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Erstes Buch
Erster Teil
Drittes Kapitel
ОглавлениеCarl reiste am nächsten Tage nicht.
Eine ganze Woche lang blieb er in Berlin. Und als er am Abend des neunten Tages vor seinem Coupé stand und der Schaffner an ihn herantrat und sagte: »So steigen Sie doch ein! Wir fahren ab,« da schloß er Agnes, trotz den vielen Menschen, die ihm das Geleite gaben, in die Arme, küßte sie und drückte sie an sich.
»In zehn Tagen!« sagte er, und die Tränen, die ihm in den Augen standen, und der Ausdruck seines Mundes, um den sich scharf jedes seiner Gefühle prägte, zeigten, wie ihm ums Herz war.
Das Zeichen ging in die Höhe; der Zug setzte sich in Bewegung.
Carl nickte den anderen flüchtig zu und sprang behende wie ein Jüngling in den Zug, riß das Fenster herunter, beugte den Oberkörper heraus und winkte mit beiden Armen Agnes zu, als wenn er sie noch in letzter Minute zu sich emporziehen wollte.
Und Agnes lächelte und nickte, trippelte noch ein paar Schritte neben dem Zug her und rief ihm, als die Maschine schon aus der Bahnhofshalle fuhr, mit ihrer weichen Stimme zu:
»Denk an dein Vögelchen!«
Und wer ihn so sah, wußte, daß er an nichts anderes denken würde. —
»Wie ausgewechselt seit ein paar Tagen,« sagte der Direktor.
Ja! die Weiber!« rief der Geheimrat, lachte und hielt sich den Bauch.
Der alte Brand stand in Gedanken, schüttelte den Kopf und sagte:
»Mir gefällt das nicht!«
»Philister!« sagte der Direktor und klopfte ihn auf die Schulter. »So gönnen Sie ihm doch diese harmlose Eskapade.«
»Wenn es das wäre,« erwiderte Brand, »vom Herzen gern! Aber ihr kennt ihn nicht! Wie seine Dichtung, so ist der ganze Mensch. Tiefgründig – schwerblütig – gradlinig!«
»Was heißt das, gradlinig?« fragte der Geheimrat.
»Daß er seiner ganzen Natur nach unkompliziert ist, daß es die tausend Nebenstraßen, die unser Leben erst bunt und abwechslungsreich machen, für ihn nicht gibt. Nicht geben kann, da er in seinem Handeln ebenso primitiv ist wie in seinem Gefühl. Und darin liegt auch seine beste Kraft: in dieser Einheit. Ein Guß das Ganze. Da ist, wenn’s sich um das Gefühl handelt, kein Bruch, kein Sich-teilen, kein Kompromiß möglich!«
Der Geheimrat verzog das Gesicht.
»Das ist mir zu hoch,« sagte er. »Aber den Menschen möcht’ ich sehen, der heute, ohne Kompromisse zu machen, weiter kommt.«
»Das Genie schon,« sagte Brand, »das Talent freilich nicht.«
»Nu, da is mir schon lieber, ich bin kein Genie.«
»Und dann fürchte ich . . .« fuhr Brand fort, brach aber ab, da Agnes nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt war.
Und während den alten Brand die innere Wandlung Carls mit Sorge erfüllte, dachte Werner über die Veränderung nach, die sich in der kurzen Zwischenzeit mit Agnes vollzogen hatte:
Am Morgen nach jener an Ereignissen reichen Nacht war der Zusammenschluß zwischen Carl und Agnes bereits vollzogen. Beide erklärten bestimmt und feierlich, nicht mehr voneinander lassen zu können. Carl aus der Tiefe seines Herzens heraus und aus innerster Ueberzeugung, Agnes, nachdem sie die Daseins- und Entwickelungsmöglichkeiten, die ihr ein Anschluß an Carl versprach, gegenüber dem Leben an der Seite Ottos und im Ferkel gewissenhaft gegeneinander abgewogen hatte. Und das hatte ein so gewaltiges Plus zugunsten Carls ergeben, daß sie schon am nächsten Morgen nicht nur in die Trennung von Otto und in die Aufgabe ihrer künstlerischen Tätigkeit im Ferkel einwilligte, sondern für Carl sogar so etwas wie eine, freilich mehr kindliche und schülerinnenhafte Zuneigung verspürte.
Die Auseinandersetzung mit Otto und dem Besitzer des Ferkels, die rein geschäftlicher Natur war, hatte sich nicht ganz glatt vollzogen. Otto hatte seine »Braut« ganz ungeniert als ein Wertobjekt von vielseitigen Möglichkeiten bezeichnet und sich auf das Sachverständigenurteil des Ferkelwirtes berufen. Der prophezeite Agnes eine große Zukunft und meinte:
»Wenn ick der zwischen die Finger behalte, macht se ’ne Karriere wie die Perle vom Ganges.«
Und als Werner, der für Carl handelte, fragte, was das denn in Zahlen ausgedrückt bedeute, da sagte der Wirt:
»De Woche zweiunddreißig Mark.«
Als man sich schließlich geeinigt hatte, sagte Otto:
»Einmal will ick ihr aber noch sehen.«
Kein Angebot vermochte ihn von dieser Forderung abzubringen. Und Werner setzte es erst nach vielem Reden durch, daß er dieser Begegnung beiwohnen durfte. Ein Tag der übernächsten Woche wurde vereinbart. —
Agnes kam zu Werners Freundin, die auf den Namen Lori hörte und ein guter Mensch war. Sie wurde vom Kopf bis zu den Füßen neu eingekleidet, begeisterte sich an jedem Stück, das man ihr zeigte, fiel abwechselnd Lori, dem Verkäufer und Carl, der leuchtenden Auges alles miterlebte – denn für ihn war alles das ein Erlebnis – um den Hals und tanzte zur Verwunderung der anderen Kunden mit ihnen durch die Verkaufsräume.
Und Carl, Lori und der Verkäufer staunten über die Sicherheit, mit der sie unter Hunderten von Dingen auf den ersten Blick stets das herausfand, was sie am besten kleidete, über die Grazie, mit der sie in die feine batistene Wäsche und die seidenen Röckchen schlüpfte, über den Charme, mit dem sie ihr erstes Korsett anpaßte und sich die dünnen Seidenstrümpfe überzog; vor allem aber über die Natürlichkeit, mit der sie sich in allen diesen ihr ungewohnten Dingen bewegte, als wenn sie nie etwas anderes getragen hätte. Und als sie dann als neuer Mensch vor den Spiegel trat, da war sie von dem Zauber, der von ihr ausging, selbst betroffen, fiel Carl um den Hals und rief:
»Sieh nur, was ihr aus mir gemacht habt!«
Und als Carl sie jetzt fragte:
»Möchtest du noch immer dahin zurück?« da schüttelte sie sich, sagte: »Bex!« und spuckte aus.
Lori und der Verkäufer wichen unwillkürlich ein paar Schritte zurück, sahen sich an und lachten. —
Gleich am ersten Abend saß Agnes an Carls Seite unten in der Direktionsloge des Neuen Theaters. Es war die erste Wiederholung seiner griechischen Tragödie. Das Haus war ausverkauft. Der Beifall womöglich noch größer als am ersten Abend. Man erkannte Carl in der Loge und huldigte ihm stürmisch nach jedem Akt; mehrmals sogar auf offener Szene.
Agnes erschien das anfangs alles wie ein Traum. Aber schnell fand sie sich in das neue Bild, fragte Carl neugierig nach tausend Dingen. Und Carl freute sich über ihre Ahnungslosigkeit, war oft erstaunt, wie scharf sie beobachtete, und es bereitete ihm Genuß, sie diese neue Welt durch seine Augen schauen zu lassen.
Als man Carl huldigte und aller Augen auf ihre Loge gerichtet waren, zeigte sie mehr Geistesgegenwart als er. Er fühlte sich geniert und war verlegen, nahm ihre Hand und drückte sie. Aber Agnes flüsterte ihm zu: »Steh auf!« Sofort erhob er sich. »Verbeug dich!« Und er drückte ihre Hand noch fester und verbeugte sich mehrmals kurz hintereinander. »Genug!« sagte sie und zog ihn auf den Stuhl zurück. Das Publikum wandte sich wieder zur Bühne.
»Wie gut, daß ich dich bei mir habe,« sagte er in einem Gefühl der Sicherheit.
Weit mehr als für das Stück interessierte sich Agnes für Estella von Pforten. War die nicht auf der Bühne, dann war sie unaufmerksam, langweilte sich wohl gar und sah in die Logen und ins Parkett. Und wenn sie dann regelmäßig feststellte, daß vieler Augen auf sie gerichtet waren, freute sie sich und lächelte auch hin und wieder. Im Augenblick aber, wo Estella von Pforten auftrat, verschwand für sie alles andere.
»Wie macht man das?« fragte sie einmal ganz erregt, als der Vorhang fiel. Und Carl freute sich über ihre Regsamkeit und wollte ihr klar machen, wie die Idee zu der Tragödie in ihm entstanden sei.
»Aber nein!« unterbrach sie ihn. »Ich will wissen, wie diese Person das anstellt, so eine ganz andere zu sein.«
»Dazu gehört viel Talent und großer Fleiß,« sagte er.
»Meinst du, daß ich das könnte?« fragte sie erregt und wartete ängstlich auf seine Antwort.
»Ja! Das glaube ich!« sagte er aus voller Ueberzeugung.
Da vergaß sie sich und fiel ihm vor allen Menschen um den Hals, küßte ihn und sagte freudig:
»Du! – Ich will! – Ich will!«
Carl zog sie tief in die Loge zurück und versprach ihr, sie außer im Tanz auch für die Bühne ausbilden zu lassen. Und von diesem Augenblick an kannte Agnes nur eine Sehnsucht: zu werden, was Estella von Pforten war.
Und sie ließ Carl keine Ruhe, bis er mit Werner zu Estella von Pforten ging und sie bat, Agnes mit den Anfangsgründen der Schauspielkunst bekannt zu machen. Die lehnte erst ab; und erst der Vermittelung des reichen Peter, der mit Werner befreundet und Estellas Freund war, gelang es, sie gegen ein märchenhaftes Honorar zur Erteilung des Unterrichts zu bestimmen.
Und da Carl in diesen Tagen in aller Munde war, wie seit langem kein Dichter mehr – da man sich in der Presse nicht nur mit seinen Werken, sondern auch viel mit seinem Leben beschäftigte, und ganze Spalten über den einsamen Dichter schrieb, der »fern dem Getriebe der Welt in glücklichster Ehe mit seiner gleichaltrigen Gattin wie ein Einsiedler in seinen Bergen lebe«, so gewann sein Verhältnis zu der Tänzerin Agnes, das man bei jedem anderen Dichter als etwas Alltägliches kaum beachtet hätte, eine gewisse Bedeutung. Ja, die Szene in der Theaterloge, die schon am nächsten Tage in aller Munde war, machte Agnes schnell bekannt und verhalf ihr zu einer gewissen Berühmtheit.
Auf Estella von Pfortens Wunsch saß sie nun allabendlich in ihrer Loge. Auf die richtete jeder Besucher, sobald er das Theater betrat, sein Glas. Zu ihrer Berühmtheit gesellte sich die Sensation. Und wenn man auch nicht gerade ihretwegen ins Theater ging, so interessierte sie doch mehr als Estella von Pforten. Und so oft sich auf den Beifall hin nach den Aktschlüssen der Vorhang schloß und es hell wurde, sahen alle, als wenn sie den ganzen Akt über nur darauf gewartet hätten, in die Loge. Estella, die sich auf der Bühne verbeugte, beachtete kaum noch einer.
Kein Wunder, daß es unter diesen Umständen Ehrensache für Frau Geheimrat Weber war, diesen literarischen Leckerbissen, wie es der Gatte nannte, ihrem Freitag-Nachmittag-Tee vorzusetzen. Und die Gerüchte über Agnes’ Herkunft, über die man geheimnisvoll allerlei munkelte, ohne bei der Diskretion der beiden Brands je etwas Bestimmtes zu erfahren, erhöhten nur den Reiz. Für Frau Geheimrat Weber, der daran lag, für eine moderne, vorurteilslose Frau in gelten, waren sie Anlaß, ihren Beziehungen zu Agnes, wenigstens nach außen hin, einen freundschaftlichen Charakter zu geben.
So war die Schule, die Agnes genoß, in jeder Weise die denkbar beste. Lori und die Frau Geheimrat ergänzten sich ausgezeichnet. Für das ganz aufs Aeußere Gestellte, Oberflächliche, Formale, Berechnende, kurz für das rein Gesellschaftliche, konnte es keinen besseren Lehrmeister geben, als es Frau Geheimrat Weber war. Die Fähigkeit, mit echten und vorgetäuschten Gefühlen den Mann zu fesseln und zu beherrschen, sah sie bei Lori. Das Geheimnis, den so schwierigen Ausgleich zwischen beiden zu finden, lehrte Estella. Und das Wichtigste, was sich nicht erlernen ließ, weiblichen Instinkt, brachte sie mit.
*
Auch während der Fahrt war Carl mit seinen Gedanken ausschließlich bei Agnes. Erst kurz vor München dachte er zum ersten Male an die Heimkehr.
Was waren das sonst für schöne Stunden, wenn er von einer Reise kam und seine Berge wiedersah. Und am Bahnhof stand immer an der gleichen Stelle seine Frau und wartete auf ihn. Und ihre Festigkeit und ihr Gleichmaß wirkten so stark auf ihn, daß er meist schon auf der Heimfahrt Mißliches, was hinter ihm lag, vergaß, und am nächsten Morgen mit dem Gefühl, als wäre er nie fortgewesen, wieder an die Arbeit ging. Und so kam über ihn, den allein schon das Zusammensein mit fremden Menschen aus dem Gleichgewicht brachte, je näher er seinem Dorfe kam, eine immer größere Ruhe.
So war es sonst! Wie anders heute!
War ihm während der ersten Stunden der Fahrt leicht gewesen wie nie zuvor, so spürte er jetzt ein Unbehagen, gegen das er vergebens anzukämpfen suchte. Mit jedem Kilometerstein, an dem der Zug vorüberraste, fühlte er sich schwerer und bedrückter. Als er Tutzing vor sich liegen sah, schloß er die Augen und fühlte den Wunsch, sie erst wieder zu öffnen, wenn der Zug längst über das Dorf hinaus wäre.
Was waren das nur für Gefühle, die er da plötzlich für seine Frau empfand? War der Wunsch nicht stark und deutlich in ihm: wenn sie doch heute nicht da stände! – Er erschrak über sich selbst. Wie konnte ein Gefühl, das sich zwanzig Jahre lang stark und unverändert geäußert hatte, so plötzlich aussetzen?
Als Erster war er sonst stets aus dem Zuge, und während sich die anderen Reisenden noch durch die Sperre drängten, stand er schon auf der Landstraße, drückte seine Frau an sich, holte tief Atem und sagte:
»Gott sei Dank! Da bin ich wieder!« Dann begrüßte er mit kräftigem Händedruck Alois, den Knecht, klopfte den strammen Fuchs, der mit den Füßen scharrte, auf den Hals und gab ihm Zucker, den er aus dem Speisewagen mitbrachte. Dann erst bestieg er den Wagen.
So war es sonst. Heute aber war ihm die Kehle wie zugeschnürt.
Der Zug hielt. Er nahm seine Tasche und trat auf den Gang. Auf dem Bahnsteig stand seine Frau; froher noch als sonst, und winkte ihm zu.
Er war nicht der Erste heute, der durch die Sperre ging, und seine Augen hatten nicht den Glanz wie sonst, als er auf sie zuging, ihr die Hand reichte und sagte:
»Grüß Gott, Cläre!«
Also schlechte Kritiken! dachte Cläre und ging, ohne ein Wort zu sprechen, neben ihm aus dem Bahnhofsgebäude.
Als sie jetzt aber auf der Landstraße standen, und er sie nicht wie sonst unter den Arm nahm, den Knecht, der sich schon die Hand an seinem Rock abwischte, nur durch Nicken des Kopfes begrüßte und von dem scharrenden Fuchs überhaupt keine Notiz nahm, da nahm sie seine Hand und fragte teilnahmsvoll:
»Was ist dir?«
Er sah sie lange an: »Das ist so schwer zu sagen, Cläre.«
»Willst du nicht Alois begrüßen?« fragte sie.
»Ach so! – richtig!« und er reichte ihm die Hand.
»Grüß Gott, Alois! Na?«
»Dank schön, Herr Doktor! Alleweil gut! – Und der Hans schaut auch net übel aus.«
Dabei wies er mit der Peitsche auf den Fuchs, um zu zeigen, daß noch einer war, der begrüßt sein wollte.
Carl griff gewohnheitsgemäß in die Tasche, und Cläre lachte und sagte:
»Na also!«
Aber Carl schüttelte gleich darauf den Kopf und sagte:
»Das habe ich doch wahrhaftig vergessen.«
Alois hob die Peitsche, und der enttäuschte Hans zog an.
Nach einer Weile fragte Cläre:
»Bist du zufrieden?«
Carl wandte sich zu ihr und fragte:
»Womit?«
»Seltsame Frage! Mit deinem Erfolg; womit wohl sonst? Nach den Münchener Zeitungen und den Briefen, die man uns schreibt, muß man dich ja beispiellos gefeiert haben.«
»Ja, ja!« sagte Carl hastig. »Das stimmt – gefeiert hat man mich. Und meine anderen Dramen kommen nun auch. Bis gestern hatte Brand bereits zweiunddreißig Annahmen.«
»Und die Kritiken?«
»Sämtlich über Erwarten gut.«
»Und trotzdem . . .?« sie sah ihn an und schüttelte den Kopf.
Carl quälte sich.
»Natürlich! Wissen mußt du’s,« sagte er.
»Die ganzen zwanzig Jahre über hatten wir kein Geheimnis voreinander,« erwiderte Cläre, »und doch würde ich mich damit abfinden, wenn du mir nur sagst, daß es keine Sorge ist, und daß du glücklich bist.«
»Würdest du das wirklich?« fragte Carl.
»Ja!«
»Es könnte eine große Freude sein, wenn ich wüßte, daß es dich nicht kränkt.«
»Kann mich kränken, was dich erfreut?« fragte sie.
»Gewiß nicht! Ich habe selbst noch nicht darüber nachgedacht. Erst jetzt, wo es an mich herantritt, ich meine, wo ich mit dir darüber spreche, da scheint es mir, als wenn ich damit ein Unrecht an dir beginge.«
»Ich versteh dich nicht, Carl. Das ist doch deine Art nicht, um die Dinge herumzureden.«
»Du hast recht.« – Er nahm ihre Hand, sah sie an und sagte: »Also, Cläre, ich möchte, daß wir beide die besten Kameraden würden.«
»Sind wir das nicht?« fragte sie, begriff aber, als sie es kaum ausgesprochen hatte, auch schon, was er meinte. —
»Carl!« rief sie und hielt sich die Hand vors Gesicht. »Das ist es?«
Und Carl nickte mit dem Kopfe und sagte: »Ja!«
»Erzähle!« drängte sie, ließ seine Hand los und senkte den Kopf.
Und Carl entwarf ein Bild von Agnes, aus dem Cläre mehr eine Vorstellung von der Tiefe seiner Leidenschaft bekam als von der Frau, der diese Leidenschaft galt. – »Mir ist, als fühlte ich etwas, was ich bisher nicht kannte,« schloß er, »von dem ich nicht einmal wußte, daß es das gibt; und zwar mit einer Stärke, daß daneben das Gefühl für alles andere verschwindet. Selbst dieser Erfolg, der mich doch sonst aufs äußerste erschüttert hätte, erscheint mir im Vergleich dazu blaß, nebensächlich . . .«
»Lieber Carl,« sagte Cläre, »du bist nach zwanzig Jahren zum ersten Male wieder verliebt.«
Carl sah sie an.
»Und was wird daraus?« fragte er.
Cläre schüttelte den Kopf. »Wenn du anders wärst,« sagte sie, und ihre Stirn zog sich in Falten, »dann wüßt’ ich’s! Aber so, wie du bist, da weiß ich es nicht.«
»Sprich bitte!« drängte Carl und nahm ihre Hand.
»Was soll ich sagen?« Und nach einer Weile fuhr sie fort: »Was kann ich anderes wollen als dein Glück?«
Carl nickte:
»Ich weiß es,« sagte er. »Aber du . . .«
»Ich bin es, wenn du es bist.«
»Auch dann?«
»Auch dann!« sagte sie bestimmt.
»Wenn du das könntest!« rief er freudig. »Wenn zwischen uns beiden alles so bliebe!«
»Aber es wird mit dir nicht alles so bleiben.«
»Ich schwöre!« sagte er und wollte die Hand erheben. Sie hielt sie fest.
»Laß!« sagte sie, »du hast mich nicht verstanden. Als wir vor zwanzig Jahren zusammen gingen, da fühltest du genau das, was du heute fühlst. Ich war, als Frau, reifer als du, und vor allem: ich war nüchterner. Du warst ein Dichter und daher ein Kind, und bist es heute noch. Ich sagte mir damals schon: es ist sein erster Rausch, aber es wird nicht sein letzter sein; es werden andere kommen. Aber ob die Gesinnung bleibt und sich festigt, darauf kommt es an!« Sie zog die Schultern hoch: »Nun, es kam in den ganzen Jahren kein zweiter Rausch. Vielleicht, weil die Gelegenheit fehlte und du immer hier in den Bergen saßt. Ich sollte mich darüber freuen, aber heute glaube ich fast, daß es am Ende gut gewesen wäre, wenn er hin und wieder gekommen wäre. Du würdest ihn dann richtig werten. Heute, nach zwanzig Jahren, überschätzt du ihn.«
Carl sah sie erstaunt an.
»Das ist deine Ansicht?« fragte er.
»Durchaus! Keine Frau, am wenigsten aber die eines Dichters, hat das Recht, sich unter Berufung auf die Ehe gegen diese Gefühlsausbrüche aufzulehnen. Das käme mir vor, als wenn etwa ein Gelehrter gegen den Ausbruch eines Vulkans Protest erhebt, weil nach seiner Berechnung der Ausbruch erst in zehn Jahren hätte erfolgen dürfen.«
»Da hast du recht,« sagte Carl, »das Gefühl, demgegenüber es nicht einmal einen freien Willen gibt, kann nicht durch Gesetze reguliert werden.«
»Gewiß nicht!« erwiderte Cläre. »Das ist nicht der Sinn der Ehe, daß der Mann verurteilt wird, von nun an auf das höchste Glücksgefühl, den Rausch des Verliebtseins, zu verzichten.«
»Du meinst, wenn nur die Gesinnung die gleiche bleibt, dann vermag ein Rausch auch nicht das Glück einer Ehe zu stören?«
»Das ist meine Ansicht. Ehe ist Beständigkeit, Rausch Flüchtigkeit. Rausch schließt Bewußtsein aus, Ehe bedingt es. Rausch tangiert also nicht die Gesinnung. Aendert die sich, dann freilich hört es auf, ein Rausch zu sein – und damit wäre dann auch . . .« »Nie!« beteuerte Carl aus vollster Ueberzeugung und dachte nicht mehr an seine Gefühle während der Bahnfahrt. »Alles was du da sagst, das kann meine Gesinnung nur stärken und befestigen.«
»Es wird sich zeigen,« sagte Cläre. »Und nun kein Wort mehr davon! Laß den Rausch vorübergehen, und erst wenn du den großen Kater spürst, komm zu mir und sage mir: es ist vorbei.«
Carl strahlte.
»Jetzt erst bin ich glücklich,« sagte er, »wo ich weiß, daß zwischen dir und mir alles unverändert bleibt.«
Er lehnte seinen Kopf an Cläre, beugte sich zu ihr herab und küßte ihre Hände.
Cläre fuhr ihm mit der Hand durchs Haar und sagte:
»Du mein großes Kind!«
Sie suchte zu lächeln, aber ihre Augen, um die die Jahre scharfe Falten gruben, standen voll Tränen.