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Harald Stein, 2018-11-30

09: 58: 17

Heute ist Freitag. Harald sitzt in seinem Arbeitszimmer. Ein paar letzte Tests, dann sollte der lästige Bug in der Terminansicht behoben sein. Ja, es sieht gut aus.

Harald lädt die Änderungen hoch, schreibt noch eine kurze Info an seine Kollegen und fährt den Computer herunter. Heute feiert er ein paar Überstunden ab. Abends spielt Jonesy mit Hanna auf dem Weihnachtsmarkt, und bis dahin: keine Termine, keine Verpflichtungen, keine lästigen Telefonate.

Harald hat Jonesy seit dem Gespräch in der Pizzeria nicht mehr getroffen. Zu viel zu tun. Und Jonesy ist momentan entweder in der Arbeit oder irgendwo in Sachen Musik unterwegs. Ein paar kurze Textnachrichten, ein paar Mails – für mehr hat es in letzter Zeit einfach nicht gereicht.

Und jetzt? Harald überlegt. Jonesy ist noch in der Arbeit. Ulla auch. Das ist gut – und schlecht, denn falls ein Mieter anruft, muss er ran. Also raus aus der Wohnung.

Das Hallenbad am Stadtrand hat einen eher mittelmäßigen WellnessBereich, aber Harald setzt sich gerne ins Dampfbad. Dort ist es still, im Gegensatz zur Sauna, in der immer Entspannungsmusik vor sich hin plätschert – Harald muss an Jonesys Musikboxprojekt denken und schmunzelt. Das Dampfbad, der perfekte Ort zum Nachdenken.

10: 45: 03

Draußen ist es nasskalt und grau, es regnet leicht. Die wohlige Wärme im Dampfbad tut gut. Außer Harald ist nur eine ältere Frau in der Kabine, die er im Dampfschleier nur schemenhaft wahrnimmt. Sie hat ihn beim Eintreten misstrauisch von oben bis unten gemustert und ist dann demonstrativ ein Stück weiter weg von der Tür gerutscht. Sicherheitshalber ist Harald dann in die entgegengesetzte Ecke gegangen.

Aber immerhin: unter diesen Voraussetzungen wird sie kein Gespräch mit ihm anfangen, er hat also seine Ruhe. Gut.

Er schließt die Augen und denkt an das Gespräch mit Jonesy. Sie haben in der Pizzeria dann noch eine ganze Zeitlang an der Idee weitergesponnen. Jonesy hat interessiert zugehört, wie Harald Zuses Theorie im Schnelldurchlauf vorgestellt hat. Dann irgendwie der Schwenk zu einer möglichen Computersimulation und der Frage, ob man überhaupt an irgendwelchen Kriterien feststellen könnte, ob man sich in einer solchen Simulation befindet. Würde man Bugs als solche wahrnehmen? Wie würden sie sich äußern?

Zumindest gibt es vermutlich keine Hotline, an deren Ende Leute wie ich sitzen und sich irgendwelche Beschwerden anhören müssen, denkt Harald. Sein Job ist … ja, an sich okay, Bezahlung ist in Ordnung, die Kunden meistens freundlich, Chef und Mitarbeiter eigentlich super. Eigentlich. Aber?

Harald atmet langsam aus. Während des Physikstudiums hat er sich die Zukunft ganz anders vorgestellt. Grundlagenforschung, neue Hypothesen und Theorien aufstellen und sich den Kopf darüber zerbrechen, warum die Welt so ist, wie sie ist, und nicht ganz anders. Vom Schreibtisch aus, mit Papier und Bleistift und ab und an einem Computer die Welt erkunden, neue Möglichkeiten entdecken, ihre Wahrscheinlichkeiten berechnen. Naturkonstanten aus komplexen Formeln und versteckten Zusammenhängen ableiten. Sich viele Fragen stellen: Warum ist das Universum so groß? Warum haben wir genau drei Dimensionen? Warum läuft die Zeit nur in eine Richtung? Tut sie das überhaupt, oder sieht es nur für uns so aus? In vielen Formeln, die die Wirklichkeit abbilden, kommt die Zeit entweder gar nicht vor, oder sie kann tatsächlich vorwärts und rückwärts laufen, ohne ein Gesetz zu brechen.

Und jetzt? Kundenbetreuung und Softwareentwicklung. Auch hier jede Menge Fragen: warum kann ich mich nicht mehr einloggen? Warum taucht die Trainingseinheit mit XY nicht in der Monatsabrechnung auf? Warum kann ich nicht mehrere Trainingsstunden gleichzeitig in der Maske eintragen? Für die Nutzer unter Umständen wichtige, ja fundamentale Fragen und Probleme, aber trotzdem …

Die Frau in der Kabine steht auf und geht.

Kann man denn überhaupt objektiv einteilen, welche Fragen wichtiger oder fundamentaler sind? Aus der Grundlagenforschung sind quasi nebenbei viele technische Errungenschaften entstanden, die unseren Alltag erleichtern, das ist richtig, aber: kann der Mensch überhaupt herausfinden, wie das Universum funktioniert? Und wenn ja – was hätte er davon? Würde das irgendwas am Leben ändern? Wären die Menschen dann glücklicher, zufriedener? Gäbe es dadurch weniger Kriege und Hunger?

Seine Arbeit hat vermutlich auch noch keinen Krieg verhindert, aber einige verzweifelte Anrufer tatsächlich glücklich gemacht – so gesehen ist seine Arbeit vielleicht wichtiger, zumindest für den Kunden.

Womit man eigentlich wieder bei der Sinnfrage landet. Hat Sportvereinsverwaltungssoftware irgendeinen Sinn? Hat die Grundlagenforschung irgendeinen Sinn? Hat das Universum irgendeinen Sinn? Oder sind wir tatsächlich nur Figuren in einem komplexen System, das nach gewissen Regeln abläuft? Wäre das dann eine Simulation im klassischen Sinn – oder eher ein Computerspiel? Wer spielt uns dann?

Die Tür öffnet sich wieder, die ältere Frau kommt zurück. Ein halblautes Atemgeräusch deutet Missfallen darüber an, dass Harald sich erdreistet, immer noch im Dampfbad zu sein. Muss der denn nichts arbeiten? Harald beschließt, auch diese Frau glücklich zu machen, in dem er aus ihrem Leben und ›ihrer‹ Dampfkabine geht.

18: 34: 07

Harald hat nachdem Dampfbad erst mal in der Stadt was gegessen und sich dann in der Bücherei ein paar alte Bücher angesehen. Er hat gehofft, bei den Philosophen vielleicht ein paar Denkanstöße zu bekommen, aber die Geisteswissenschaftler haben einen Schreibstil, der den Naturwissenschaftlern diametral entgegensteht. Unter den Physikern gibt es auch Plaudertaschen, die lieber zwei Sätze zu viel als einen zu wenig aufs Papier bringen, aber wenn es um Philosophie geht, ist es realistischer, in Absätzen oder gar Kapiteln zu rechnen.

Auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt ist Harald dann fast mit einer schwer bepackten Frau kollidiert, die er komplett übersehen hat, weil er zu sehr mit sich und seinen Gedanken beschäftigt war. Die Frau hat dann im Weitergehen irgendwas mit ›ferngesteuert‹ zu ihrem Begleiter gemurmelt – ferngesteuert? Allzu verständlich. Aber was, wenn man tatsächlich ferngesteuert wäre? Würde man das denn selbst merken?

Harald bleibt abrupt stehen. Ein älterer Mann, der hinter ihm gelaufen ist, läuft fast ihn ihn hinein.

»So passen Sie doch auf!«, ereifert er sich.

»Entschuldigung«, murmelt Harald. Er tritt zur Seite, um den Strom der Menschen nicht zu behindern. Einige der vorbeischlendernden, -eilenden und -hetzenden Menschen wirken tatsächlich ferngesteuert: leerer Blick, ein irgendwie mechanischer Gang. Sollte es tatsächlich Menschen geben, die realer, echter sind, während andere tatsächlich nur durch die Welt stapfen wie die simulierten Orkarmeen in ›Herr der Ringe‹?

»Hallo Zweistein!« – »Hi, Hari!« tönt es plötzlich von hinten.

Harald dreht sich um. Jonesy und Hanna kommen in seine Richtung gelaufen, beladen mit den Sachen, die sie für den Auftritt brauchen. In ein paar Metern Abstand folgt ihnen Andi, Hannas Mann.

»Hallo Hanna, hallo Jonesy – und hallo Andi!Heute also nicht zu zweit, sondern zu dritt?«

»Wenn ich mitsingen würde, wäre der Platz in Nullkommanix leer«, lacht Andi. »Ich bin nur Lastenträger.«

Er deutet auf die mitgebrachte Tasche mit den Mikrofonstativen.

»Kann ich euch beim Tragen helfen?«, fragt Harald.

»Nö, danke, passt schon, die Bühne steht ja gleich da vorne.« Hanna deutet in die betreffende Richtung.

»Also ›Schneeflöckchen, Weißröckchen‹ können wir heute vergessen«, sagt Jonesy und blickt ein bisschen resigniert zum Himmel. Er beginnt zu singen: »Regentröpfchen, Regentröpfchen, warum kommst du geplatscht? Du kommst aus den Wolken, wir haben den Matsch.«

»Sehr schön! Wie wäre es mit einer Alternativfassung zu ›Leise rieselt der Schnee‹?«

Hanna überlegt kurz, dann singt sie: »Leise rieselt der Re-gen. Jeder weiß, Regen bringt Se-gen. Aber muss das wirklich sein? Schöner wär’s, es würde schnei’n.«

»Na, die beiden sind ja schon optimal in Weihnachtsstimmung«, meint Andi. »Und bei dir, Hari? Alles gut?«

»Ja, alles gut, hab heute ein paar Überstunden abgefeiert, da kann es einem doch fast nicht schlecht gehen, oder? Und bei dir, Andi? Alles in Ordnung?«

»In der Schule sind wir im Bald-sind-Ferien-Modus: Stoff durchbringen, Schulaufgaben schreiben – die Kids sind zwar innerlich schon auf Ferien eingestellt, aber davor kommt noch mal ein hartes Stück Arbeit.«

Der Platz ist gut gefüllt. Einige Zuschauer auch.

20: 57: 36

»Wir kommen nun zum letzten Lied für heute. Wir hoffen, es hat euch gefallen. Die Stände sind ja noch bis 22 Uhr geöffnet, also feiert noch schön!«, verabschiedet sich Hanna auf der Bühne. Jonesy dreht sich zu ihr und scheint sie an etwas zu erinnern.

»Ach ja, fast vergessen: besucht uns auf 2u-2weit.de im Internet, dort findet ihr die nächsten Termine. Wichtig: zweimal eine Zwei statt Zett, sonst landet ihr leider nicht bei uns.«

Man hört vereinzelt ›Zugabe!‹-Rufe. Gibt immer noch Leute, die das witzig finden, denkt sich Harald.

Jonesy streicht die ersten Akkorde von ›Song to say goodbye‹ von Placebo. Die Leute hören meistens sowieso nur auf den Refrain, der als Schlusslied dann tatsächlich ganz gut passt. Der Rest vom Text – naja, geschenkt.

Nachdem Song wird brav applaudiert, aber im Grunde genommen interessiert sich jeder mehr für den Glühwein oder den Gesprächspartner, daher entfällt die Zugabe. Hanna geht von der Bühne.

»Der Song funktioniert immer. Danach will keiner mehr eine Zugabe.« Sie grinst hämisch. »Mir soll’s recht sein. Gott, ist das kalt.«

Sie kuschelt sich an Andi, der mit Harald einen Platz an einem der Stehtische ergattert hat. Er schiebt ihr seine fast volle Glühweintasse hin.

»Hier, ist noch heiß – oder willst du eine eigene?«

»Nein, danke, passt.«

Hanna trinkt einen Schluck. Sie stellt die Tasse zurück auf den Tisch und wärmt ihre Finger daran.

»So würde ich das auch aushalten in der Kälte!« Sie zwinkert Andi zu.

»Ja, wenn nur diese furchtbare Musik nicht immer wäre.« Andi bleibt todernst.

»Vergiss nicht, dass ich die Autoschlüssel habe. Noch so eine Bemerkung, und du kannst zu Fuß heimgehen.«

Beide lachen. Andi umarmt Hanna und drückt sie an sich.

Jonesy hat seine Gitarre schon eingepackt und kommt dazu.

»Na, schon wieder am Streiten? Furchtbar ist das mit euch.« Auch er grinst.

»Ich hol’ mir auch schnell einen Glühwein, will noch jemand? Hari, wie sieht’s mit dir aus?«

Glühwein ist gefährlich wegen seiner Migräne. Momentan protestiert der Kopf noch nicht. Wobei: wenn sich die ersten Anzeichen zeigen, ist es zu spät. Dann rollt die Migräne unweigerlich über Harald hinweg und setzt ihn außer Gefecht.

»Na gut, bring mir noch einen.«

»Wir beide drehen mal eine kurze Runde durch den Weihnachtsmarkt, okay? Ich kann meine Sachen hier bei euch lassen?« fragt Hanna.

Harald nickt. »Klar, wir bleiben so lange hier.«

Jonesy kommt mit zwei dampfenden Tassen zurück und blickt den beiden nach.

»Die kommen wieder?«

»Ja.«

»Gut. Hier, dein Glühwein.«

»Danke.«

Harald ist in Gedanken wieder bei den ferngesteuerten Menschen. Er denkt an U. Ponners, den Mieter aus dem dritten Stock. Eigentlich ein ganz normaler, völlig unauffälliger Mensch, der jeden Morgen zur Arbeit geht und abends wieder heimkommt. Er grüßt im Treppenhaus, zahlt pünktlich – aber irgendwie ist da sonst nichts. Selbst das Aussehen ist … naja, eigentlich nicht der Rede wert. Graumeliertes Haar, eine Brille – oder keine Brille? Aber einen Schnurrbart. Oder?

Interessanterweise weiß niemand, wofür das ›U‹ steht. Auf dem Briefkasten: U. Ponners. Auf dem Klingelschild: U. Ponners. Auch im Mietvertrag: U. Ponners. Einmal hat sogar ein Paketbote geklingelt, und Harald hat das Paket entgegengenommen. Gleich werden wir es wissen. Denkste. Der Empfänger: U. Ponners.

Er hat darüber mit Ulla gesprochen. Das U steht sicher für Ulrich, hat sie gemeint. Welcher männliche Vorname fängt sonst schon mit U an? Eine kurze Internetrecherche hat dann doch einige Alternativen zutage gefördert: Ulf, Uwe, Udo, Umberto … Wahrscheinlich heißt er Urmel, hat Ulla irgendwann vermutet, Urmel Ponners. Naja …

»Und sonst? Gibt’s was Neues bei dir?«, meldet sich Jonesy vorsichtig zu Wort.

»Äh, sorry, ich war gerade in Gedanken. Ja, ich habe weiter über die Simulationsgeschichte nachgedacht. Vorhin kam mir die Idee, dass es ähnlich wie in einem Computerspiel vielleicht ›Statisten‹ gibt, die gar keine echten – also echt simulierte – Personen sind, sondern nur so aussehen.«

»Statisten?«

»Naja, sieh dich mal um. Es laufen immer ein paar Leute durch die Gegend, bei denen ich mich schwer tue, denen ein echtes Privatleben zu unterstellen. Die sehen nicht so aus, als hätten sie Arbeit, Familie, Hobbys, was weiß ich. Deren einziger Daseinsgrund scheint tatsächlich der zu sein, durch die Gegend zu laufen und dabei möglichst nicht mit anderen zu kollidieren.«

»Hm.«

Jonesy betrachtet eine Zeitlang nachdenklich die Besucher des Weihnachtsmarktes.

»Meinst du, das könnte man testen?«, fragt er schließlich.

»Wie willst du das machen?«

»Wir könnten die Leute ja irgendwas fragen, womit sie nicht unbedingt rechnen, und dann abwarten, wie sie reagieren«, schlägt Jonesy vor.

»Ist vermutlich nicht unbedingt statistisch auswertbar …«, beginnt Harald.

»… aber sicher witzig! Pass auf, das probieren wir aus!«

In dem Moment kommen nämlich Hanna und Andi von ihrem Rundgang zurück. Hanna hat eine Tüte gebrannte Mandeln dabei. Jonesy wendet sich an Hanna.

»Hanna, was meinst du: ist rot gelber als blau?«

»Hä? Was ist das denn für eine Frage?«

Jonesy ignoriert die Gegenfrage völlig und wendet sich Harald zu.

»So in der Art, wobei nicht klar ist, wie diese Antwort zu werten ist: Statist oder echt?«

Beide lachen. Hanna blickt verwirrt in die Runde.

»Klärt ihr Spinner mich mal auf?«

»Wir haben überlegt, dass ein paar von den Leuten hier … « Harald deutet in die Runde. » … vielleicht Statisten beziehungsweise Lückenfüller sind und nur ein paar Leute sozusagen echt sind.«

»Hari hat die Theorie aufgestellt, dass wir vielleicht alle in einer Computersimulation leben, und es könnte durchaus sein, dass nicht jede Person voll berechnet wird, sondern eben ein paar rumlaufen, die nur so tun, als wären sie Personen. Zum Beispiel der Typ da drüben mit dem Hut.«

Jonesy deutet zu einem Essensstand. Die besagte Person steht vor der Preistafel und verlagert rhythmisch sein Gewicht von einem Bein aufs andere.

»Ich vermute, wenn ich dem die gleiche Frage stelle, fällt er einfach um.«

Andi schaltet sich ein.

»Computersimulation? So wie in ›Matrix‹?«

Harald widerspricht.

»Nein, nicht ganz. In ›Matrix‹ waren ja echte Menschen in diesen Brutkästen, und ihre Gehirne waren mit der Matrix verbunden, die ihnen eine andere Wirklichkeit vorgegaukelt hat. Hier geht es darum, dass die ganze Welt nur in einem Computer stattfindet, der natürlich um ein Vielfaches leistungsfähiger sein müsste als unsere ganzen Maschinen zusammengenommen.«

»Mir hat ›Matrix‹ gut gefallen, aber ich glaube, ihr habt schon zu viel Glühwein intus«, meint Hanna und grinst. »Wollt ihr auch mal?«

Sie hält die Tüte mit Mandeln in die Runde, was begeisterten Zuspruch auslöst.

Jonesy leert seine Tasse. »Ich teste das mal.«

Er geht zu dem Mann mit Hut, und der Reste der Gruppe blickt ihm gespannt nach.

»Ihr Physiker seid ein seltsames Volk«, sagt Hanna nach ein paar Augenblicken, wendet aber den Blick nicht von Jonesy ab.

»Wahrscheinlich kriegt Jonesy einen Platzverweis, weil er die Leute anpöbelt, und ich kann mir für nächstes Jahr einen anderen Mitmusiker suchen«, witzelt sie.

»Wenn sie rauskriegen, dass du auch dazugehörst, darfst du auch hier nicht mehr auftreten«, kontert Andi. Hanna knufft ihn in die Seite.

Jonesy verabschiedet sich mittlerweile von dem Mann, der immer noch steht, und kommt wieder zum Stehtisch.

»Und?«

»Er meinte, dass rot auf alle Fälle gelber ist als blau. Außerdem ist er sich nicht sicher, ob er sich eine Bratwurst kaufen soll, weil die früher auf dem Markt hier besser waren, aber den Metzger von früher gibt’s leider nicht mehr.«

»Also ›echt‹?«, fragt Hanna.

»Definitiv‹, meint Jonesy.

Hanna blickt auf die Uhr.

»Bevor es hier zu peinlich wird und ihr beiden den ganzen Markt hier aufmischt, werde ich besser heimfahren.«

»Och nö, so schlimm sind wir doch gar nicht.« Jonesy gibt sich gespielt empört.

»Spaß beiseite: wir müssen Andis Mama ablösen, die macht ja den Babysitter für Laura. Ich habe ihr schon oft gesagt, sie kann sich einfach schlafen legen und das Babyfon in ihrem Schlafzimmer aufstellen, aber sie traut der Technik nicht und sitzt dann die halbe Nacht neben dem Kinderbett.«

»Ja, leider lässt sie sich da nichts einreden«, pflichtet Andi bei.

»Ähm, wäre es okay für euch beide, wenn ihr meine Sachen zu euch mitnehmen würdet? Ich hole sie dann in den nächsten Tagen ab, aber ich würde gerne noch ein bisschen da bleiben und Haris Theorie testen.«

»Klar, gib her.«

Andi schultert Jonesys Gitarre und nimmt die Tasche mit den Kabeln und dem Rest.

»Vielen Dank! Soll ich die Sachen mit zum Auto tragen?«

»Nö, das geht. Ist ja nicht so weit.«

»Ihr seid die Besten!«

»Wissen wir!«, sagt Hanna. »Viel Spaß mit eurer Theorie, bleibt anständig! Dass mir keine Klagen zu Ohren kommen!«

Sie droht Jonesy und Harald mit dem Finger, grinst aber.

»Immer!«, erwidert Jonesy.

»Wir arbeiten streng wissenschaftlich!«, fügt Harald hinzu.

»Da mache ich mir bei euch beiden keine Sorgen!«, lacht Andi.

22: 21: 19

»Eigentlich erstaunlich, was die Leute einem alles erzählen.«

Jonesy kommt zurück zum Stehtisch und hat zwei neue Tassen Glühwein dabei.

»Stimmt«, pflichtet Harald bei. Er und Jonesy haben im Wechsel potentielle Kandidaten ausgespäht und befragt. So richtig erfolgreich im Sinne einer Bestätigung der Theorie war die Aktion bislang nicht. Fast jeder der Befragten hat irgendwie menschlich reagiert. Klar, ein paar sind dabei, die den Kopf schütteln und im Weggehen vor sich hin murmeln, aber selbst die wirken echt.

Also ist die Theorie falsch? Es gibt nur echte Menschen? Naja, das sei mal dahingestellt, eine stichprobenartige Aktion auf einem Weihnachtsmarkt ist jetzt statistisch nicht sonderlich belastbar.

»Alles richtige, echte Menschen, so weit das Auge reicht.«

Jonesy nickt. »Ja, sieht so aus.« Er zögert kurz. »Aber vielleicht befragen wir ja auch die falschen. Wir sollten vielleicht mal jemanden testen, der total auffällt – wie die Frau da drüben.«

Er deutet mit der Glühweintasse in Richtung eines Handwerkerstandes. Der Standbetreiber ist schon dabei, seinen Stand für die Nacht zuzuklappen, aber eine Frau Ende Zwanzig steht noch da und betrachtet interessiert die bunten getöpferten Teller, Schüsseln und Tassen.

Sie trägt knallrote Stiefel und einen apfelgrünen Mantel, dazu eine gestrickte Mütze, Handschuhe und einen Schal, für die bunt noch eine Untertreibung darstellt.

»Nur zu«, ermuntert ihn Harald, »du bist sowieso noch ein oder zwei Personen im Rückstand.«

Der Glühwein zeigt mittlerweile Wirkung. In Haralds Hinterkopf meldet sich ein diffuses Brummen, das Harald aber geflissentlich ignoriert. Er genießt es, mit Jonesy zu diskutieren, abstruse Gedankengebäude zu errichten – und einfach mal komplett abzuschalten. Hoffentlich ist sein Kopf morgen immer noch glücklich und zufrieden.

Nachdem der Budenbesitzer mit Nachdruck die Verschläge am Stand schließt und damit unmissverständlich klar macht, dass er definitiv nichts mehr verkaufen will, verabschiedet sich die Frau mit einem entwaffnenden Grinsen und geht weiter, in Richtung Stehtisch.

Vielleicht hat Jonesy recht, und wir müssen uns die auffälligen Leute schnappen, solche, die Individualität ausstrahlen, überlegt Harald. Jonesy stellt die Tasse ab und wendet sich der Frau zu.

»Entschuldigung, mein Kumpel und ich streiten uns immer, was nach ›Einstein‹ kommt. Was würden Sie sagen?«

Die Frau bleibt stehen. Harald verdreht innerlich die Augen. Jonesy und sein Einstein-Zweistein-Gequatsche. Vermutlich sagt sie auch –

»Ganz klar: Fjotufjo«, erwidert sie grinsend.

Lichtfisch

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