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Zweites Kapitel
Wie Frida und Günther zur Welt und zu falschen Eltern kamen

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»Also, nicht so viel liegen!« wiederholte der alte Hausarzt ein um das andere Mal. – »Sie haben es doch wahrhaftig bequem! Drei Stufen, und Sie sind in Ihrem Garten, und kein Mensch sieht Sie.«

»Der Garten ist noch nicht restauriert,« erwiderte Cäcilie, die auf der Chaiselongue lag

»Was heißt das?«

»Nu, er sieht noch nicht prima aus. Der neue Gärtner tritt erst am ersten Mai seine Stellung an.«

»Hier handelt es sich nicht um Äußerlichkeiten, sondern um die Gesundheit; und zwar nicht nur um Ihre,« betonte der Arzt nicht gerade freundlich.

»Eben darum.«

»Ich verstehʼ Sie nicht.«

»Nu, ich meinʼ nur.«

»Was meinen Sie?«

»Des Jungen wegen.«

»Was für eines Jungen?«

»Leo meint zwar, ich soll mir das nicht zu fest in den Kopf setzen, um nachher nicht enttäuscht zu sein, wenn es ein Mädchen wird. Aber nicht wahr, das fühlt man doch?«

»Keine Spur!«

»Ich weiß aber, daß es ein Junge ist.«

»Dann wissen Sie mehr als wir. Im übrigen, ich verstehe noch immer nicht, was hat das mit dem Garten zu tun?«

»Wissen Sie das nicht?« fragte Cäcilie erstaunt.

»Nein.«

»Daß das abfärbt?« – Und da das Gesicht des Arztes nicht klüger wurde, so fuhr sie fort: »Daß das Kind alles annimmt, und daß man darum alles Häßliche von ihm fernhalten und es immer nur mit Schönem umgeben soll?«

»So! so! – aber im Vertrauen: derartige Dinge sind Unsinn!«

»Dann haben wir das ganze Geld ja zum Fenster herausgeworfen! Wie gräßlich! Schade um die Zeit!«

»Was haben Sie getan?«

Cäcilie stand auf und öffnete eine Tür; mit der Klinke in der Hand blieb sie stehen.

»Da, sehen Sie hinein, Herr Sanitätsrat!«

Der Arzt stand auf und sah in ein geräumiges Zimmer, in dessen Mitte ein Ruhebett stand. An den Wänden rechts und links hing dicht aneinander gedrängt Porträt an Porträt. Auf der einen Seite nur männliche, auf der andern nur weibliche. Es waren zum größten Teil schlechte Kopien alter Meister. Aber auch moderne Bildnisse, denen man die Neuheit nur zu sehr ansah, hingen massenhaft herum. Auch Öldrucke fehlten nicht, und die Zwischenräume füllten Gravuren, Photographien, ja selbst einfache Drucke, die aus illustrierten Zeitungen ausgeschnitten waren.

Der Arzt staunte; er hielt es für die Galerie eines Parvenu und hoffnungslosen Dilettanten.

»Nach welchem Prinzip,« fragte er, »ist diese Sammlung entstanden?«

»Nach dem Prinzip der Schönheit!« erwiderte Cäcilie stolz.

»Und zu welchem Zweck?« fragte er nicht eben artig.

»Ja, begreifen Sie denn noch immer nicht?« rief Cäcilie erstaunt.

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Für unser Kind! Den Vormittag über liege ich auf der einen Seite, den männlichen Bildnissen gegenüber, nachmittags auf der andern. Denn es ist ja nicht ausgeschlossen, daß ich mich irre und daß es doch ein Mädchen wird.«

»Und Sie meinen . . .?« fragte der Arzt, der ganz verdutzt war und Augen und Ohren nicht traute.

»Daß allʼ diese Schönheit auf mein Kind abfärbt! Ja! Das glaube ich!«

Der Arzt schüttelte den Kopf, dann trat er ein paar Schritte in diese sonderbare Schönheitskammer.

»Wo haben Sie nur allʼ die Bilder her?« fragte er.

»Von den alten Meistern haben wir einige gekauft,« erwiderte sie. – »Aber die meisten sind von unseren eigenen Meistern angefertigt; teils nach den Originalen an Ort und Stelle, teils nach dem Leben.«

»Von Ihren eigenen Meistern?«

»Ja!« sagte sie stolz. »Wir haben in unserer Konservenabteilung zwei Angestellte, die die Etikettes und Reklameplakate zeichnen. Prima Leute. In vier Wochen, die mein Mann ihnen Zeit gab, haben sie achtunddreißig Porträts gemalt. Das soll ihnen erst ʼmal einer nachmachen«»

»Fabelhaft!« rief der Sanitätsrat. – »Und das soll hier am Ende auch über die Geburt hinaus . . .?«

»Wie meinen Sie?« fragte Cäcilie.

»Ich meine, das soll doch nicht etwa permanent so bleiben?«

»Doch! doch! Wir wollen die Galerie sogar erweitern.«

»Na ja!« sagte der Sanitätsrat, »dagegen läßt sich nun ʼmal nichts machen.«

»Und wann glauben Sie?« fragte Cäcilie.

»Bald! sehr bald! Aber ich wiederhole Ihnen, machen Sie sich, statt hier auf dem Ruhebett zu liegen, Bewegung! Sonst stehʼ ich für nichts ein.«

Cäcilie versprachʼs, und der Sanitätsrat ging.

Er sah noch schnell beim Vorübergehen zu Linkes hinein, rief Emma, die gerade am Herd stand zu:

»Na, Frau Linke, wie schautʼs aus?«

»Jlänzend! Morjen können Se mir jratulieren!«

»Na, na!« erwiderte der Sanitätsrat. – »So schnell schießen die Preußen nicht!«

»Wollen Se wetten?«

»Na, dann werdʼ ich doch mal lieber . .« sagte der Arzt, machte kehrt und ging in das Leutehaus.

»Nich nötig!« rief Emma.

»Noch mindestens vierzehn Tage!« stellte er fest.

Emma schüttelte den Kopf.

»Nʼ Taler für jeden Tag früher, Herr Doktor?«

»Da würden Sie nicht reich bei werden, liebe Frau!«

Emma wischte sich an der Schürze schnell die Hand ab und streckte sie ihm hin.

»Abgemacht?«

Der Sanitätsrat lachte und schlug ein.

»Na, also! Auf alle Fälle! Sie wissen ja, wennʼs auch nachts ist. Dazu bin ich da!«

»Schönen Dank. Herr Doktor.«

Sie brachte ihn bis zur Tür und ging dann an den Herd zurück. —

Cäcilie nahm einen der vielen Adonisse von der Wand und ging damit in den Garten. Das ungewohnte Gehen fiel ihr schwer. Nach zehn Minuten kehrte sie in das Haus zurück, ging in den Gemälderaum und legte sich auf das Ruhebett, den Rücken, obgleich es Vormittag war, den männlichen Bildnissen zugewandt; der Sanitätsrat hatte sie doch beunruhigt.

Emma saß währenddessen mit ihrem Manne und den beiden Kleinen um den blitzblank gescheuerten Tisch und aß zu Mittag.

»Scharf ist das Gulasch!« wiederholte Franz, als Emma ihm das zweite Mal den Teller füllte. Und der vierjährige Paul, der ein Patenkind Röhrens war, zog den Löffel aus dem Mund und sagte:

»Mutta! das sagt Vata bloß, daß de ihm was zu trinken jibst.«

»Richtig!« rief Franz, »der Junge kennt mich.«

»Heutʼ sollʼs nicht drauf ankommen,« erwiderte Emma.

»Was ist heutʼ?« fragte Franz.

»Heutʼ liegt noch ʼwas in der Luft.« – Dabei stand sie auf, holte ein Glas und eine Flasche Bier und stellte sie vor Franz auf den Tisch.

»Das jibtʼs ja janich; was Vata?« sagte Paul. »In der Luft, da fliegt doch höchstens ʼwas.«

»Na, ja,« sagte Emma, »da hast du recht. Es fliegt auch was, mit langen Beinen und ʼnem roten Schnabel; na Paul, nu rate ʼmal!«

»Is wahr?« rief Linke strahlend.

»Wasʼn, Vata?«

»Dummer Junge! Wer hat denn lange Beine und ʼn roten Schnabel?«

»Jroßvata!« rief Paul freudig.

»Nein! Aber ʼn Klapperstorch!«

»Schon wieda?« fragte Paul und sah auf sein Schwesterchen; »Pauline kann ja noch nicht ʼmal laufen.«

»Dott! dott!« widersprach Schwester Pauline, die auf einem hohen Kinderstuhl saß. Sie strampelte und wollte gerade von dem Stuhl herunterstürzen, um Paul zu widerlegen, als Emma ihr in den Arm fiel und sie gerade noch im letzten Augenblicke auffing.

Aber eine Erschütterung hatte es doch gegeben. Sie fühlte heftige Schmerzen, Franz nahm sie unter den Arm, half ihr und brachte sie zu Bett.

Man hatte ein helles, sonniges Zimmer in Cäciliens Nähe für sie hergerichtet.

Cäcilie, die noch immer in der Bildergalerie lag, warf sich unruhig von einer Seite auf die andere. Kehrte sie den männlichen Porträts den Rücken, so war sie überzeugt, es wurde ein Junge und wechselte schnell ihre Lage. Und lag sie mit dem Rücken zu den weiblichen Porträts, so schwor sie auf ein Mädchen, ließ jede Vorsicht außer acht und wandte sich ruckartig um. So auch jetzt wieder.

»Oh!!« schrie sie laut, griff nach der Klingel, läutete und rief dem Mädchen, das eintrat, erregt zu:

»Schnell! schnell! Ich muß ins Bett! Telephonieren Sie an Frau Helbing und meinen Mann und den Sanitätsrat. Sagen Sie, es geht los!« —

Es war etwa um die gleiche Zeit, als Cäcilie und Emma in ihren Betten lagen.

Es war bei beiden nicht leicht, und Frau Helbing lief wohl ein dutzend Mal von einer zur andern.

Emma litt sehr, und als der Knabe zur Welt kam, war sie apathisch, sah und fragte nichts.

Franz durfte nicht bei ihr sein. Sie wollte nicht, daß er sah, wie sie sich quälte. Er saß in Angst und aufgeregt in der Küche und sah und horchte zur Tür, obschon zwei Zimmer dazwischen lagen. Alle Augenblicke sah er zur Uhr: wie Stunden krochen die Minuten.

Kaum war bei Emma alles glücklich vorüber, da war Frau Helbing mit ihren Gedanken auch schon bei Cäcilie. Und ohne an Franz zu denken, stürzte sie die Treppe hinauf in Cäciliens Zimmer.

»Endlich! Ich haltʼs nicht mehr aus!« rief die Zofe und lief davon.

Frau Helbing trat eilig an das Bett heran und beugte sich über Cäcilie:

»Ulala!« sagte sie. – »Na, denn man zu!«

Erst wurde Leo, der am Bettrand stand, ohnmächtig, dann Cäcilie, – und dann kam das Kind zur Welt, das ein Mädchen war.

Frau Helbing eilte mit der Neugeborenen in Emmas Zimmer, in dem alles aufs beste für den Empfang der Sprößlinge vorbereitet war.

Franz war in seiner Unruhe ein Zimmer näher zu Emma vorgerückt.

Als Frau Helbing jetzt mit der kleinen Berndt, die in feinen Battist gewickelt war, im Eilschritt durch das Zimmer kam, sprang Franz auf, stürzte auf sie zu und rief:

»Was ist es?«

»Ein Mädchen!« erwiderte Frau Helbing und war im nächsten Augenblick auch schon aus dem Zimmer.

Neben Emmas Bett stand die Wage. Sie legte die beiden jüngsten Weltbewohner hinauf und schrieb auf einen Zettel, der daneben lag: Junge neun Pfund, Mädchen siebeneinhalb. Dann rief sie Franz und die Zofe, gab ihnen Anweisungen hinsichtlich der beiden Mütter, beugte sich über Emmas Bett und sagte:

»Nun, wie gehtʼs?«

Emma schlug die Augen auf, lächelte und sagte:

»Gut!«

»Also!« erwiderte Frau Helbing, packte in großer Hast ihre Sachen zusammen und lief zu Cäcilie.

Leo und die Zofe mühten sich um sie. Sie lag schachmatt, aber bei vollem Bewußtsein.

»Alles in Ordnung?« fragte Frau Helbing, überzeugte sich selbst, ordnete in Hast dies und jenes an und stürzte aus dem Zimmer.

Draußen empfing sie der Diener.

»Es ist schon dreimal für sie antelephoniert worden. Neiß oder Neißer oder so ähnlich. Es wäre die höchste Zeit!«

»Ich weiß! ich weiß!« rief Frau Helbing und stürzte atemlos die Treppe hinunter.

Leo lief ihr nach.

»Wo ist das Kind?« rief er aufgeregt.

»Drin, bei Frau Linke!« gab sie zur Antwort.

»Ich gratuliere, gnädiger Herr!« sagte der Diener und verbeugte sich.

»Danke! danke!« erwiderte Leo. »Ich weiß ja noch gar nicht,« und lief über den Korridor in Emmas Zimmer.

»Wo? wo?« fragte er und hatte vor Neugier und Aufregung einen ganz roten Kopf.

»Hier!« erwiderte Franz mit einer Stimme, die recht dünn klang, und wies auf einen Wickeltisch, auf dem die beiden Neugeborenen friedlich nebeneinander lagen.

Leo stürzte an den Tisch.

»Wa . . .?« rief er, »Zwillinge?«

Emma, die es hörte, erschrak.

»I Gott bewahre!« entgegnete Franz. »Eins davon gehört uns.«

»Welches?« fragte Leo.

Und Franz wies ziemlich resigniert auf das siebeneinhalb Pfund schwere Mädchen und sagte:

»Das sind wir.«

»Bravo!« rief Leo, »dann gehört der Junge also uns! Ein strammer Kerl!«

»Neun Pfund!« sagte das Mädchen, das daneben stand.

»Schade!« dachte Emma in ihrem Bette, rief mit schwacher Stimme »Franz!«, nahm seine Hand und sagte: »Macht nichts! Wir sind ja noch jung!«

Franz nickte und sagte:

»Jewiß! Hauptsache, daß es ʼn ordentlicher Mensch wird.«

Leo ging triumphierend durch das ganze Haus. Der Diener stand bis zum Abend am Telephon und meldete allen Bekannten, das Günther, neun Pfund schwer, angelangt sei. Dasselbe berichteten am nächsten Morgen in Sperrschrift sämtliche Blätter.

Auch Cäcilie erholte sich nach ein paar Stunden. Sie schmunzelte, als Leo ihr sagte: Ein Junge! Und als er mit besonderer Wichtigkeit hinzufügte: Neun Pfund schwer! – strahlte sie und dachte: prima.

Daß Linkes ein Mädchen hatten, das siebeneinhalb Pfund wog, fanden sie natürlich. Sie sahen darin so etwas wie den Takt der Natur, die Distanz wahrte.

Als die beiden Mütter sich völlig erholt hatten, die beiden Neugeborenen bei Emma lagen und die ersten Züge ins Leben taten, erschien der Sanitätsrat.

Er fühlte mit Würde den Puls und stellte fest, daß der Verlauf normal sei; dann drückte er Leo die Hand, und in seinem Blick lag so etwas wie Anerkennung. Leo erfüllte es mit Stolz, und er beschloß, dem Sanitätsrat »anläßlich der Geburt seines Erstgeborenen« eine Extragratifikation zu senden.

Die neue Gesellschaft

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