jones, der Mann, den Sie in die Hände bekommen wollen.«

»John Clay, der Mörder, Dieb, Falschmünzer und Fälscher. Er ist noch jung, Mr. Merryweather, aber an der Spitze seiner Zunft, und ich würde lieber ihm Handschellen anlegen als jedem anderen Verbrecher in London. Ein bemerkenswerter Mann, der junge John Clay. Sein Großvater war ein Herzog von königlichem Geblüt, und er selbst war in Eton und Oxford. Mit dem Gehirn arbeitet er genauso gerissen wie mit den Fingern, und obwohl wir immer wieder Hinweise auf ihn finden, können wir an den Mann selbst doch nie herankommen. Er bringt es fertig, in der einen Woche in Schottland einen Einbruch zu verüben und in der nächsten in Cornwall Geld für den Bau eines Waisenhauses zu sammeln. Ich bin seit Jahren auf seiner Fährte und habe ihn nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen.«

»Ich hoffe, daß mir diese Nacht das Vergnügen zuteil wird, Sie beide einander vorzustellen. Auch ich habe schon ein- oder zweimal mit Mr. John Clay zu tun gehabt und stimme Ihnen zu: Er ist der Beste in seiner Profession. Es ist jetzt aber nach zehn und Zeit für uns, aufzubrechen. Wenn Sie beide bitte den ersten Zweisitzer nehmen, werden Watson und ich im zweiten folgen.«

Während der langen Fahrt war Sherlock Holmes nicht sehr mitteilsam; er lehnte sich im Wagen zurück und summte die Melodien, die er am Nachmittag gehört hatte. Wir ratterten durch ein endloses Labyrinth von Straßen mit Gasbeleuchtung, bis wir die Farringdon Street erreichten.

»Wir sind jetzt fast da«, bemerkte mein Freund. »Dieser Merryweather ist Bankdirektor und von der Sache persönlich betroffen. Ich war außerdem dafür, Jones mitzunehmen. Er ist kein schlechter Kerl, wenn auch in seinem Beruf ein absoluter Schwachkopf. Er hat eine entschiedene Tugend: Er ist tapfer wie eine Bulldogge und zäh wie ein Hummer, wenn er erst einmal jemanden in seine Klauen bekommt. Da sind wir, und sie warten schon auf uns.«

Wir hatten eben jene bevölkerte Hauptstraße erreicht, in der wir uns am Morgen aufgehalten hatten. Unsere Wagen wurden fortgeschickt, und unter der Führung von Mr. Merryweather durchquerten wir eine enge Gasse und traten durch eine Seitentür, die er für uns öffnete. Dahinter lag ein schmaler Korridor, der vor einem sehr massiven Eisentor endete. Auch dieses wurde geöffnet, und wir stiegen eine Flucht steinerner Wendeltreppen hinab, die vor einem weiteren mächtigen Tor endete. Mr. Merryweather blieb stehen und zündete eine Laterne an; dann führte er uns einen dunklen Gang hinab, der nach Erde roch, und nachdem er schließlich eine dritte Tür geöffnet hatte, gelangten wir in ein großes Gewölbe oder einen Keller. Überall standen Schachteln und schwere Kisten gestapelt.

»Von oben sind Sie nicht sehr verwundbar«, bemerkte Holmes. Er hielt die Laterne hoch und sah sich um.

»Von unten genauso wenig«, sagte Mr. Merryweather. Er stampfte mit seinem Stock auf die Fliesen des Bodens. »Oh, liebe Zeit, das klingt ja ganz hohl!« meinte er und sah verblüfft auf.

»Ich muß Sie wirklich bitten, ein wenig leiser zu sein«, sagte Holmes streng. »Sie haben jetzt schon den ganzen Erfolg unserer Expedition in Frage gestellt. Ich ersuche Sie hiermit, die Güte haben zu wollen, sich auf eine dieser Kisten zu setzen und sich nicht einzumischen.«

Der gravitätische Mr. Merryweather hockte sich auf eine Kiste und machte ein beleidigtes Gesicht, während Holmes, auf dem Boden niederkniete und mit der Laterne und einem Vergrößerungsglas die Ritzen zwischen den Steinen sehr gründlich zu untersuchen begann. Nach einigen Sekunden schien er schon zufrieden zu sein, denn er sprang auf und steckte das Glas ein.

»Wir haben noch mindestens eine Stunde Zeit«, bemerkte er. »Sie können nämlich kaum etwas unternehmen, bevor nicht der gute Pfandleiher im Bett liegt. Dann werden sie keine Zeit verlieren, denn je früher sie ihre Arbeit erledigen, desto länger haben sie Zeit für die Flucht. Im Moment, Doktor, befinden wir uns – wie Sie zweifellos erraten haben – im Keller der City-Filiale einer der wichtigsten Londoner Banken. Mr. Merryweather ist der Vorsitzende der Geschäftsleitung, und er wird Ihnen erklären, daß es Gründe gibt, aus denen die verwegensten Verbrecher Londons zur Zeit lebhaftes Interesse an diesem Keller haben.«

»Unser französisches Gold«, flüsterte der Direktor. »Wir haben mehrere Warnungen erhalten, daß jemand versuchen könnte, an das Gold zu kommen.«

»Ihr französisches Gold?«

»Ja. Wir waren vor einigen Monaten veranlaßt, unsere Mittel zu erhöhen und haben dazu dreißigtausend Napoléons14 von der Bank von Frankreich geliehen. Man hat erfahren, daß wir noch keine Gelegenheit hatten, das Geld umzupacken, und daß es noch immer in unserem Keller liegt. Die Kiste, auf der ich sitze, enthält zweitausend Napoléons, gepackt zwischen Schichten von Bleifolie. Unsere Goldreserven betragen zur Zeit viel mehr, als man normalerweise in einer einzigen Filiale aufbewahrt, und die Direktoren äußerten dazu ihre Bedenken.«

»Die sehr berechtigt waren«, bemerkte Holmes. »Und jetzt ist es an der Zeit, Vorkehrungen für die Ausführung unserer kleinen Pläne zu treffen. Ich nehme an, daß sich alles innerhalb der nächsten Stunde zuspitzen wird. In der Zwischenzeit, Mr. Merryweather, müssen wir die Blende unserer Laterne betätigen.«

»Und im Dunkel sitzen?«

»Ich fürchte, ja. Ich hatte ein Kartenspiel mitgebracht und angenommen, da wir ja eine partie carrée darstellen, wir könnten Ihnen doch noch zu Ihrem Robber verhelfen. Ich stelle aber fest, daß die Vorbereitungen unseres Gegners so weit gediehen sind, daß wir ein Licht auf keinen Fall riskieren können. Und zuallererst müssen wir unsere Positionen wählen. Diese Männer sind verwegen, und wenn wir sie auch in einer Lage empfangen, die ihnen zum Nachteil gereicht, können sie uns doch einigen Schaden zufügen, wenn wir nicht vorsichtig sind. Ich will mich hinter dieser Kiste aufstellen, und verbergen Sie sich bitte hinter jenen dort. Wenn ich sie dann anstrahle, stürzen Sie sich bitte sofort auf sie. Falls sie feuern, dann haben Sie keine Bedenken, sie niederzuschießen, Watson.«

Ich legte meinen gespannten Revolver auf die Holzkiste, hinter der ich niederkauerte. Holmes schloß den Schieber an der Vorderseite seiner Laterne, und wir waren von pechschwarzer Dunkelheit umgeben – einer so vollkommenen Dunkelheit, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Der Geruch heißen Metalls erinnerte uns weiter daran, daß das Licht noch da war und innerhalb eines Augenblicks eingesetzt werden konnte. Meine erregten Nerven befanden sich auf einem Gipfel der Erwartung, daher hatten für mich die jähe Finsternis und die kalte, feuchte Luft im Gewölbe etwas Niederschlagendes und Bedrückendes.

»Sie haben nur eine Möglichkeit des Rückzugs«, flüsterte Holmes. »Und zwar durch das Haus zurück auf den Saxe-Coburg Square. Ich hoffe, Sie haben das getan, worum ich Sie gebeten habe, Jones?«

»Ich habe dafür gesorgt, daß ein Inspektor und zwei Schutzleute an der Vordertür warten.«

»Dann haben wir alle Löcher verstopft. Und nun müssen wir still sein und warten.«

Wie lang die Zeit wurde! Als wir hinterher unsere Aufzeichnungen verglichen, stellten wir fest, daß es nur eine Stunde und eine Viertelstunde gewesen waren, und doch erschien es mir, als müsse die Nacht fast verstrichen und die Morgendämmerung über uns bereits hereingebrochen sein. Meine Glieder waren müde und steif, da ich meine Stellung aus Vorsicht nicht verändern mochte, doch waren meine Nerven zum Zerreißen gespannt, und mein Gehör war so geschärft, daß ich nicht nur meine Gefährten leise atmen hörte, sondern sogar das tiefere, schwerere Einatmen des massigen Jones vom dünnen seufzenden Ton des Bankdirektors unterscheiden konnte. Von dort, wo ich mich befand, konnte ich über, die Kiste hinweg auf den Boden sehen. Plötzlich nahmen meine Augen das Schimmern eines Lichts wahr.

Zunächst war es nur ein fahler Fleck auf dem Steinboden. Dann wurde es länger, bis eine gelbe Linie daraus geworden war, und ohne jede Vorwarnung und ohne jedes Geräusch schien sich dann ein klaffender Spalt zu öffnen, und eine Hand erschien, eine weiße, beinahe weibliche Hand, die in der Mitte der kleinen hellen Fläche umhertastete. Etwa eine Minute oder länger ragte die Hand mit den sich windenden Fingern aus dem Boden. Dann wurde sie so plötzlich zurückgezogen, wie sie erschienen war, und alles war wieder dunkel, bis auf den einzelnen fahlen Fleck, der eine Ritze zwischen den Steinen kennzeichnete.

Das Verschwinden – der Hand war jedoch nur vorübergehend. Mit einem ziehenden, reißenden Geräusch kippte einer der breiten weißen Steine auf die Seite und hinterließ ein viereckiges, gähnendes Loch, durch welches das Licht einer Laterne strömte. Über die Kante spähte ein deutlich sichtbares, jungenhaftes Gesicht, das sich aufmerksam umblickte; mit einer Hand auf jeder Seite der Öffnung zog der Mann sich dann hoch bis zur Schulter und bis zur Hüfte und bis ein Knie den Rand berührte. Einen Augenblick später stand er neben dem Loch und zog einen Kumpanen nach, der ebenso beweglich und klein war wie er selbst, mit blassem Gesicht und einem Schopf sehr roten Haars.

»Alles klar«, flüsterte er. »Hast du die Brechstange und die Taschen? Großer Gott! Spring, Archie, spring; dafür werde ich hängen!«

Sherlock Holmes war vorgesprungen und hatte den Eindringling am Kragen gepackt. Der andere tauchte tief ins Loch, und ich hörte das Geräusch reißender Kleidung, als Jones an seinem Rock zerrte. Das Licht fiel auf einen Revolverlauf, aber Holmes' Jagdpeitsche sauste auf das Handgelenk des Mannes hinab, und die Waffe klirrte auf den Steinboden.

»Es hat keinen Zweck, John Clay«, sagte Holmes mild; »Sie haben überhaupt keine Chance.«

»Das sehe ich«, sagte der andere mit äußerster Gelassenheit. »Ich nehme an, mein Kumpel ist entkommen, auch wenn Sie da, wie ich sehe, seine Rockschöße haben.«

»Auf ihn warten drei Mann an der Tür«, sagte Holmes.

»Ach, so ist das! Sie scheinen die Sache sehr gründlich gemacht zu haben. Ich muß Ihnen ein Kompliment machen.«

»Und ich Ihnen«, gab Holmes zurück. »Ihr Einfall mit den Rotschöpfen war sehr neu und wirkungsvoll.«

»Sie werden Ihren Kumpel bald wiedersehen«, sagte Jones. »Er ist beim Einsteigen in Löcher schneller als ich. Halten Sie still, während ich die Krampen festmache.«

»Bitte, berühren Sie mich nicht mit Ihren schmutzigen Händen«, bemerkte unser Gefangener, als die Handschellen um seine Gelenke schnappten. »Vielleicht ist es Ihnen nicht bekannt, daß ich königliches Blut in den Adern habe. Seien Sie auch so gut, wenn Sie mit mir sprechen, immer ›Sir‹ und ›bitte‹ zu sagen.«

»In Ordnung«, sagte Jones mit einem starren Blick und einer höhnischen Grimasse. »Also, würden Sie bitte, Sir, treppauf schreiten, wo wir einen Wagen bekommen können, um Eure Hoheit zur Polizeistation zu bringen?«

»Das ist besser«, sagte John Clay heiter. Mit einer schwungvollen Halbkreisbewegung verneigte er sich vor uns dreien und entfernte sich gelassen, im Gewahrsam des Detektivs.

»Also wirklich, Mr. Holmes«, sagte Mr. Merryweather, als wir ihnen aus dem Keller nach oben folgten, »ich weiß nicht, wie die Bank Ihnen danken oder es Ihnen vergelten soll. Ohne jeden Zweifel haben Sie einen der entschlossensten Bankraubversuche aufgedeckt und aufs gründlichste vereitelt, von denen ich je erfahren habe.«

»Ich hatte selbst eine oder zwei kleine Rechnungen mit Mr. John Clay zu begleichen«, sagte Holmes. »Ich habe in dieser Angelegenheit einige kleine Unkosten gehabt und nehme an, daß die Bank sie mir erstatten wird, aber darüber hinaus fühle ich mich reichlich entlohnt durch eine Erfahrung, die in vieler Hinsicht einzigartig war, und dadurch, daß ich der sehr bemerkenswerten Erzählung von der Liga der Rotschöpfe lauschen konnte.«

»Wie Sie sehen, Watson«, erläuterte er in den frühen Morgenstunden, als wir in der Baker Street bei Whisky mit Soda saßen, »es war von Anfang an völlig offensichtlich, daß es das einzige mögliche Ziel dieser ziemlich phantastischen Geschichte mit der Anzeige der Liga und dem Abschreiben aus der Encyclopedia sein mußte, diesen nicht allzu hellen Pfandleiher jeden Tag ein paar Stunden aus dem Weg zu haben. Der Weg zu diesem Ziel war sehr merkwürdig, aber es wäre wirklich schwierig, einen besseren vorzuschlagen. Es war zweifellos die Haarfarbe seines Komplizen, die Clays einfallsreichem Geist diese Methode eingab. Die vier Pfund pro Woche waren ein Köder, der ihn anlocken mußte, und was bedeutete es schon für sie, die um tausende spielten? Sie haben die Anzeige aufgegeben; einer der Schurken sitzt im zeitweiligen Büro, der andere bringt den Mann dazu, sich für die Stellung zu bewerben, und gemeinsam gelingt es ihnen, dafür zu sorgen, daß er jeden Morgen eines Wochentags abwesend ist. Von dem Augenblick an, da ich hörte, daß der Assistent für den halben Lohn arbeitete, war es für mich offensichtlich, daß er ein starkes Motiv hatte, sich diese Stellung zu sichern.«

»Aber wie konnten Sie erraten, welches das Motiv war?«

»Wenn Frauen im Haus gewesen wären, hätte ich eine ganz gewöhnliche Intrige vermutet. Das kam aber nicht in Frage. Der Mann hatte ein kleines Geschäft, und in seinem Haus gab es nichts, was solch ausgeklügelte Vorbereitungen und solche Kosten, wie sie sie hatten, gerechtfertigt hätte. Also mußte es etwas außerhalb des Hauses sein. Was konnte es sein? Ich dachte an den Hang des Assistenten zur Photographie und daran, daß er im Keller zu verschwinden pflegte. Der Keller! Das war das Ende dieses verwickelten Fadens. Dann habe ich Nachforschungen nach diesem mysteriösen Assistenten angestellt und herausgefunden, daß ich es mit einem der kaltblütigsten und verwegensten Verbrecher Londons zu tun hatte. Er tat etwas im Keller – etwas, das monatelang jeden Tag viele Stunden in Anspruch nahm. Also noch einmal – was konnte es sein? Ich konnte mir nichts anderes denken, als daß er einen Tunnel zu irgendeinem anderen Gebäude trieb.

So weit war ich gekommen, als wir den Schauplatz besichtigten. Sie waren überrascht, daß ich mit dem Stock auf das Pflaster schlug. Ich wollte feststellen, ob sich der Keller nach vorn oder nach hinten erstreckte. Nach vorn war es nicht. Dann habe ich geläutet, und wie ich gehofft hatte, öffnete der Assistent. Wir haben schon einige Scharmützel miteinander gehabt, aber zuvor hatten wir einander nie zu Gesicht bekommen. Sein Gesicht habe ich kaum beachtet. Seine Knie waren das, was ich sehen wollte. Sie müssen doch auch selbst gesehen haben, wie abgeschabt, faltig und schmutzig sie waren. Sie erzählten von den Stunden des Grabens. Nun blieb nur noch zu klären, wonach sie gruben. Ich ging um die Ecke, sah die City and Suburban Bank auf der Rückseite des Hauses unseres Freundes, und da wußte ich, daß ich mein Problem gelöst hatte. Als Sie nach dem Konzert heimgefahren sind, habe ich bei Scotland Yard und danach beim Vorsitzenden der Bankdirektoren vorgesprochen, mit dem Ihnen bekannten Ergebnis.«

»Und woher konnten Sie wissen, daß sie ihren Versuch heute nacht unternehmen würden?«

»Nun, als sie ihr Liga-Büro geschlossen haben, war das ein Zeichen, daß Mr. Jabez Wilsons Anwesenheit ihnen in Zukunft gleichgültig war; mit anderen Worten, daß sie ihren Tunnel vollendet hatten. Es war aber wichtig für sie, ihn bald zu verwenden, denn man konnte ihn entdecken, oder das Gold konnte fortgebracht werden. Der Samstag mußte ihnen besser gelegen sein als jeder andere Tag, weil er ihnen zwei Tage für ihre Flucht gab. Aus all diesen Gründen habe ich erwartet, daß sie heute nacht kommen würden.«

»Das haben Sie wunderschön ausgedacht«, rief ich voll ehrlicher Bewunderung aus. »Solch eine lange Kette, und doch stimmt jedes Glied.«

»Es hat mich vor der Langeweile bewahrt«, antwortete er gähnend. »Ach, ich fühle, wie sie sich schon wieder an mich heranmacht! Ich verbringe mein Leben in einem einzigen großen Versuch, den Gemeinplätzen des Daseins zu entrinnen. Diese kleinen Probleme helfen mir dabei.«

»Und Sie sind ein Wohltäter des Menschengeschlechts«, sagte ich.

Er zuckte mit den Schultern. »Nun ja, vielleicht ist es am Ende irgendwie nützlich«, meinte er. »›L' homme n'est rien – l'oeuvre tout‹, wie Gustave Flaubert an George Sand schrieb.«

Die Abenteuer des Sherlock Holmes

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