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Martin Jone, 2018-10-26

14: 32: 10

Kurz nach halb drei. Ich stehe vor Haris Haus. Am Freitag treffen wir uns recht regelmäßig nach der Arbeit, aber heute muss Hari wohl länger ran. Ich gehe über die Straßenseite und betrachte die Sandsteinfassade von seinem Haus. Nach dem Unfall seiner Eltern haben er und seine Schwester das Haus geerbt. Hari hatte sowieso gerade den Job gewechselt, und seine Schwester gleichzeitig mit den Eltern den Mann verloren. Also haben sie sich die Elternwohnung unter dem Dach geteilt. Hari arbeitet hauptsächlich von zu Hause aus und übernimmt ein paar Hausmeisterjobs, die immer wieder mal anfallen. Ulla arbeitet halbtags in einem Büro.

Die Haustüre geht auf, Hari kommt raus.

»Hallo Jonesy, sorry, ist ein bisschen später geworden. Die Kundenhotline ist am Freitag sowieso nur bis 12 geschaltet, aber der Kunde hatte einen Sondertermin, ging nicht anders. Hab ihm per Fernwartung geholfen, seine Trainingseinheiten in unser Programm einzupflegen.«

»Kein Problem, ich war auch ein bisschen später dran als sonst.«

Wir gehen Richtung Altstadt.

»Schon was zu Mittag gegessen?«

»Nö, hatte ja den Telefontermin. Du?«

»Auch nicht. Heute hat mich die Kantine nicht überzeugt. – Pizza?«

»Immer.«

Wir gehen weiter Richtung Pizzeria. Es riecht nach Herbst und feuchtem Laub, eine Andeutung von Nebel hängt in der Luft. In den Auslagen der Bäckerei liegen Lebkuchen, es duftet nach frischem Brot.

»Sind spät dran mit ihren Lebkuchen, im Supermarkt liegen die schon seit vier, fünf Wochen«, frotzle ich.

»Wenn es im August nicht so warm wäre, würden sie die da schon verkaufen, aber da schmilzt vermutlich der Schokoüberzug.«

»Das wäre echt eine Marktlücke! Wer will an Weihnachten schon Lebkuchen? Aber im Sommer nach der Grillparty noch einen Lebkuchen, dazu Glühwein auf Eis, das ist die Geschäftsidee!«

»Wieso Grillparty? Gegrillt wird im Winter, im Sommer kann das ja jeder.«

»Auch wieder wahr.«

»Apropos Geschäftsidee – was macht dein Projekt?«, fragt Hari.

Mein Projekt. Wir waren vor einiger Zeit in einer neu eröffneten Kneipe, in der im Hintergrund ganz schreckliche Meditationsmusik lief. Alles instrumental, viel Hall, Panflöte und ab und an Vogelgezwitscher – ich habe jeden Moment damit gerechnet, dass die Bedienung jedem Gast eine Yogamatte in die Hand drückt und eine geführte Reise ins Selbst anbietet: ›Wir haben Finde-dich-selbst-Wochen, jede Meditation für die Hälfte, das erste Räucherstäbchen gibt’s gratis. Jungs, seid ihr dabei?‹

Nix gegen Yoga und Meditation, aber alles zu seiner Zeit. Jedenfalls haben Hari und ich das ein Bier lang über uns ergehen lassen und dann die Kneipe gewechselt. Ich hatte dann den Einfall, so eine meditative Dauerberieselung doch irgendwie synthetisch zu erzeugen. Ein paar Akkordfolgen einspeichern, zufällig abrufen, ein paar passende Töne als Melodie, Lautstärkeregler dran, fertig.

Hari ist sofort darauf eingestiegen.

›Das Teil kannst du an sämtliche Wellness-Tempel verticken. Aber du musst dem Benutzer schon irgendwelche Regelmöglichkeiten geben – stimmungsabhängig, weißt du? Stylisch und bunt.‹

›Stylisch und bunt? Grün für Wald und Wiese, Blau für Meeresrauschen und Walgesänge, Rot für Zu-lange-in-der-Sonne oder was?‹

›Da gibt es sicher esoterische Zuordnungen: I Ging, Goethes Farbenlehre, die vier Elemente, was weiß ich. Aber nur on/off ist zuwenig.‹

Wir haben uns dann in der nächsten Kneipe richtig in das Projekt reingesteigert. Es gibt nämlich tatsächlich eine Fünf-Elemente-Lehre im Daoismus, und die Ideen dahinter lassen sich mit ein bisschen Phantasie problemlos klanglich umsetzen. Also noch einen Regler drauf, der stufenlos zwischen den Elementen wechselt: ›Vijaya, heute bin ich total auf Wasser eingestellt, aber ein bisschen Metall darf mit dabei sein!‹ Dann noch mit farbigen LEDs beleuchten und -

»Erde an Jonesy, bist du noch da?«

»Oh, sorry, ja, ich war gerade in Gedanken – das Projekt? Naja, die musikalische Ausgestaltung ist gar nicht mal so einfach. Ich habe zwar tatsächlich den Schaltplan zu einem echten Zufallsgenerator gefunden, damit das Kästchen ja auch auf alles Umbewusste reagieren und die Energien der Leute um sich herum transformieren kann! Also keine digital erzeugten Pseudo-Zufallszahlen – nein, mein Herr! Echter, analoger, realer Zufall! Gegen Aufpreis spaxe ich noch einen Energiestein deiner Wahl neben die Platine!«

Ich grinse Hari an, er grinst zurück.

»Aber so richtig überzeugend klingt das noch nicht. Wenn die Akkordfolgen festgelegt werden und ich zufällig eine auswähle, klingt’s ziemlich schnell ziemlich langweilig.«

»Langweilig? Meditationsmusik? Och nööööö.« Hari gibt sich gespielt empört.

»Quatschkopf – es soll meditativ sein, aber nicht fad. Der andere Ansatz war, einfach per Zufall Akkorde aus einer Tabelle auszuwählen, und das klingt nicht mehr langweilig, sondern eher …«

»Furchtbar?«

»Genau.«

Wir lachen beide.

»Also brauche ich einen Ansatz dazwischen, aber dazu hatte ich noch keine Zeit. Momentan bin ich mit 2u 2weit wieder gut unterwegs, und kurz vor Weihnachten pendle ich gefühlt zwischen Arbeit und Bühne, mit einem kurzen Zwischenstopp daheim im Bett.«

»Habt ihr wieder so viele Auftritte?«

»Im Oktober jetzt nicht mehr, im November drei, und im Dezember fünf – nein, sechs. Ein Geburtstag kam auch noch rein.”

»Du müsstest ein Kästchen bauen, dass euch ersetzt, dann hättest du frei.«

»Gibt’s schon, nennt sich CD-Player. Oder Laptop, Handy, was auch immer.«

Ich muss an den letzten Geburtstagsgig denken. Der war eine Katastrophe.

»Bei manchen Gigs frage ich mich echt, warum sie uns engagiert haben. Entweder sind wir zu laut, oder stehen irgendwo im Weg, und wenn wir dann mal Pause machen, nachdem die Gäste das Buffet fast leergefuttert haben, und die Reste einsammeln, beschweren sich die Leute, dass die Band ja wohl nur dafür bezahlt wird, dazusitzen und zu essen.«

»Dann sind die Weihnachtsmärke doch top, da hast du immer Laufpublikum.«

»Stimmt schon. Aber dann gibt es die notorischen Nörgler, die sich aufregen, weil ›Ironic‹ kein Weihnachtslied ist, und die anderen, die demonstrativ die Augen verdrehen, wenn man mal tatsächlich ein Weihnachtslied spielt.«

»Dann bau’ einen Automaten mit Trichter. Interaktiv. Schüttet jemand einen Glühwein rein, kommt ein Weihnachtslied, und bei Bier dann was Weltliches«, schlägt Hari vor.

»Und bei Honigmet?«

»Mittelalterrock. Oder New-Age-Gregorianik!«

»Kinderpunsch?«

»Rudolph the red-nosed reindeer!«

»Okay, klingt machbar.«

Wir sind an der Pizzeria angekommen. Ich bleibe vor dem Eingang stehen.

»Und bei einem heißen Hugo?«

Hari überlegt kurz.

»Last christmas?«

Ich nicke grinsend und halte meine Hand hoch. Hari schlägt ein.

Das Essen wird serviert. Während ich die Pizza anschneide, frage ich: 15: 17: 23 »Und dein Projekt, Zweistein? Hat das Universum nun einen Sinn?«

Harikaut schon. Zwischen zwei Bissen antwortet er: »Schwer zu sagen. Ich habe noch ein bisschen weiter daran gearbeitet und bin mir gar nicht mal sicher, ob die Frage an sich überhaupt sinnvoll ist.«

»So, die Frage nach dem Sinn ergibt also keinen Sinn?« Ich zwinkere.

»Wenn du so willst, ja. Ob ein Stück Eisen nach außen hin magnetisch ist oder nicht, erkennt man ja tatsächlich von außen, nicht von innen.«

»Außer, du wanderst als winziger Beobachter durch das ganze Eisenstück durch und merkst dir jeweils die Richtung, in die dein lokaler Kompass zeigt.«

»Richtig, aber das geht nur theoretisch – und beim Universum schon mal gar nicht. Wir können weder das ganze Universum durchscannen, noch die Sache von außerhalb betrachten, sofern es überhaupt ein Außen gibt. Momentan behaupten die meisten Forscher, das Universum sei endlich, aber unbegrenzt. Und die Multiversum-Theorien verbieten ebenfalls, dass man ›sein‹ Universum verlassen kann.

»Hm.«

Mehr fällt mir dazu erst mal nicht ein, daher essen wir schweigend weiter.

Mit solchen Themen ist Hari in seinem Element. Die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält und dafür sorgt, dass es überhaupt etwas gibt. Grundlagenforschung, wenn man so will. Das ist schon immer nach Haris Geschmack gewesen.

Nach dem Abschluss war er eine Zeitlang an einem Lehrstuhl für theoretische Physik, der dann aber nach einem Jahr aufgelöst wurde. Weil sich dann nichts Passendes aufgetan hat, hat er sich in der freien Wirtschaft beworben. Halbleiter sind damals das große Ding gewesen.

Eineinhalb Jahre später haben die Firmenchefs gemerkt, dass die Konkurrenz im Ausland nicht geschlafen hat, und kurzerhand die Hälfte der Mitarbeiter entlassen – darunter auch Hari. Nach ein paar kurzen Zwischenstationen ist er nun als Programmierer und Kundenbetreuer bei SportVV gelandet, einem Softwareanbieter, der sich auf Sportvereine spezialisiert hat: Mitgliederverwaltung, Trainingseinheiten, Kurse – alles in einem. Hari programmiert neue Features, sucht Bugs, telefoniert mit Kunden. Das meiste geht tatsächlich von daheim aus, so dass Hari dann auch mal schnell bei einem Mieter nach dem Rechten sehen kann, wenn mal wieder irgendwas nicht läuft. Eigentlich ein sehr entspannter Job, der aber mit Haris eigentlichen Zielen gar nichts mehr zu tun hat. Daher nutzt er seine Freizeit, um sich über die neuesten Theorien auf dem Laufenden zu halten und selber an seinem Weltbild weiterzuschrauben.

Nachdem die Teller abgeräumt sind und jeder vor einem frischen Glas Wein sitzt, diskutieren wir weiter.

»Wenn das Universum nun aber tatsächlich ein Außen hätte, einen Beobachter, wäre der dann eigentlich sowas wie Gott, oder nicht?«, setze ich das Gespräch fort. »Er könnte den Sinn erkennen, oder im Prinzip sogar festlegen – fast so wie jemand, der mit einem Magneten an einem Schraubenzieher entlang streicht und den dann selbst magnetisch macht.«

Hari zögert.

»Gott als außenstehender Beobachter, als Sinn-Stifter? Ich glaube ja nicht, dass jemand aktiv das Universum veranlasst hat. Vielmehr bin ich der Überzeugung, dass das Universum etwas ist, was aufgrund der physikalischen Gesetze irgendwann einfach passieren muss.«

»Und wer hat sich die Gesetze ausgedacht?«, merke ich an.

Ich halte von dem Schöpfungsgedanken der Bibel auch nichts, aber in Haris Gegenwart bin ich gern der ewige Widersacher und suche Gegenargumente, obwohl ich eigentlich auf seiner Seite bin.

»Manche behaupten, dass es unendlich viele Universen gibt, mit allen möglichen Parameterkonstellationen. Bei einigen sind die Parameter so kombiniert, dass das Universum gleich wieder kollabiert oder zu schnell auseinanderfliegt, bevor sich überhaupt komplexere Strukturen bilden können. Wir sind halt in einem, in dem die Parameter so sind, dass Zeit genug war für Sterne und Planeten. Nachprüfen lässt sich das aber nicht«, fügt er schnell hinzu, als ich schon zu einer Gegenfrage ansetzen will.

»Okay, klingt plausibel, das löst das Schöpferproblem. Zumindest vorerst. Aber …«

Ich mache eine dramatische Pause.

»Was, aber?«

»Aber wo kommt dieser übergeordnete ›Raum‹ her, in dem deine ganzen Universen aufploppen?«

Ich deute die Anführungszeichen mit den Fingern an, weil ich weiß, dass mir Hari sonst sofort widerspricht. Raum und Zeit entstehen erst beim Urknall. Das ist jedenfalls die momentan amtliche Lesart.

»Irgendjemand oder irgendwas muss doch festgelegt haben, welche Parameter überhaupt zur Verfügung stehen. Und selbst wenn du in verschiedenen Bereichen komplett andere physikalische Gesetze hättest: irgendeine gemeinsame Basis brauchst du, und die muss von außen kommen, wird dem Gesamtsystem quasi übergestülpt.«

Hari nimmt einen tiefen Schluck aus seinem Glas, bevor er antwortet.

»Ich habe mich schon gefragt, ob das alles hier« – er deutet um sich herum – »einfach Mathematik ist. Mathematik entsteht meiner Meinung nach fast aus sich selbst. Wenn du die Null und die Eins hast und weiterzählst, hat du die natürlichen Zahlen. Plus und minus, mal und geteilt und die höheren Rechenarten bauen alle aufeinander auf, da gibt es eigentlich keine logische Alternative. Behaupte ich.«

»Ja gut, aber wie entsteht daraus ein Universum?«

»So genau weiß ich das auch nicht, ist ja keine Theorie, nur eine Überlegung. Aber nimm die Zahlen, 1, 2, 3, und so weiter. Obwohl sie alle gleich aufgebaut sind, nach eins kommt zwei, nach zwei kommt drei, gibt es zum Beispiel Primzahlen, die nur an ganz bestimmten Stellen auftreten. Also im Grunde eine emergente Eigenschaft.«

»Und du meinst, ganz vereinfacht ausgedrückt, dass so etwas wie ein Universum – oder sogar alle möglichen Universen – deshalb existieren, weil man zählen kann?«

»Sehr, sehr vereinfacht ausgedrückt: ja.«

»Aber brauchst du dann nicht trotzdem jemanden – oder etwas – das rechnen kann? Etwas, das die Welt dann nicht erschafft, sondern sie erzählt?«

Hari grinst wegen des spontanen Wortspiels, wird aber sofort wieder ernst.

»Könnte sein. Ja, wahrscheinlich. Es gibt aber Theorien, wonach der Raum selber zählen und rechnen könnte. Konrad Zuse, der Mann, der den ersten Computer gebaut hat, hat sich mit so etwas auseinandergesetzt. Leider findet man dazu nicht allzu viel im Netz. Und rechnender Raum entsteht vermutlich auch nicht spontan.«

»Rechnender Raum – das klingt schon sehr futuristisch.«

»Zuse hat seit den 1940er Jahren darüber nachgedacht.«

»Hat sich dann vermutlich nicht auf breiter Front durchgesetzt«, merke ich an. Der Name Zuse sagt mir was. Sein Z3 ist quasi der erste frei programmierbare digitale Computer gewesen. Groß wie ein Schrank. Aber rechnender Raum?

»Deswegen muss es aber nicht zwangsläufig falsch sein.«

Lichtfisch

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