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Martin Jone, 2018-12-01

10: 37: 46

Fjotufjo.

»Guten Morgen, Jungs! Nicht erschrecken, gleich wird’s laut.«

Mfgrl. Rrt. Wa-?

Ein infernalisches Krachen und Quietschen ertönt. Sina sitzt fröhlich an ihrem Esstisch, eine uralte Kaffeemühle zwischen den Knien, und dreht die Kurbel.

»’n Morgen. Ob der allerdings noch gut wird bei dem Krach?«

Ich blicke mich um. Einen kurzen Moment lang weiß ich nicht, wo ich bin, dann fällt es mir wieder ein. Wir sind immer noch in Sinas Wohnung. Ich liege auf einer Yogamatte auf dem Boden, Hari auf dem Sofa. Er sieht nicht gut aus.

Die Frau, die wir gestern angesprochen haben, hat sich dann als sehr echt herausgestellt. Sie heißt Sina Keske, ist 29 und arbeitet als Altenpflegerin. Wir sind dann ins Gespräch gekommen und – nachdem die Buden dann langsam alle dicht gemacht haben – in eine Kneipe weitergezogen. Letzten Endes war dann irgendwann der letzte Bus weg, und sie hat uns angeboten, dass wir bei ihr pennen können. Vorher haben wir dann bestimmt bis kurz vor vier weiter diskutiert.

Und Fjotufjo? Sina hat das Wort ›Einstein‹ genommen und jeden Buchstaben durch seinen Nachbarn im Alphabet ersetzt. Und überhaupt hat sie ein Faible für Sprache: Gedichte, Geschichten, skurrile Wortverdrehungen – das ist ihre Welt. Was kommt nach Einstein? Klar, Fjotufjo.

»Ich habe heute Spätschicht und muss bald los. Wollt ihr auch Kaffee?«

Mein Kopf brummt. Erinnerungsfetzen an die lebhafte Diskussion an Sinas Esstisch, Haris Theorien, unsere ›Feldstudie‹ … Spätschicht. Genau.

»Sehr gerne, für mich ohne Milch …«

»… und Zucker, ich weiß.« Sina grinst spitzbübisch. Sie schüttelt das frisch gemahlene Kaffeepulver in eine Stempelkanne und gießt heißes Wasser darüber.

»Harald, willst du auch?«

Hari winkt ab.

»Für mich gar nix, danke, mir geht’s nicht gut. Migräne.«

»Migräne? O je, du Armer. Schmerztabletten hab ich momentan keine da. Aber ich hab’ was für dich, das macht’s vielleicht ein bisschen leichter. Moment.«

Sie geht ins Badezimmer und kommt mit einer kleinen Dose wieder. »Hier, streich dir das an die Stirn und die Schläfen.«

»Was ist das?« Hari blinzelt.

»Tigerbalsam. Keine Angst, der beißt nicht, aber in die Augen solltest du es nicht reiben.«

Hari massiert sich Stirn und Schläfen mit der weißen Paste und reicht Sina die Dose.

»Riecht gut. Danke.« Er sackt zurück aufs Sofa und schließt die Augen.

»Migräne hatte ich in der Pubertät ganz oft.« Sina senkt die Stimme fast zu einem Flüstern, während sie den Stempel der Kanne herunterdrückt und den Kaffee in zwei Tassen eingießt. »Mir war vor Schmerzen manchmal richtig schlecht, hab mich dann den halben Tag lang übergeben müssen, das war schlimm.« Sie schiebt eine Tasse in meine Richtung. »Für dich.«

Ich stehe langsam auf. Einen kurzen Moment lang scheint das Zimmer leicht zu schwanken, dann ist alles gut. Ich gehe zum Tisch und setze mich.

»Danke.«

Ich trinke einen kleinen Schluck. Der Kaffee ist heiß und stark, und ich spüre, wie das Koffein den Kopf klarer macht. Ich nippe noch einmal und setze die Tasse ab.

»Der tut gut.«

Eine Zeitlang sagt niemand etwas. Hari hat die Augen geschlossen und atmet konzentriert. Die Migräneschübe hatte er schon während des Studiums immer wieder mal, und dann ging gar nichts mehr bei ihm. Ich blicke mich um und betrachte die Kalligrafie an der Wand etwas genauer.

»Von dir?«

»Mhm.« Sina nickt.

In formvollendeten Buchstaben steht dort: ›Dieser Satz beinhaltet fünf Punkte.‹

»Der Spruch ist auch von Dir, vermute ich?«

»Ja klar. Ich habe mal einen Kurs für Kalligraphie besucht, und als Abschlussprojekt durfte jeder einen Satz kalligrafieren. Die meisten hatten tiefsinnige Sprüche wie ›Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt‹ oder ›Beginne jeden Morgen mit einem Lächeln‹. Ganz furchtbar.«

Ich nicke und muss an Ulla und ihre Kühlschrankmagnete denken.

»Ich hätte als Alternative noch ›Hier könnte Ihre Werbung stehen‹ vorgesehen, fand diesen Satz dann aber doch besser. Funktioniert übrigens auch auf englisch.«

This phrase contains five points. Stimmt.

Hari stöhnt leise. Für den Rest des Tages würde er wohl mehr oder weniger dahinsiechen, und morgen ist dann hoffentlich wieder alles vorbei.

»Wollt ihr was essen?«

Ich schüttle den Kopf – und bereue es sofort. So schnell wirkt der Kaffee dann doch nicht.

»Nein, danke, ich brauche nichts. Kaffee reicht völlig.«

Hari macht ein undeutliches »Mmh-mmh«.

»Hab ich mir schon gedacht.« Sina grinst wieder, mitleidig.

»Dir fehlt gar nix?« frage ich.

»Nein, mir geht es gut. Ihr beiden hattet ja gestern schon einen gewaltigen Vorsprung in Sachen Alkohol, den hätte ich nur schwer einholen können. Außerdem muss ich ja dieses Wochenende arbeiten.«

Sina blickt auf die Uhr, die an der Wand hängt.

»Ich muss los. Wie sieht es mit euch aus? Ihr könnt gerne noch da bleiben, wenn ihr wollt.«

Hari sieht überhaupt nicht so aus, als könnte er aufstehen, geschweige denn zu sich nach Hause kommen.

Sina stellt ihre leere Tasse ins Spülbecken und füllt eine Karaffe mit Wasser. Dann nimmt sie ein frisches Glas aus dem Hängeschrank über der Spüle und stellt beides neben Hari auf den kleinen Tisch im Wohnzimmer.

»Hier, falls du Durst hast. Du kannst gerne hier bleiben, so lange du willst. Wenn du gehst und ich noch nicht zurück bin, zieh’ einfach die Haustür zu.«

Hari fällt es sichtlich schwer, die Augen auf Sina zu fokussieren, aber er versucht es trotzdem.

»Danke. Das ist lieb von dir«.

Er lässt sich kraftlos zurückfallen.

»Schon in Ordnung.«

Sie dreht sich zu mir.

»Und du, Martin? Bleibst du auch da?«

»Ich glaube, ich gehe jetzt auch. Ein bisschen frische Luft ist sicher nicht verkehrt.«

»Okay. Du kannst mit mir mitkommen, meine Arbeitsstelle ist fünf Minuten von hier, und direkt davor ist eine Bushaltestelle.«

»Alles klar.« Ich trinke den Rest Kaffee aus und stelle meine Tasse dann zu ihrer ins Spülbecken.

»Gut, dann los.«

Sie zieht ihren grünen Mantel an, reicht mir meine Jacke, schlüpft in die roten Stiefel, zieht die Mütze über ihre kurzen, braunen Haare, legt Schal und Handschuhe an. Dann nimmt sie ihre ebenfalls knallbunte Tasche und öffnet die Wohnungstür.

»Halt, ich darf die Augen nicht vergessen.«

Sie öffnet den zweiten Schub der schmalen Kommode, die neben der Wohnungstüre steht, und nimmt einen kleinen Beutel heraus, den sie in die Manteltasche steckt.

»Augen?«

»Wirst du gleich sehen. Komm mit.«

Ich muss kurz an ›Minority report‹ denken. Haben sie im Altenheim Schleusen mit Augen-Scannern? Wir gehen aus der Wohnung. Bevor sie die Türe schließt, steckt sie den Kopf noch mal durch die Tür.

»Gute Besserung, Harald.«

Aber Hari ist schon eingeschlafen.

11: 03: 23

Die Luft ist frisch, es riecht nach Winter. Der Nebel hängt in den Straßen. Obwohl viele Leute unterwegs sind, um noch ihre Besorgungen für’s Wochenende zu machen, hört und sieht man fast nichts. Wir gehen die Straße entlang, fast wie in Watte, auch unsere eigenen Schritte scheinen gedämpft zu sein. Oder sind das die Nachwirkungen der letzten Nacht?

»Was hast du heute noch vor, Martin?«

»Nicht viel. Dieses Wochenende habe ich keine Gigs mehr, keine Proben, gar nichts. Vielleicht gar nicht mal so schlecht nach der letzten Nacht. Und du?«

Sina lacht.

»Arbeiten! Dann heim. Essen. Schlafen. Und vorher vielleicht noch die Diskussion mit euch gedanklich aufarbeiten. Harald hat ein paar … interessante Theorien. Seltsam, aber interessant.«

»Wobei dein Vorschlag mit dem Douglas-Adams-Zitat auch ziemlich … interessant war.«

Sina ist wie Hari und ich von Douglas Adams schwer begeistert. Nachdem Hari seine Theorie lang und breit vorgetragen hat, hat Sina auf den Anfang vom zweiten Band der Anhalter-Trilogie verwiesen. Sinngemäß steht da, dass es eine Theorie gibt, wonach das Universum in dem Augenblick durch etwas komplizierteres ersetzt wird, in dem der Mensch glaubt, alles verstanden zu haben. Manche würden behaupten, das sei schon passiert.

Wir haben den Faden dann gemeinsam weitergesponnen. Theoretisch könnte es tatsächlich möglich sein, dass die Welt am Anfang sehr einfach war und die Erde tatsächlich irgendwie der Mittelpunkt. Nachdem die Menschen versucht haben, mehr von ihrer Umgebung zu verstehen, musste die Computersimulation (wenn es sie denn gibt) dem Rechnung tragen und komplexer werden. Planetenbewegungen, heliozentrisches Weltbild, Atomtheorie. Immer dann, wenn die Menschen an eine Grenze stoßen, kommt eine Komplexitätsebene hinzu.

Max Planck wurde ja Ende des neunzehnten Jahrhunderts von einem Physikstudium abgeraten, weil schon alles erforscht sei. Einige Jahre später: bäm! – Quantenmechanik, alles noch mal von vorn.

Wir gehen schweigend weiter, bis Sina unvermittelt stehen bleibt.

»Hier ist es!«, zischt sie.

»Was ist hier?« Automatisch senke auch ich die Stimme zu einem Flüstern, obwohl keiner zu sehen ist.

»Siehst du die Straßenlaterne? Die Schraube hier sieht aus wie eine Nase, und die abgeblätterte Farbe hier hat was von einem grinsenden Mund. Fehlen nur noch die Augen.«

Sie kramt in ihrer Manteltasche.

»Ta-da!«

Ein kleiner Beutel mit selbstklebenden Kulleraugen baumelt vor meinem Gesicht. Zwei Stück davon holt sie aus dem Beutel und klebt sie an die Laterne.

»So gefällt mir das viel besser.«

Sie betrachtet grinsend die Laterne, und die Laterne schaut nun grinsend zurück.

»›Seltsam, aber interessant‹ trifft ja irgendwie auch auf dich zu«, sage ich – und bereue es im selben Augenblick. Könnte man als alles zwischen billiger Anmache und Beleidigung auffassen, obwohl ich es weder so noch so gemeint habe.

Sina lächelt mich an.

»Ich fasse das als Kompliment auf und hätte den Spruch gerne auf meiner Urne. Hat aber noch Zeit.«

Ich lächle unsicher zurück.

»Bin noch nicht ganz da. Sorry, wenn ich irgendwelchen Bockmist labere.«

»Aber ich bin da.«

Sie deutet mit dem Daumen hinter sich.

»Da muss ich rein. Ich wünsche dir einen entspannten Tag, Martin.

Man sieht sich.«

Ich klappe meinen Mund auf, um noch irgendwas zu sagen, aber bevor das Gehirn Verbindung zum Mund aufnehmen kann, ist Sina mit all ihren Farben in dem grauen Gebäude verschwunden. Ich starre auf die Tür und murmle: »Dir auch.«

12: 07: 56

Das Quietschen der Bremsen holt mich ins Hier und Jetzt zurück. Ich sitze im Bus und blicke auf: meine Haltestelle. Ich springe zu schnell auf – ein Fehler – aber der kurze flaue Moment ist vorbei, als ich auf dem Gehsteig stehe.

In meiner Wohnung lasse ich mich aufs Sofa fallen. Kaffee? Später. Essen? Viel später. Ich greife zu meiner alten Übegitarre, schalte das Effektgerät ein und setze den Kopfhörer auf. Eigentlich sollte ich an dem neuen Song weiter basteln, aber irgendwie bleibe ich an den ersten beiden Akkorden hängen. Ein bisschen Chorus, ein bisschen mehr Ping-Pong-Echo und viel mehr e-Moll – eintauchen, eins werden mit dem Instrument und dem Sound …

16: 29: 07

Ich erwache aus der Trance, als es an der Haustüre klingelt. Wie spät ist es eigentlich? Ein kurzer Blick auf das Telefondisplay – halb fünf und neun entgangene Anrufe. Von Ulla. Ich gehe zur Tür und öffne. Draußen steht – Ulla. Sie wirkt aufgebracht, die Augen ein bisschen gerötet, so als ob sie geweint hätte.

»Hallo Ulla.«

»Hallo Martin.«

»Sorry, ich habe Musik gemacht und hatte den Kopfhörer auf.«

Ich deute in Richtung Decke, zu meinen Lieblingsnachbarn im Stockwerk über mir.

»Mietwohnung. Du hast schon ein paarmal angerufen, das hab ich jetzt erst gesehen.«

»Kein Problem, ich war … ich hatte … ich war sowieso gerade in der Stadt und dachte …«. Sie sucht nach Worten.

»Darf ich reinkommen?«

»Sicher. Setz dich.«

Ich räume schnell zwei Stühle für uns frei. Wir setzen uns.

»Danke.«

Sie atmet tief durch.

»Ich will dich auch gar nicht lange aufhalten. Ich dachte, vielleicht wäre Harald bei dir? Ich erreiche ihn seit eineinhalb Tagen nicht.«

Sie klingt aufrichtig besorgt.

»Hari und ich haben uns gestern auf dem Weihnachtsmarkt getroffen. Ich hatte einen Gig mit Hanna. Danach haben wir eine …«

Ja, was eigentlich? Einen Feldversuch für seine Theorie, die Ulla als Hirngespinst abtut?

»… eine Art Experiment durchgeführt. Eine – Befragung. Naja, irgendwie sind wir dann bei einer Bekannten gelandet, die uns freundlicherweise bei sich hat übernachten lassen. Hari hat ein bisschen was getrunken und deshalb heute leider wieder Migräne, daher liegt er vermutlich immer noch auf dem Sofa.«

»Eine Befragung? Sicher wieder eine seiner dummen Ideen und Theorien. Er soll sich mal um seine Arbeit kümmern, wenn er sich da so reinhängen würde, wie in seine Theorien, dann …«

Ulla stockt. Sie sieht mich an, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie schluchzt.

»Es … es tut mir leid. Ich … ich will doch nur … ich mache mir solche Sorgen um Harald. Eigentlich will ich doch nur, dass es ihm gut geht, und dass er sein Leben endlich irgendwie auf die Reihe bekommt. Seit dem Unfall …«

Sie beißt sich auf die Unterlippe und schließt die Augen. Tränen laufen ihr über das Gesicht.

»Ulla, ich … es tut mir leid, ich … «

Ulla weinend in meiner Wohnung, das wirft mich komplett aus der Bahn. Ulla, die sonst alles und auch sich unter Kontrolle hat. Ich weiß nicht mehr weiter und klappe den Mund wieder zu.

Sie wischt sich über die Augen, fasst sich wieder.

»Nein, mir tut es leid, dass ich vor dir sitze und rumheule wie ein kleines Mädchen. Ich bin froh und dankbar, dass du ein Auge auf Harald hast. Wer weiß, wo er wäre, wenn er dich nicht hätte. Es ist nur … ich bin seine große Schwester, und ich mache mir immer noch Sorgen um ihn, genau so wie früher, als er ein kleiner Junge war. Und seit dem Tod unserer Eltern fühle ich mich noch mehr dazu verpflichtet, für ihn zu sorgen. Er ist so ein Träumer, das war er schon immer.«

Sie sucht in ihrer Tasche nach einem Taschentuch, findet es schließlich, trocknet sich damit die Augen und putzt sich die Nase. So verzweifelt wie gerade eben habe ich Ulla noch nie gesehen. Sie ist immer die Chefin gewesen, hat Hari hart rangenommen und herumkommandiert.

Langsam beginne ich zu begreifen, was wohl der tiefere Grund für ihr Verhalten ist.

»Ja, manchmal ist er wohl tatsächlich ein bisschen – unorganisiert.«

Sie blickt mich mit ihren verheulten Augen an und lächelt sogar ein bisschen.

Wenn sie lächelt, erkennt man, dass sie Haris Schwester ist, dann ist die Ähnlichkeit echt verblüffend. Ich überlege. Sehr oft habe ich Ulla nicht lächeln gesehen, und Hari lacht in letzter Zeit auch selten – außer gestern, als er voller Begeisterung Sina seine Theorie erklärt hat.

»So könnte man es auch ausdrücken – ›unorganisiert‹.«

Sie macht eine kleine Pause, das Lächeln verschwindet.

»Ich weiß, dass ich ihm schon sehr zusetze mit meiner Kritik an seinem Lebensstil. Vielleicht setze ich ihn zu sehr unter Druck? Ich will ihn ja nicht bevormunden, aber wenn ich sehe, dass er die einfachsten alltäglichen Dinge komplett vergisst? Soll ich ihm zusehen, wie er am Ende noch verhungert, weil er nicht dran gedacht hat, sich was zu Essen zu besorgen? Ich glaube ja nicht, dass er den Schussligen mimt, um mich zu ärgern.«

»Nein, auf keinen Fall! Hari ist tatsächlich … bleiben wir bei unorganisiert. Aber er ist froh, dass sich seine große Schwester um ihn kümmert. Ich bin sicher, dass er das zu schätzen weiß, auch wenn er dir das vielleicht nicht sagt.«

Da ist es wieder, das kleine Lächeln.

»Und ich glaube auch nicht, dass er verhungern würde oder so. Ich denke eher, dass du manchmal zu schnell für ihn bist, zu weit nach vorne denkst. Bis Hari bewusst wird, dass die Geschäfte am Sonntag gar nicht offen haben, hast du schon für ihn eingekauft.«

Und ihm eine ordentliche Standpauke gehalten, denke ich mir, traue mich aber nicht, es auszusprechen.

Ulla überlegt.

»Meinst du wirklich? So habe ich das noch gar nicht gesehen.«

»Hab ein bisschen Geduld mit ihm. Du weißt doch, Jungs sind immer langsamer als Mädchen, das war doch schon in der Schule so. Ihr wart uns doch immer meilenweit voraus, stimmt’s?«

Ich grinse Ulla an. Sie grinst zurück.

»Ja, da ist vielleicht was dran. Wenn du das sagst.«

Ihr Grinsen wird breiter.

»Ganz bestimmt. Ich war auch mal ein Junge, bin also vom Fach.«

»Du meinst also, ich soll ihn einfach mal machen lassen? Auch auf die Gefahr hin, dass er am Sonntag vor dem Supermarkt steht?«

»So ein Erlebnis kann sehr lehrreich sein, glaub mir.«

Mir ist das tatsächlich mehr als einmal passiert, ich weiß also, wovon ich rede. Aber auch das sage ich ihr nicht.

»Hm.«

Sie scheint die Situation in Gedanken durchzuspielen, wirkt aber noch nicht vollends überzeugt.

»Darf ich offen zu dir sein, Ulla?«

Ich probiere es jetzt trotzdem und hoffe, dass ich mich in der Wortwahl nicht vergreife.

»Ja klar, Martin, ich bitte darum!«

Also gut.

»Weißt du – Hari mag dich sehr gern, auch wenn er das nicht zeigt. Vielleicht ist es ihm auch selber gar nicht bewusst, aber …«

Jetzt kommt’s.

»Wie soll ich es formulieren? Sei mir nicht böse, wenn ich das sage, aber manchmal sind deine Äußerungen ihm gegenüber schon recht, naja, lautstark, und wenn er dich nicht gern hätte, hätte er schon längst mal zurückgebrüllt oder wäre auf und davon gelaufen.«

Ulla sagt gar nichts. Sie schluckt. Dann vergräbt sie das Gesicht in den Händen und schluchzt. Sie klappt regelrecht in sich zusammen und weint hemmungslos. Das habe ich ja prima hinbekommen.

»Ulla, tut mir leid, ich wollte dich nicht – in Frage stellen oder so.«

Ihr Rücken bebt. Ich glaube, ich sage erst mal gar nichts mehr. Hat sie das so getroffen? Ich bin doch wirklich sehr vorsichtig mit meiner Wortwahl gewesen. Oder? Vermutlich nicht vorsichtig genug.

Nach einer kleinen Ewigkeit nimmt sie die Hände vom Gesicht.

»Danke für deine Offenheit, Martin. Du hast absolut recht.«

Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.

»Weißt du, es gab vor vielen, vielen Jahren mal eine Situation – ich weiß gar nicht mehr den Anlass. Harald war damals noch sehr klein, war gerade in die Schule gekommen. Jedenfalls gab es Ärger, weil er die Hausaufgabe vergessen hatte. Harald hat einen Brief mitgebracht, in dem die Eltern zu einem Lehrergespräch vor geladen wurden. Er hat die Situation überhaupt nicht begriffen und sogar gelächelt, als er Mama den Brief gab. Vielleicht hat er gedacht, es wäre was Besonderes, dass nur er einen Brief mit nach Hause nehmen darf.

Mama war eigentlich immer sehr geduldig mit uns und ist eigentlich nie laut geworden, aber an diesem Tag – ich weiß nicht warum, aber sie war einfach in schlechter Stimmung, und dann auch noch dieser Brief. Jedenfalls hat sie Harald an diesem Tag angebrüllt. Ich glaube, es war das erste und einzige Mal, dass sie überhaupt so laut geworden ist.

Ich kann mich noch an Haralds Gesicht erinnern: zuerst das Lächeln, dann die Überraschung, weil Mama ihn anschreit, und dann aber nicht Angst oder Trauer, sondern – ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Er ist irgendwie nach innen … verschwunden? Da war nur noch seine Hülle, sein Gesicht, aber die Augen waren leer, er hat sich da komplett zurückgezogen.

Später hat sich Mama dann bei ihm entschuldigt, ihn umarmt, und ich glaube, alles war wieder gut. Aber ich habe gesehen, wie Harald sich eingekapselt hat, und das machte mir Angst, große Angst. Und ich habe mir fest vor genommen, dass so etwas nie wieder passiert, ich habe geglaubt, dass er sonst vielleicht irgendwann nicht mehr wieder heraus findet.«

Sie blickt mich lange an.

»Verstehst du, was ich meine?«

Ich nicke nur.

»Und jetzt … mir ist bewusst geworden, dass ich ihn genauso anbrülle wie Mama damals, nur öfter, und vielleicht verschwindet er dann tatsächlich, und … und … und das wollte ich doch alles nicht, es tut mir so leid!«

Sie blickt mich an. Die Tränen laufen ihr über die Wangen, und ich glaube, das Mädchen von damals in ihr zu erkennen, das Angst davor hat, ihren Bruder zu verlieren.

Ich sage gar nichts und reiche ihr ein Taschentuch.

»Danke. Entschuldige bitte, dass ich …«

»Schhhh, schhhh, schon gut. Du musst dich nicht entschuldigen, alles in Ordnung.«

Eine Zeitlang sitzen wir beide schweigend da. Ulla trocknet sich die Augen und die Wangen, dann schließt sie die Augen. Sie atmet tief ein und langsam wieder aus, ein, aus, ein, aus.

»Ich werde es versuchen. Ich muss es einfach versuchen.«

Sie murmelt mehr, als dass sie spricht. Dann öffnet sie die Augen.

»Ich glaube, du hast recht, Martin, und ich danke dir sehr für deine Zeit, für deine Fürsorge gegenüber Harald und für deine Ehrlichkeit und dieses Gespräch. Ich sollte jetzt aber besser gehen.«

Sie betrachtet das zerknüllte Taschentuch in ihrer Hand.

»Darf ich vorher noch dein Bad benutzen?«

Ich nicke und deute zur Badezimmertür. »Klar.«

Sie steht auf und geht ins Bad. Der Wasserhahn rauscht. Kurze Zeit später kommt sie wieder heraus. Die Augen sind immer noch gerötet, aber sie wirkt frischer, gelöster, entspannter. Das traurige junge Mädchen ist verschwunden, aber Ullas Gesichtszüge sind nun weicher, freundlicher.

»Kann aber gut sein, das Hari heute erst spät oder gar nicht kommt. Mach dir keine Sorgen, Sina kümmert sich sich sicher gut um ihn.«

»Sina?«

»Ja, die Bekannte.«

Eigentlich wollte ich Sina nicht in die Geschichte reinbringen, aber dazu ist es jetzt zu spät.

»Ok. Sina. Ja, wenn du sagst, dass er gut aufgehoben ist … die Migräneschübe nehmen in letzter Zeit wieder zu. Armer Harald, mir tut er leid, ich stelle mir das grausam vor.«

»Ja, tauschen möchte ich nicht mit ihm.«

»Martin, ich danke dir für alles. Wir sehen uns!«

Ulla reicht mir die Hand. Ihre schmalen Hände sind kalt, aber der Händedruck angenehm fest.

»Keine Ursache. Mach’s gut, Ulla.«

Ich blicke ihr nach, bis sie im Hausgang um die Ecke biegt. Dannschließe ich langsam die Wohnungstür. Ich lasse das gerade Erlebte noch mal in meinem Kopf Revue passieren. Komplett surreal, irgendwie. Ich überlege, ob ich noch weiter Gitarre spielen oder am besten gleich ins Bett gehen soll. Oder mal Hari anrufen? Nö. Erstens wecke ich ihn, wenn er das Klingeln überhaupt hört, und zweitens: was soll ich sagen? Hi, ich bin’s, deine Schwester war übrigens gerade da und hat geweint? Das passt auch nicht.

Da gibt mir mein Magen unmissverständlich ein Signal, dass ich ihn schon zu lange vernachlässigt habe. Okay, auch eine Alternative. Ich gehe zum Kühlschrank.

Lichtfisch

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