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Viertes Kapitel
Was Günther in den ersten Jahren zu leiden hatte

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Die nächsten Lebensjahre verliefen für Günther und Frida ohne besondere Erschütterungen.

Daß die Preise, die man für Leder, Decken und Konserven zahlte, immer weiter in die Höhe gingen, bewies der Luxus in der Berndtschen Lebensführung, die immer großartiger wurde. Für Günther wuchsen damit die Unbequemlichkeiten. Kaum hatte er sich an ein Kleidungsstück gewöhnt, so erschien Cäcilie schon wieder mit einem neuen im Arm. Wenn die braunen Kartons von den Lieferanten kamen, erfaßte Günther schon immer ein Grauen. Oft mußte er unter Fiffis Assistenz, die darin besondere Technik besaß, an einem Vormittag ein halbes Dutzend solcher Kleidchen anprobieren. Und Cäcilie fiel zu Günthers Entsetzen bei solcher Modeschau von einer Begeisterung in die andere.

»Sieht er nicht aus wie ein Prinz!?« war der Ausruf, der immer wiederkehrte. Und Fiffi, die von Günthers zweitem Lebensjahre an wieder Zivil trug, erwiderte dann stets:

»Gewiß! gnädige Frau! Wie aus dem Gesicht geschlossen!«

Das hatte zwar keinen Sinn, beglückte aber Cäcilie, die dann regelmäßig die Augen schloß und bedeutungsvoll mit dem Kopfe nickte. Was sie sich dabei dachte, war nicht ersichtlich. Denn da Günther nicht nur dem Namen nach männlichen Geschlechts war, so war an solchen Aufstieg durch eine Ehe nicht zu denken. Wäre Frida Berndts Tochter gewesen – dann freilich! Aber so!

Aber in dem Toilettenwechsel erschöpften sich die Peinigungen, denen Günther dank ʼdem Reichtum Berndts ausgesetzt war, nicht. Die modernen Sportwagen, in denen er seine Spazierfahrten machte, mochten für die Augen des Beschauers wohl ihre Reize haben. Aber derjenige, der drin saß, empfand anders. Und die Feinheit der Wagenfeder, auf die Cäcilie so stolz war, erweckte in Günther nur das ängstliche Gefühl, jeden Augenblick in die Höhe geschleudert zu werden.

Seine Haare waren kaum greifbar lang, da stellte Fiffi täglich Versuche an, ihm eine Frisur beizubringen, die sie an ihren früheren Chef erinnerte. Die Versuche waren qualvoll für Günther und erwiesen sich als Versuche am untauglichen Objekt.

Kam die Stunde der Ausfahrt, dann begann die Toilette, die ihren Höhepunkt darin erreichte, daß man ihm über die Händchen, die so gern frei in der Luft herumfuhren, dicke Fausthandschuhe stülpte. Überaus lästig empfand er sie und verwandte seine ganze geistige und körperliche Energie darauf, sie abzustreifen. Wohl dreißig Mal während einer Ausfahrt gelang es ihm. Aber ebenso oft zog Fiffi sie ihm mit einer Schnelligkeit, die er bestaunte, wieder auf. Und wenn er von seiner Spazierfahrt, deren Zweck es war, ihn zu erfrischen, heimkehrte, lag er erschöpft in seinen Kissen.

Alle vierzehn Tage wurde er photographiert. Der Blödsinn, mit dem man ihm dann ein freundliches Gesicht zu entlocken suchte, brachte ihn meist zum Weinen. Die Bilder waren dementsprechend. Aber in dem Riesenalbum mit der Aufschrift »Unser Heinz-Günther« fanden sie trotzdem Aufnahme. Jeder bekam dies Album vorgelegt und mußte die Heldenlaufbahn Heinz-Günthers bestaunen. Datum der Aufnahme und erläuternder Text standen darunter. »So sah unser Bubi an dem Tage aus, als er zum ersten Male ›Adda‹ sagte« – oder »Bubi machte zum ersten Male backe, backe Kuchen«. – Damit glaubten Berndts die geistige Entwicklung ihres Sohnes festzuhalten.

Das Schlimmste aber kam nach dem Schlafengehen. Schon wenn er gewaschen wurde, stieg ihm im Vorgefühl dessen, was ihn erwartete, der üble Geschmack auf. Er schloß den Mund und preßte die kleine Zunge wie zur Abwehr zwischen die Zähnchen. Aber es half ihm nichts. Emma hielt ihn, Fiffi öffnete gewaltsam seinen Mund und Cäcilie goß mit einem Porzellanlöffel den klebrigen Lebertran zwischen das Gehege seiner Zähne. Dann hielt man ihm noch eine ganze Weile den Mund zu, um ihn nach des Tages Qualen nachts über endlich sich selbst zu überlassen

Wie hätte er Frida beneidet, wenn er gewußt hätte, wie friedlich und still ihr Leben dahinging. Da gab es keine Kleiderschau: der Wagen, in dem sie lag, war altmodisch schon als Paul, der Erstgeborene, darin gefahren wurde. Für Handschuhe, Lebertran und anderen Luxus hatten Linkes weder Zeit noch Geld, noch Verständnis. Wenn Frida im Tiergarten in ihrem Wagen lag, bereiteten ihr weder Handschuhe, noch die moderne Feder des Wagens Beschwerden. Sie sah mit ihren dunkelbraunen Augen zu den Bäumen und zum Himmel empor und lachte, wenn sich die Zweige im Winde bewegten und die weißen Wolken über ihr hinzogen.

So kam es, daß sie gesündere Farbe hatte und daß man sie, im Gegensatz zu Günther, für ein freundliches Kind hielt. Dabei stopfte man nicht die teuersten Dinge in sie hinein, und sie blieb den ganzen Sommer über in Berlin, während Günther mit Berndts an die See und von der See aus ins Gebirge reiste. Da litt er mehr noch als zu Hause, da ihm Cäcilie im Konkurrenzkampf gegen andere herrschaftliche Kinder keine ruhige Stunde gönnte.

Frida kroch inzwischen unter Pauls Aufsicht ungeniert auf allen Vieren in Berndts Garten umher, den sie, wenn die Herrschaft da war, nicht betreten durfte. Sie zupfte Gras aus, spielte im Sande und war totmüde und rabenschwarz, wenn Emma sie abends ins Haus holte.

Als Günther und Frida sechs Jahre alt waren, schulten die Eltern sie ein. Günther kam in das Königliche Wilhelmsgymnasium, Frida in die zweiunddreißigste Gemeindeschule.

Während Frida in der schulfreien Zeit mit ihren Geschwistern im Tiergarten herumspielte und sich ihre Freundinnen nach eigenem Geschmack wählte, promenierte Günther an der Seite Fiffis, die sich gegen hohes Gehalt zur typischen Gouvernante entwickelt hatte, im Garten der Berndtschen Tiergartenvilla und pflegt Umgang mit Kindern, die Cäcilie hierzu für geeignet erklärte.

Günthers Geschmack traf sie dabei selten. Sie traf die Auswahl nach der sozialen Stellung und Vermögenslage der Eltern, Dinge, für die Günther keinerlei Verständnis hatte.

Ebensowenig reagierte er auf Musik, was wohl die Folge der zahllosen mechanischen Musikinstrumente war, mit denen man ihn in den ersten Jahren seines Lebens gepeinigt hatte. Er stand daher seiner Violine durchaus feindlich gegenüber.

Zweimal in der Woche erschien ein glattrasierter Maestro mit einer Riesenmähne, der auf den Namen Santo Bre hörte, und der ihn, für fünf Mark die Stunde, in die Geheimnisse der Violinkunst einzuweihen suchte. Indes vergebens!

»Barbar!« schalt er Günther und klopfte ihm mit dem Violinbogen auf die Finger. »Es ist eine Sünde, dir das heilige Instrument in die Hand zu geben. Steine sollten sie klopfen, diese seelenlosen Hände!«

So sprach der Glattrasierte zu Günther – und er sprach die Wahrheit.

Wenn aber Cäcilie während des Unterrichts hereinkam, um sich nach den Fortschritten ihres Lieblings zu erkundigen, dann warf er den Kopf zurück, daß die Künstlermähne in hellem Aufruhr in die Höhe fuhr, rieb die Fingerspitzen aneinander und rief:

»Oh! eminent! eminent! Joseph Joachim rediviuus! Musikalisch bis in die Fingerspitzen!«

Er nahm ihm die Violine ab und reichte Cäcilie Günthers Hand. – »Da! Fühlen Sie selbst!«

Cäcilie ließ Günthers Finger durch ihre Hand gleiten, schloß die Augen, zuckte leicht zusammen und sagte:

»Sie haben recht!«

Und Günther schwieg. Aus Furcht, die doppelte Zeit üben zu müssen.

»Wann wird er so weit sein?« fragte Cäcilie

»Sie meinen?« erwiderte der Maestro.

»Nun, um öffentlich . . .«

»Oh! ich will Ehre mit ihm einlegen!« unterbrach er sie. – »Alle Wunderkinder haben nachher enttäuscht, weil man sie zu früh herausbrachte. Aber über ihn wachʼ ich!« und er legte gütig wie ein Vater die Hand auf Günther.

»Was meinen Sie, wenn man ihm statt zwei, dreimal in der Woche . . .«

»Nein!«ʼ brüllte Günther.

»Ja!!« überschrie ihn der Maestro, »dann ginge es schneller.«

Und von dem Tage an hatte Günther dreimal wöchentlich Unterricht – zu fünf Mark die Stunde. In anderer Weise trat dies Mehr nicht in die Erscheinung. Cäcilie und Leo aber stritten sich, ob dies Künstlertum ihm von väterlicher oder mütterlicher Seite überkommen war. —

Der jeweilige Ordinarius gab ihm Nachhilfestunden. Das Fach spielte dabei keine Rolle. Entscheidend waren die Konserven, die Qualität des Leders und der Decken, die man dank dieser Verbindung zum Engrospreis von Herrn Berndt bezog – zu zahlen vergaß und, wenn der eigene Bedarf gedeckt war, an gute Bekannte weiter verkaufte. Auf Zensur und Versetzung übte das jedenfalls seine Wirkung. Nur Günthers Kenntnisse wurden dadurch nicht erweitert.

Da war der französische Unterricht, den Fiffi erteilte, denn doch eine andere Sache.

Fiffi war, bevor sie die seidenen Froufrous mit dem Spreewälderkostüm vertauschte, tatsächlich mehrmals mit ihrem Chef zum Einkauf und so in Paris gewesen. Von jeder dieser kleinen Reisen brachte sie ein paar Brocken Französisch mit nach Haus, die sie als eisernen Bestand in ihren Sprachschatz aufnahm.

Das ging bei Berndts Anspruchslosigkeit gegenüber allem, was Günther anging, eine Zeitlang. Wenn es klopfte und er auf Fiffis Wink hin »Entrez« rief oder »sʼil vous plait« sagte, wenn er bei Tisch etwas forderte, so sahen sich Leo und Cäcilie gerührt an. So etwas genügte für ein paar Wochen, dann flaute die Wirkung ab und Berndts erwarteten neue Überraschungen.

Aber Fiffis Vorrat reichte nicht lange, und als er verbraucht und der Versuch, die alten Beziehungen zu ihrem Chef wieder aufzunehmen, gescheitert war, offenbarte sie sich Cäciliens Bruder, der nicht nur Referendar und ein netter Kerl war, sondern auch Humor hatte und schon längst zu Fiffi neigte.

Referendar Alfred besaß Langenscheidts Sprachlehre in vierundzwanzig Lieferungen, die seit vielen Jahren unbenutzt in seinem Schranke stand. Und da er klug genug war, zu erklären, daß er sie nicht aus dem Hause gäbe, so blieb Fiffi nichts anderes übrig, als sich zu ihm zu bemühen.

Er brachte ihr während ihres Besuchs in angenehmer Art immer nur so viel bei, wie bei Berndts bescheidenen Ansprüchen für eine Woche nötig war. Und in dem Maße, in dem mit dem Alter Günthers Aufnahmefähigkeit zunahm, nahmen auch die Beziehungen zwischen Fiffi und dem Referendar einen immer innigeren Charakter an. Denn bald reichte der wöchentliche Besuch für das, was Günther an französischer Sprache konsumierte, nicht mehr aus. Fiffi war gewissenhaft, zog die Konsequenzen und kam häufiger.

Und als diese Beziehungen Berndts gegenüber nicht mehr zu leugnen waren, erhielt Fiffi ganz offiziell, und zwar in Gegenwart des Dienstpersonals, die Erlaubnis, Herrn Referendar Alfred, der sich angeblich für vergleichende Rechtswissenschaft interessierte und gerade mit dem Studium des Code Napoleon beschäftigt war, »zur Vervollkommnung in der französischen Sprache« Nachhilfeunterricht zu erteilen.

Und zwar im Hause des Referendars. Denn als Cäcilie des Geredes der Leute wegen das für bedenklich hielt, warf sich Fiffi in die Brust, die sie noch von der Zeit des Spreewälderkostüms her mit besonderem Stolze trug, rief: »Honny soit, qui mal y pense« und stellte die Kabinettsfrage.

Und Cäcilie, die nicht einzugestehen wagte, daß sie das nicht verstand, erklärte sich für überzeugt und sagte:

»Dann allerdings. Das ist was anderes!« und erteilte die Erlaubnis.

Daß Günther auf dem Gymnasium trotz dieser privaten Vorstudien gerade im Französischen hinter den Leistungen der Klasse zurückblieb, war für Berndts ein Rätsel, zu dessen Lösung Fiffi auf Befehl Cäcilies den Lehrer, der den französischen Unterricht erteilte, aufsuchte.

Fiffi wußte, es ging um ihr Prestige. Sie ließ alle Künste springen. Und obgleich der Oberlehrer Sasse so gar nicht das war, was Fiffi liebte, so war das Resultat doch ein ständiger »Gedankenaustausch« zwischen beiden, der ausgezeichnete Erfolge brachte. Denn zu Michaelis ging Günther, statt mit einer Admonition im Französischen, mit dem Prädikat »gut« in die Quinta über.

Fiffi erhielt Gehaltserhöhung.

»Woran lag es nur?« fragte Cäcilie.

»Sehr einfach,« erwiderte Fiffi, »Professor Sasse hatte seine Studien in Bordeaux betrieben, ich in Paris.«

»Ja – und?«

Fiffi war erst um die Antwort verlegen. Dann aber meinte sie:

»Wir haben uns auf der mittleren Linie geeinigt.«

»Dann ist ja alles gut,« sagte Cäcilie.

Denn das hatte Fiffi längst heraus, daß Cäcilie, aus Scheu, sich zu blamieren, alles billigte, was sie nicht begriff.

Von dieser Schwäche machte Fiffi ausgiebigen Gebrauch.

Das eigentliche Regime im Hause aber führte Linke.

Nach außen freilich trat das nicht in die Erscheinung. Denn Linkes wahrten die Distanz, die sie Röhrens gegenüber als etwas Natürliches empfunden hatten, auch ihrer neuen Herrschaft gegenüber. Nur, daß ihrer Ehrerbietung die Ehrfurcht fehlte und sie nicht frei von Ironie war.

Das trat am deutlichsten zutage, als Berndts ihr erstes Diner im neuen Stil gaben, und Franz nicht nur bei der Zusammenstellung des Menus, der Auswahl der Weine und Zigarren half, sondern auch bei der Tischordnung und allen anderen Fragen des gesellschaftlichen Taktes das entscheidende Wort sprach.

Günther lag damals noch in den Windeln und wurde zwischen der süßen Speise und dem Käse gereicht. Das heißt, nur ein paar Stühle weit. Denn seine Kunst, sich derartigen Ovationen durch Äußerungen, die beredter waren, zu entziehen, übte er schon damals mit Erfolg.

Immerhin muß anerkannt werden, daß Berndts gelehrige Schüler waren und sich schon in wenigen Jahren ohne grobe Verstöße sicher auf dem Parkett der neuen Gesellschaft bewegten. Zwar war das nicht übermäßig glatt, und man konnte auch ruhig einmal ausrutschen, ohne darum gleich Gefahr zu laufen, daß man ausgeschlossen wurde. Jedenfalls wurden die Fälle, in denen sie Linkes Rat bedurften, immer seltener. —

Eines Tages trat Cäciliens Bruder, der längst Assessor geworden, dabei aber doch ein netter Kerl geblieben war, vor Fiffi hin und bekannte, daß er mit einer Nichte seines Schwagers Leo verheiratet werden solle. Und er bekannte: da er finanziell von Leo abhängig, an ein gutes Leben gewöhnt und zudem nicht schuldenfrei sei, so bliebe ihm keine Wahl.

Fiffi war weltklug und sah das ein. Auch auf die übliche Szene verzichtete sie. Die Langenscheidtsche Sprachlehre in vierundzwanzig Lieferungen, die trotz des jahrelangen Verkehrs der beiden jungen Leute kein Buchhändler für antiquarisch angesprochen hätte, wanderte in den Schrank zurück. Der Unterricht, und was mit ihm zusammenhing, hörte auf.

Eine Woche später verlobte sich Fiffi mit dem Oberlehrer am Königlichen Wilhelmsgymnasium – Professor Sasse. Da der damals gerade Günthers Ordinarius war, so nutzte Cäcilie die Konjunktur und feierte die Verlobung in ihrem Hause. Die Rückwirkung zeigte sich zu Weihnachten. Günther erhielt eine Prämie, die nach der Zensur nicht eben   überzeugend war.

Um diese Zeit etwa fing auch Günther an, nachzudenken und sich über seine Handlungen und die seiner Mitmenschen Rechenschaft zu geben.

Die neue Gesellschaft

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