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Erster Teil
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Er sah gar nicht Dorothée, die jetzt apathisch in ihrem Sessel saß, eilte an ihr vorbei und rief Frau Turel zu:

»Ist es wahr? man hat Marot ermordet?«

Der Direktor trat ihm in den Weg und sagte:

»Schreien Sie doch nicht so! – Nehmen Sie doch Rücksicht auf meine Gäste.«

»Auf Frau Marot vor allem«, ergänzte Frau Turel und wies auf den Sessel, in dem Dorothée saß.

Harvey schob den Direktor zur Seite, ging auf Dorothée zu, ergriff ihre beiden Hände, beugte sich zu ihr herab und sagte:

»Arme Frau Dorothée! – Verfügen Sie in allem ganz über mich!«

Dorothée hob den Kopf und sah ihn groß an.

»»Wie ist das geschehen?« fragte Mister Harvey Frau Turel, die jetzt neben ihm stand. »Hat man den Täter?«

Frau Turel wies auf die Balkontür und sagte:

»Er ist entkommen.«

»Und wie kam er herein?«

»Das ist noch ungeklärt.«

»Vermutlich doch auch . . .« sagte Harvey und machte ein paar Schritte auf die Balkontür zu. Frau Turel versperrte ihm den Weg und sagte:

»Bitte, warten Sie, bis die Polizei da ist.«

Im selben Augenblick erschien ein Polizeikommissar mit zwei Beamten in der Tür.

Frau Turel ging ihm entgegen und erklärte:

»Ein Mord – offenbar im Schlaf erschossen – hier ist die Waffe.« – Sie reichte ihm den Revolver.

Der Kommissar ging in die Koje und beugte sich über Marots Bett, das im Gegensatz zu dem Bett Dorothées noch immer von einem Teil der Portiere bedeckt war. – Frau Turel folgte ihm.

Der Kommissar fragte:

»Wann ist es geschehen?«

»Vor einer Viertelstunde.«

»So?« fragte er und schien erstaunt. »Ist das sicher?«

»Vor einer halben Stunde habe ich noch mit ihm gesprochen.«

»Und ich vor zwanzig Minuten«, erklärte Harvey.

Der Kommissar wandte sich zu dem Amerikaner um, sah ihn scharf an, beugte sich dann wieder über den Toten und sagte:

»Das Blut ist allerdings frisch.«

Es besteht gar kein Zweifel«, erwiderte Frau Turel – und der Kommissar fragte:

»Wer ist der Tote?«

»Andrée Marot.«

Der Kommissar trat aus der Koje heraus, sah Dorothée, ging ein paar Schritte auf sie zu und fragte:

»Sie sind die Gattin, gnädige Frau?«

Dorothée bewegte leicht den Kopf.

»Haben Sie auf irgend jemanden Verdacht?«

»Mein Mann hatte keine Feinde.«

Jetzt trat Harvey wieder an den Kommissar heran und sagte:

»Das weiß man oft selbst nicht.«

»Wer sind Sie?«

»Lincoln Harvey aus Chikago.«

Der Kommissar änderte sofort seine Haltung.

»Der bekannte Zeitungsverleger?« fragte er und fühlte, als Harvey mit einem gleichgültigen »Ja!« antwortete, beinahe das Bedürfnis, die Hände an die Hosennaht zu legen und stramm zu stehen. Er besann sich und beschränkte sich schließlich darauf, sich vorzustellen:

»Dubois. Assessor bei der Kriminalpolizei«, und in höflichem Tone fügte er hinzu: »Sie kannten den Toten?«

»Er war mein Freund und Korrespondent für meine Blätter in Marseille.«

»Sie befanden sich demnach auf einer gemeinsamen Reise?«

»Eine kleine Autofahrt, um auf ein paar Tage aus dem staubigen Marseille herauszukommen.«

»Haben Sie irgendeinen Anhaltspunkt, Mister Harvey?«

»Nein! aber ich halte einen politischen Mord nicht für ausgeschlossen.«

Dubois wandte sich an Frau Dorothée:

»Hat Ihr Gatte in letzter Zeit Drohbriefe erhalten?«

»Ich . . . glaube . . . nicht«, erwiderte Dorothée, die sich mit jedem Wort quälte.

»Sie würden es doch wohl wissen, wenn es der Fall wäre?«

»Seiner Frau hätte Marot sicherlich nichts davon gesagt, um sie nicht zu beunruhigen.«

»Mein Mann hatte vor mir keine Geheimnisse.«

Inzwischen hatten die beiden Beamten Fuß- und Fingerabdrücke am Bett und Fenster genommen, die sie jetzt Dubois zeigten. Sie erregten aber auch das Interesse des Amerikaners, des Kellners und Frau Turels – ja, selbst Dorothée, die bis jetzt teilnahmslos in ihrem Fauteuil gesessen hatte, schien interessiert, und der Hoteldirektor äußerte ängstlich:

»Am Bett bin ich auch gestanden Frau Turel kann es bezeugen – wenn darunter etwa auch meine Spuren sind, so besagt das nichts.«

»Die Fingerabdrücke an dem Fenstersims sind ganz deutlich,« erklärte Dubois. »Über den Weg, den der Mörder genommen hat, kann also kein Zweifel sein.« – Dann wandte er sich an Dorothée und fragte: »Sie haben geschlafen, gnädige Frau?«

»Ja – oder ich war im Einschlafen.«

»Haben Sie den Mann einsteigen sehen?«

»Nein!«

»Sie sind demnach erst durch den Schuß wach geworden?«

»Ja«

»Und bis Sie richtig wach wurden, war der Kerl natürlich schon über alle Berge?«

»Ja . . . das heißt, ich sah . . .«

Frau Turel fiel ihr ins Wort:

»Mir hat Frau Marot erklärt, daß sie einen Mann, der groß und bartlos war, durch die Portiere zum Fenster eilen sah. Sie glaubt, daß sie ihn wiedererkennen würde, und halt es auch für möglich, daß sie ihm schon früher einmal begegnet ist.«

»In letzter Zeit?« fragte Dubois.

»Auch die Möglichkeit gab Frau Marot zu.«

»Ein Selbstmord scheidet demnach aus.«

»Dafür lag die Waffe auch viel zu weit vom Bett entfernt«, erklärte Frau Turel und bezeichnete die Stelle.

»Vielleicht. . . daß sie . . . doch . . . näher dem Bett zu lag«, bemerkte der Hoteldirektor zaghaft.

»Wieso nehmen Sie das an?«

»Weil dann doch Selbstmord in Frage käme.«

»Liegt Ihnen daran?« fragte Dubois erstaunt und unvermittelt – und der Direktor erwiderte:

»Außerordentlich viel. Wenn Sie es also irgend richten können, Herr Assessor. – Für den Toten spielt es ja keine Rolle mehr, ob er ermordet worden ist oder sich selbst erschossen hat. Na, und der Mörder, den wird sein Gewissen schon genügend peinigen – der hat seine Strafe weg, auch wenn Sie ihn laufen lassen.«

»Hören Sie mal, das klingt ja sonderbar.«

»Für das Renommee des Hotels aber ist es von größter Wichtigkeit, daß Herr Marot sich selbst erschossen hat. Daran stößt sich kein Gast. Denn das kann kein Hoteldirektor der Welt verhindern. Aber wenn Sie sich für Mord entscheiden, Herr Assessor, dann wird das Publikum panikartig das Hotel verlassen und der Aufsichtsrat setzt mich an die Luft.«

»Mein Mann hatte nicht den geringsten Grund, sich das Leben zu nehmen«, beteuerte Dorothée.

Aber der Direktor kämpfte für seine Position und meinte:

»Das braucht eine Frau nicht immer zu wissen.«

»Darin gebe ich dem Direktor recht«, sagte der Amerikaner und wandte sich an Dorothée, die ihn entgeistert ansah, und erwiderte:

»Ich verstehe Sie gar nicht, Mister Harvey.«

Dubois, dem es auffiel, mit welchem Eifer hier jeder, scheinbar doch Unbeteiligte, für sich sprach, wandte sich an Dorothée und fragte:

»Befand sich Ihr Gatte in finanziellen Schwierigkeiten?«

»Davon weiß ich nichts.«

»Die Hotelrechnung hatte er jedenfalls noch nicht bezahlt.«

»Zahlt man bei Ihnen die Rechnung bei der Ankunft?« fragte Dubois und fuhr, an den Amerikaner gewandt, fort: »Sind Sie über die finanzielle Lage Marots orientiert?«

Harvey zögerte – offensichtlich mit Rücksicht auf Dorothée. – Und als Dubois seine Frage wiederholte, sagte er:

»Ist es notwendig, daß Frau Marot diesem Verhör beiwohnt?« Und da Dorothée darauf bestand, zu bleiben, so fuhr er fort: »Marots pekuniäre Lage war verzweifelt.«

»Nein!« rief Dorothée entsetzt.

»Leider ist es so«, erklärte Harvey.

»Warum hat er mir das verheimlicht?«

»Weil er Sie geliebt hat und wußte, daß Sie ohne Luxus nicht leben können.«

Dorothée war fassungslos. Sie wies auf den kleinen Tisch in der Nähe der Tür und sagte:

»Gestern noch, bevor wir aus Marseille abfuhren, hat er mir diesen kostbaren Smaragd geschenkt. – Wie konnten Sie das dulden, Mister Harvey, wenn Sie wußten, daß er ihn nicht bezahlen kann?«

»Ich hatte nicht das Recht, Ihnen die Freude zu verderben.«

»Wo, sagten Sie, liegt der Smaragd?« fragte Frau Turel, die inzwischen an den Tisch herangetreten war. »Hier liegt nicht ein Stück.«

Dorothée eilte auf den Tisch zu, vergaß für einen Augenblick, daß Andrée ermordet in der Nische lag, und rief entsetzt:

»Meine Perlen! meine Ringe! alles ist weg!«

Dubois befahl den Beamten, die Flurtür zu schließen. Als das geschehen war, erklärte Harvey:

»Vor einer knappen Stunde, als der Kellner die Whiskygläser holte, lag der Schmuck noch da. Ich weiß es genau. Denn ich wunderte mich, wie achtlos Frau Marot die kostbaren Steine herumliegen ließ.«

»Wenn man ohne Zofe reist«, entschuldigte sich Dorothée.

»War außer dem Kellner noch jemand im Zimmer?«

»Der Hausdiener, um meinen versehentlich hier untergestellten Koffer zu mir hinaufzubringen.«

»Mein Personal stiehlt nicht!« beteuerte der Direktor.

»Wer war sonst noch im Zimmer?«

»Niemand!« rief der Direktor. »Ich kann es beschwören. Denn ich war der Erste im Zimmer. Von meinen Gästen hat niemand die Schwelle übertreten. Sie sind sämtlich an der Tür stehen geblieben.«

Dubois wandte sich wieder an Dorothée:

»Hatten Sie sonst noch Wertgegenstände, die Sie vermissen?«

Dorothée dachte an die hohe Versicherung – und es lag ihr schon auf der Zunge »ja« zu sagen. Aber in Gedanken an den toten Andrée bezwang sie sich und sagte:

»Es war alles«, fügte aber, als wollte sie sich damit doch eine letzte Chance sichern, hinzu: »was ich mitgenommen hatte.«

»Und Ihr Gatte?« fragte Dubois.

»Mein Mann trug eine goldene Uhr und eine Perlennadel.«

»Besaß er keine Brieftasche?«

»Eine schwarze Saffiantasche, in der er sein Geld bewahrte.«

»Wohin pflegte er die des Abends zu legen?«

»Auf den Nachttisch.«

»Hier liegt nichts«, erklärte Frau Turel, die in der Koje stand.

»Demnach muß es sich also um einen Raubmord handeln«, entschied Dubois und befahl den beiden Beamten, die Taschen des Hausdieners und des Kellners zu untersuchen.

Bei dem Hausdiener fand man außer ein paar Kasinoships, über die er sehr erstaunt tat, nichts. Aus den Taschen des Kellners aber zog man die Perlkette, das Ohrgehänge und die Ringe.

»Schuft!« rief der Direktor. »Das kostet mich meine Stellung.«

Dubois war dicht an den Kellner herangetreten und fragte ihn:

»Was haben Sie dazu zu sagen?«

Der Kellner, an allen Gliedern zitternd, erwiderte:

»Ich . . . gebe . . . den . . . Diebstahl. . . zu.«

»Und den Mord?«

»Nein! nein! damit habe ich nichts zu tun.«

»Wann haben Sie den Schmuck denn gestohlen?«

»Als ich die Whiskygläser aus dem Zimmer holte.«

»Das haben Sie sich nach den Worten des Mister Harvey zurecht gelegt.«

»Bei Gott, es ist so!«

»Lassen Sie Gott aus dem Spiel! Wo haben Sie die Uhr und die Brieftasche gelassen?«

»Ich habe weder die Uhr noch die Brieftasche.«

»Aber Sie haben sie liegen sehen?«

»Nein!«

»Sagen Sie doch die Wahrheit!«

»Ich sage die Wahrheit.«

»Sie haben die Gläser herausgeräumt und, als Sie hinausgingen, den Schmuck gesehen?«

»Ja, – das ist wahr.«

»Sie haben den Schmuck aber nicht angerührt?«

Der Kellner stutzte.

»Stimmt's?« fragte Dubois.

»Ich . . . . ich . . . .«, stieß der Kellner zögernd hervor.

»Sie haben sich mit Recht gesagt, wo soviel Menschen im Zimmer sind, besteht die Gefahr, daß man Sie dabei ertappt.«

»Ich habe überhaupt nichts gedacht in dem Augenblick.«

»Ihre Vernunft hat Ihnen diese natürliche Überlegung ohne viel Nachdenken eingegeben. Sie sagten sich, wo so kostbarer Schmuck offen herumliegt, wird noch mehr zu holen sein. Sie haben den Schmuck also liegen lassen und abgewartet, bis die Herrschaften eingeschlafen waren. Dann sind Sie durch das Fenster eingestiegen – bewaffnet natürlich – denn so ein nächtlicher Besuch ist ja mit Gefahr verbunden – Sie haben den Schmuck an sich gebracht – das hat Geräusch verursacht – Herr Marot ist erwacht – Sie scheinen ein vorzüglicher Schütze zu sein – Sie haben ihn mitten ins Herz getroffen – haben schnell die Sachen vom Nachttisch genommen und sind damit davongelaufen. – Die Sache ist ja so einfach, nicht wahr? – Die Verlockung war zu groß, das wird man Ihnen bei der Strafzumessung zugute halten – auch Ihr freimütiges Geständnis wird die Richter milde stimmen – obschon ein Leugnen in einem so klaren Falle zwecklos wäre und Ihre Lage nur verschlechtern würde.«

Der Kellner hatte vor Staunen zunächst kein Wort herausgebracht. Er hatte anfangs mehrmals den Kopf geschüttelt, dann leidenschaftlich durch Gesten widersprochen – schließlich aber hatte er die Geduld verloren. Er war immer dichter an Dubois herangetreten, den er jetzt beinahe berührte, und schrie ihm unbeherrscht ins Gesicht:

»Nein! nein! Herr Kommissar! Den Diebstahl gebe ich zu. Aber den Mord lasse ich mir nicht aufschwatzen! – Ich habe das Office von dem Augenblick an, wo ich die Gläser hinausgetragen habe, nicht mehr verlassen.«

»Beweisen Sie das!« »Das kann ich nicht.« »Aha!«

»Da ich allein war.«

Frau Turel nahm sich des Kellners an und fragte:

»Ist während der halben Stunde denn niemand von Ihren Kollegen im Office gewesen oder vorbeigegangen, der Sie gesehen hat?«

»Ich glaube nicht.«

»Eins der Mädchen vielleicht?«

»Ich habe keins gesehen.«

»Sehr merkwürdig,« meinte Dubois und Frau Turel fragte weiter:

»Aber Gäste werden doch um diese Zeit nach Haus gekommen sein?«

»Eine ganze Menge – aber wer schaut denn von denen ins Office? – Und dann: ein Frack sieht aus wie der andere – wer sieht uns schon an?«

»Der Schein spricht gegen Sie,« sagte Frau Turel. »Also weisen Sie nicht jede Möglichkeit, sich zu entlasten, zurück.«

»Ich gebe zu, ich habe gestohlen. In dreißig Jahren das erste Mal, daß ich mich an was vergreife, was mir nicht gehört. Aber das Zeug lag so da, daß es einem in den Fingern juckte. Da nahm ich's eben. Vielleicht wäre mir über Nacht die Besinnung gekommen und ich hätte es morgen früh zurückgelegt – vielleicht auch nicht – denn allein die Kette hätte mich um zwanzig Jahre vorwärts gebracht.«

»Eine feine Einstellung ist das,« meinte Dubois. »So einem Menschen ist alles zuzutrauen.«

»Ich möchte noch eine Frage an Frau Marot richten,« bat Frau Turel – und Dubois erwiderte:

»Bitte!«

»Frau Marot, Sie haben unter dem ersten Eindruck der Tat erklärt, daß Sie den Mann, der vom Bett Ihres Gatten aus zur Portiere und von da zum Fenster stürzte, einen Augenblick lang gesehen haben.«

»Ja!«

»Sie hatten das Bild deutlich vor Augen. – Groß, sagten Sie, und glattrasiert.«

»Ja, das war er.«

»Der Kellner ist aber auffallend klein und trägt außerdem einen kleinen Bart. Es ist unmöglich, daß er sich den in dieser halben Stunde hat wachsen lassen.«

»Bleiben Sie bei dieser Bekundung?« fragte Dubois – und Dorothée erwiderte:

»Ja.«

»Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten,« erklärte Frau Turel.

»Nämlich?« fragte Dubois.

»Entweder Frau Marot weiß von nichts und sagt die Wahrheit – oder . . .«

»Natürlich tut sie das,« rief Mister Harvey.

»In dem Falle hat der Kellner mit dem Morde nichts zu tun.«

»Oder – ?« fragte Dubois.

»Frau Marot lügt!«

Mister Harvey sprang empört auf und rief:

»Das ist doch . . . .«

»In diesem Falle . . . .« fuhr Frau Turel fort, bestimmt und ohne den Tonfall zu ändern.

»Was ist in diesem Falle?« fragte Harvey erregt.

». . . . besteht die Möglichkeit fort, daß der Kellner der Mörder ist – oder irgendein Dritter, der dann im Einverständnis mit Frau Marot gehandelt hat.«

Dorothée richtete sich entgeistert auf und fragte:

»Wa – as? . . . ich?«

Harvey wandte sich an Frau Turel und sagte:

»Wenn Sie Frau Marot auch nur oberflächlich kennen würden, wüßten Sie, wie grotesk das ist, was Sie da sagen.«

»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit,« erklärte Dubois.

»Nämlich?« fragten Harvey und Frau Turel zu gleicher Zeit.

»Daß Frau Marot ihren Mann selbst erschossen hat.«

Dorothée sah Dubois groß an – sekundenlang – dann sank sie Harvey in die Arme. Der stützte sie, schüttelte den Kopf und sagte:

»Herr Assessor, Sie gehen wirklich über die Grenze des Möglichen hinaus.«

»Ich tue lediglich meine Pflicht,« erwiderte der, und Frau Turel erklärte:

»Da ich annahm, daß Herr Marot von seinen politischen Gegnern bedroht wird, so habe ich das Zimmer vom ersten Augenblick an unter besonderer Kontrolle gehalten.«

»Und was haben Sie festgestellt?«

»Daß kein Unbefugter vom Augenblick der Ankunft des Ehepaares Marot an das Zimmer betreten oder zuvor sich darin versteckt hat.«

»Was wollen Sie damit beweisen?« fragte Harvey.

»Daß außer Herrn und Frau Marot niemand im Zimmer war. – Ich habe ferner festgestellt, daß um ein Uhr vier Minuten im Zimmer des Ehepaares das Licht gelöscht wurde – und daß um ein Uhr acht Minuten der Schuß fiel.«

»Was schließen Sie daraus?«

»Kein berufsmäßiger Verbrecher – ja, kein denkender Mensch handelt so unüberlegt und steigt, unmittelbar nachdem das Licht gelöscht ist, ein, da er damit rechnen muß, daß sein Opfer noch wach liegt.«

»Einen zeitlichen Irrtum halten Sie für ausgeschlossen?« fragte Dubois. »Vollkommen!«

»Einen Geheimzugang zu dem Zimmer gibt es nicht?«

»Es hat nur diese eine Tür, die zum Flur führt.«

Dubois wandte sich wieder an Dorothée und fragte:

»Sind Sie nach Ihrem Gatten zu Bett gegangen?«

»Er schlief schon.«

»Sie haben das Licht also gelöscht.«

»Ja.«

»Um ein Uhr vier?«

»Möglich. Ich weiß das nicht – oder doch – es schlug halb eins, – kurz bevor ich an der Balkontür stand.«

»Wieso standen Sie an der Balkontür um halb ein Uhr nachts?«

»Ich hatte sie gerade geöffnet.«

»Sind Sie gewöhnt, bei offenem Fenster zu schlafen?«

»Nein!«

»Wieso öffneten Sie es gerade an diesem Abend?«

»Mein Mann hatte mich darum gebeten.«

»Ich denke, der schlief bereits?«

»Als er mich bat, war er natürlich noch wach.«

»Und weshalb, glauben Sie, daß er gegen seine Gewohnheit gerade in dieser Nacht bei offenem Fenster schlafen wollte?"

»Mein Mann hatte mein Parfüm vergossen.«

»Es riecht jetzt noch danach,« sagte Harvey.

»Nicht mehr, als es bei einer Dame aus Paris zu riechen pflegt,« erwiderte Dubois, worauf der Amerikaner meinte:

»Frau Marot lebt in Marseille.«

»Wie kamen Sie denn dazu, das Parfüm umzustoßen?«

»Frau Marot sagte doch, daß ihr Mann es . . .«

»Ich muß Sie bitten, Mister Harvey, Frau Marot selbst antworten zu lassen. Also wer hat es umgestoßen?«

»Mein Mann!«

»Das Flakon stand aber auf Ihrem Nachttisch – es steht jetzt noch da.«

»Ich sagte ja, es war mein Parfüm.«

»Gut! Aber der Zwischenraum zwischen den beiden Betten beträgt fast einen Meter. Es ist daher beinahe unmöglich, daß Ihr Gatte von seinem Bett aus bis zu dem Flakon reichen konnte.«

»Er lag eben noch nicht im Bett, als er es umwarf.«

»Aber er schlief schon.«

»Frau Marot hat niemals behauptet, daß ihr Mann schon schlief, als das Flakon umfiel und sie das Fenster öffnete,« erklärte Harvey mit großer Bestimmtheit. Noch bestimmter aber klang die Antwort Dubois', der ihm befahl zu schweigen. Aber Harvey kehrte sich nicht daran, sondern fuhr unbekümmert fort: »Sie hat nur gesagt, daß er schlief, als sie zu Bett ging.«

»Also!« erwiderte Dubois. »Wenn sie um ein Uhr vier das Licht löschte, um ein Uhr acht der Schuß fiel, muß der Mörder spätestens ein Uhr sechs ins Zimmer gestiegen sein. Frau Marot hat also schon zwei Minuten, nachdem sie das Licht gelöscht hatte, so fest geschlafen, daß sie weder das Einsteigen durch das Fenster, noch das öffnen der Portiere bemerkt hat.«

»Ich schlief noch nicht fest – aber ich hatte die Augen geschlossen und lag im Halbschlaf.«

»Und wie hat der Mörder sich orientiert, in welchem der beiden Betten Ihr Gatte lag?«

»Das weiß ich nicht.«

»Um das und manches andre aufzuklären, muß ich außer dem Kellner auch Sie in Haft nehmen, Frau Marot.«

»Großer Gott!« rief Dorothée entsetzt und klammerte sich an Harvey. Der trat an Dubois heran und sagte:

»Herr Assessor, Sie wissen, wer ich bin. Ich hafte für diese Frau.«

Dubois überlegte einen Augenblick und erwiderte:

»Dann bin ich bereit, Frau Marot vorläufig auf freiem Fuß zu lassen – vorausgesetzt, Sie stellen eine Kaution und verbürgen sich mit Ihrem Ehrenwort, daß Frau Marot weder flieht, noch sich etwas antut.«

»Tun Sie es nicht, Mister Harvey!« rief Dorothée.

Aber der Amerikaner ging auf Dubois zu, streckte ihm die Hand hin und sagte:

Justizmord

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