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Daniela Strigl

VORWORT

BEISCHLAFGESCHICHTEN ODER EIN NEUER KODEX DER INTIMITÄT

„Geschrieben hab ich den ganzen Winter über nichts als eine Szenenreihe, die vollkommen undruckbar ist, literarisch auch nicht viel heißt, aber nach ein paar hundert Jahren ausgegraben, einen Teil unserer Kultur eigentümlich beleuchten würde“, berichtet Schnitzler im Februar 1897 seiner Geliebten Olga Waissnix. Als er das Stück drei Jahre später in einer Auflage von 200 Exemplaren als Privatdruck für Freunde herausbringt, hält er eine Publikation der Szenen immer noch für „vorläufig ausgeschlossen“, hat aber eine höhere Meinung von deren literarischem Wert: „Ich glaube, ihr Wert liegt anderswo als darin, daß ihr Inhalt den geltenden Begriffen nach die Veröffentlichung zu verbieten scheint.“

Inzwischen sind zwar nicht „ein paar hundert“ Jahre seit dem ersten Druck vergangen, aber immerhin 120. Die reguläre Veröffentlichung erfolgte 1903, die Berliner Uraufführung 1920, vor genau hundert Jahren. „Ausgegraben“ musste der „Reigen“ nicht erst werden, Schnitzlers erfolgreichstes Theaterstück erfreut sich ungebrochener Popularität. Zweifellos eingetroffen ist indes die Prophezeiung des Autors, es würde „einen Teil“ der Kultur des Wiener Fin de Siècle „eigentümlich beleuchten“. Die erotische und sexuelle Praxis der k. u. k. Haupt- und Residenzstadt in einem Querschnitt durch die sozialen Schichten und topographischen Gelegenheiten, von der Uferböschung des Donaukanals bis zum Ehebett im gutbürgerlichen Schlafgemach, offenbart sich als Kultur der Lüge. Der rhetorische Aufwand, mit dem diese jeweils inszeniert und das Triebgeschehen bemäntelt wird, richtet sich nach der gesellschaftlichen Stellung der Frau. Im Zentrum des Kultus steht die bis in seine zwielichtigen Randbezirke ausstrahlende Heiligkeit der Ehe als Treuebündnis, dessen moralische Verpflichtung nur für den einen Teil gilt. Dem Idealbild der „anständigen Frau“ entspricht keines des „anständigen Mannes“, das Pendant des „gefallenen Mädchens“ ist der junge Herr mit Erfahrung. Oder wie Marie von Ebner-Eschenbach es ausdrückt: „Die Unschuld des Mannes heißt Ehre. Die Ehre der Frau heißt Unschuld.“

Wenn zehn heute Schreibende den Tanz wagen und sich auf einen neuen „Reigen“ einlassen, kann es nicht darum gehen, Schnitzlers dramatischen Coup zu übertrumpfen, sondern die Parameter der Versuchsanordnung auf die amourösen Angelegenheiten der Gegenwart anzuwenden. Wie ist das heute mit der verstellten und unverstellten Begierde? Wer hat es nötig, von Liebe zu sprechen, wenn er oder sie Sex meint? Oder zumindest ein persönliches Interesse vorzutäuschen? Inwiefern sind Verhältnisse Machtverhältnisse? Wie steht es um das Selbstbewusstsein der Frauen?

Auch „Reigen Reloaded“ beschränkt sich auf gegengeschlechtliche Konstellationen, die Klassengrenzen scheinen jedoch durchlässiger: Die Kellnerin ist Studienabbrecherin und als Geschäftsführerin immerhin vorstellbar. Bei Schnitzler reicht sozusagen eine Figur der nächsten die Hand, wobei der Kontakt sich nicht auf die Handreichung beschränkt; in der zehnstimmigen Neuauflage ist die Choreographie naturgemäß weniger streng, auch hat nur die Eingangsszene eine dramatische Form, in den anderen Dialogen wird für die Erzählung beziehungsweise den inneren Monolog bald die weibliche, bald die männliche Perspektive gewählt, bald mittendrin gewechselt. Entstanden ist der neue „Reigen“ nach dem Fortsetzungsprinzip – nach einem Monat war die Stafette weiterzureichen.


Die Figuren in Schnitzlers „Reigen“ haben keine Namen. Das heißt, die meisten haben zwar Namen, sie heißen Franz und Marie, Karl und Emma, Alfred und Robert, das Personenverzeichnis führt sie aber als Typen, als „Die Dirne“, „Der Soldat“, „Das Stubenmädchen“, „Der junge Herr“ und so weiter. Die programmatische Namenlosigkeit nimmt ihnen ihre Individualität und führt den Reigen des Begehrens als Wiederkehr des Ewiggleichen vor, zugleich treten sie stellvertretend für eine soziale Klasse, ein Milieu, einen Phänotypus („Das süße Mädel“) auf. Wo der Name im Dialog fällt, bürgt er nicht für Identität – das Stubenmädchen Marie wird vom Soldaten Kathi genannt, das süße Mädel geht mit einem Herrn, dessen Namen sie nicht kennt, ins Chambre séparée, weil er sie an ihren Ex-Bräutigam erinnert, und als er ihr seinen Namen verrät, Karl, stellt sich heraus, dass sein Vorgänger ebenso hieß. Überhaupt widerlegt die Häufung von allerlei Doppelungen jede Vorstellung von Einzigartigkeit. Der Dichter Robert wiederum enthüllt dem süßen Mädel, dass er kein anderer als der berühmte Biebitz – mit einem Anklang an Schnitzler – sei oder sich jedenfalls so nenne, aber dieses hat noch nie von ihm gehört. Und die Schauspielerin, die die ganze Zeit von einem Fritz schwärmt, nennt den Dichter „Frosch“, was der sich verbittet: „Dichter: Ich hab’ doch einen Namen: Robert. Schauspielerin: Ach, das ist zu dumm. Dichter: Ich bitte dich aber, mich einfach so zu nennen, wie ich heiße.“ Der Auslöschung des Namens entspricht die – bald erwünschte, bald gefürchtete – Auslöschung der Person: „Stubenmädchen: .... Ich kann dein G’sicht gar nicht sehn. Soldat: A was – G’sicht .....“ Die Einzige, die einen nicht gewöhnlichen Namen ihr Eigen nennt, ist ausgerechnet die Dirne, sie heißt, nach einer Märtyrerin, Leocadia: die gefallene Löwin.

Wer schreibt, liest genau. Deshalb findet sich ein Echo der namenlosen Freude am Geschlechtlichen auch im neu komponierten Reigen. Bei Thomas Stangl ist der Graf ein „Erbe mit Magistertitel“. Gertraud Klemms Schulmädchen Leonie nennt den Schulwart Josef, mit dem sie eine zeitgemäße Telefonsex-Variante praktiziert, „Josh“, um ihn sich jünger zu machen, in Gustav Ernsts Folgeszene wird er von der Kellnerin Mia freudig als Franz begrüßt, dafür kann er sich nach dem Akt nicht mehr an ihren Namen erinnern: „Tina? Pia? Lisa? Irgendetwas mit a.“


Und das Moderne an unseren modernen Zeiten? Da sind im neuen „Reigen“ natürlich die Medien, mit denen Kontakte geknüpft, gepflegt und performiert werden, da ist das Smartphone, das eine neue Form der Erpressbarkeit mit sich bringt, weil das Netz trotz aller Libertinage eine Schwundstufe altväterlicher Sexualmoral konserviert; aber auch einen Fundus an Information: Das süße Mädel von heute begegnet dem prominenten Autor nicht mehr unvorbereitet. Bis auf das erste finden jedoch alle Rendezvous nach wie vor leibhaftig statt. Und das Ideal der romantischen Liebe spukt auch gut hundert Jahre später durch den erotischen Diskurs. „Bist du denn gar nicht romantisch? Das ist ja kein Tinder-Date“, fragt Bettina Balàkas junger Herr die junge Frau beim doppelten Ehebruch. Und sie: „Auf Tinder sind auch alle ganz romantisch.“ Gegen die programmierte Enttäuschung hilft nur der desillusionierende Blick auf das Danach, der die drohende Verliebtheit als körpereigenen Drogenrausch klassifiziert.

In puncto Coolness und Initiative erweisen sich bereits Schnitzlers Frauen als ziemlich „modern“, die unbürgerlichen tun es offensiv: die Dirne, die den Koitus außerhalb ihres Geschäftsmodells anbietet, die Schauspielerin, die sich den Dichter wie den gräflichen Rittmeister zurichtet und zu Letzterem mit männlicher Kaltschnäuzigkeit meint: „Was geht mich deine Seele an?“ Solche weiblichen Stimmen waren um 1900 durchaus schon zu hören, ihr Widerhall findet sich bei Karl Kraus: „Sie sagte sich: Mit ihm schlafen, ja – aber nur keine Intimität!“

Doch auch die junge Bürgersgattin spielt das fügsamtugendhafte Wesen nur, in der Schlüsselszene im Ehebett beklagt sie sich unüberhörbar über den zeitweiligen Sexualnotstand in ihrer Ehe und hält Mitleid gegenüber leichtlebigen Frauen für unangebracht, aber nicht weil sie sie, wie ihr Gatte glaubt, verachtet, sondern weil sie sie beneidet. Dass „solche Wesen“, wie er sagt, „immer tiefer und tiefer fallen“, quittiert sie zu seinem Befremden mit: „Offenbar fällt es sich ganz angenehm.“ Schließlich heißt sie Emma – wie Madame Bovary – und hat sich schon einen Geliebten zugelegt, der sich wie der Ehemann über ihre frivolen Bemerkungen sehr wundern muss. Karl Kraus resümiert: „Sie behandeln die Frauen wie einen Labetrunk. Daß die Frauen Durst haben, wollen sie nicht gelten lassen.“

Schnitzlers ironische Demontage der männlichen Arroganz macht auch vor der sexuellen Funktionsstörung nicht Halt, die den jungen Herrn heimsucht und die von Emma mit Belustigung kommentiert wird. „Geh’, nicht lachen, das bessert die Sache nicht“, fleht der Mann, ehe sie ihm und sich beherzt aus der Patsche hilft. Schnitzlers sardonisches Gelächter hallt in der Neuinterpretation nach, am wirkungsvollsten, wenn ein unstillbarer Lachkrampf den Partner im falschesten Moment aus dem Konzept bringt oder die Gespielin den armen Mann mittels plötzlichen Abgangs unerlöst zurücklässt. Mag sein, dass die Pornoästhetik die weibliche Körpersprache kontaminiert hat – jedenfalls trauen die Frauen sich im Wien des 21. Jahrhunderts mehr und fallen eher aus der Rolle. Im Ur-„Reigen“ liest der junge Herr einen französischen Roman sowie Stendhals Abhandlung „Über die Liebe“, in der Neufassung ist es die Prostituierte, die zum Taschenbuch greift. Vor hundert Jahren erkannte Karl Kraus: „Die Erotik ist von der Soziologie nicht mehr zu trennen und also auch nicht von der Ökonomie. In irgendeinem Verhältnis steht die Liebe immer zum Geld. Es muß dasein, gleichgültig, ob man es gibt oder nimmt.“ Das hat sich offenkundig nicht geändert, die Abhängigkeit wirkt hier jedoch nicht absolut, es kann auch eine Angestellte ihrem Chef den Laufpass geben. Wohlfeile Illustrationen der MeToo-Debatte im Plakatformat liefert „Reigen Reloaded“ freilich nicht. Überrumpelung und Nötigung werden als solche kenntlich, vorgeführt wird aber auch, dass die Grenzen der Einvernehmlichkeit fließend sind und der Übergriff Teil des Instrumentariums, das man zu ihrer Auslotung benötigt.


1921 notierte Schnitzler im Tagebuch: „Die Zeitungen erfüllt vom ‚Reigen‘. Welches Spiel der Verlogenheiten. Politicum. Unaufrichtig Feind wie Freund. – Allein, allein, allein.“ Sogar Karl Kraus mokierte sich zwar über die antisemitischen Ausschreitungen in den Kammerspielen des Wiener Volkstheaters, lastete aber das „Behagen“ des Publikums am Stück dem Autor an. Schnitzler verbannte es von den Bühnen, das Verbot hielt sechzig Jahre. Die Empörung über die Buchausgabe des „Reigen“ und die noch heftigere über die ersten Aufführungen in Berlin und Wien sind heute nicht mehr nachzuvollziehen. Selbst das Berliner Gericht sprach damals die Akteure vom Vorwurf der „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ frei – der Autor habe nicht die Absicht gehabt, „Lüsternheit zu erwecken“, sondern vielmehr einen „sittlichen Gedanken“ verfolgt, nämlich zu vermitteln, wie „schal und falsch das Liebesleben“ sei.

Dass die „geschlechtliche Beiwohnung“ bei Schnitzler nicht gezeigt oder beschrieben, sondern durch Gedankenstriche markiert wird, hat die Wut der Tugendwächter auch nicht besänftigt. Der „Reigen Reloaded“ nützt den inzwischen gewachsenen Spielraum nicht exzessiv aus, da und dort wird mit „und so weiter“ oder „etc.“ angedeutet, dass dergleichen geschieht, man die Bekanntheit der Vorgänge aber voraussetzt. Das Schale und Falsche der verbal vorbereiteten horizontalen Begegnung dominiert auch im Sittenbild der Gegenwart. Das erotische Ringelspiel dreht sich, aber lustig dreht es sich nicht. Worum es sich dreht, auf diese Frage gibt die Literatur naturgemäß keine Antwort. „Sex, das sind kleinere Verletzungen des Gewebes, die auf dem Nachhauseweg schon wieder verheilen, das ist das Vortäuschen und Entziehen von Nähe“, heißt es bei Martin Peichl lapidar. Dass es dabei nicht nur um eine Kommunikation der Körper, sondern auch um Worte geht, ist jedenfalls eine Botschaft, die von zehn Autorinnen und Autoren reizvoll aktualisiert wurde. Nicht die Sprache der Wollust, sondern die Wollust der Sprache macht „Reigen Reloaded“ zu einer Übung in Empathie.

Reigen Reloaded

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