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Erstes Buch
Erster Teil
Fünftes Kapitel

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Am Abend bevor Carl wieder heimfuhr, gab Estella von Pforten zu seinen Ehren ein Krebsessen. Ihr Freund Peter und der junge Brand setzten, bevor die Gäste kamen, eine Bowle an und ließen sie, um sie zu kosten, in Estellas Boudoir tragen.

Während Estella Toilette machte, saßen sie behaglich in der weichen Chaiselongue neben dem Frisiertisch und tranken. Peter reichte Estella alle paar Augenblicke das Glas und schob den Schirm beiseite, hinter dem Estella, so oft die Zofe ins Zimmer kam, verschwand.

»Wenn jetzt der faule Besuch nicht käme,« sagte Peter, »dann würde ich sagen: setz dich, so wie du bist, zwischen uns auf die Chaiselongue und laß die Krebse kommen.«

»Kinder, wär’ das schön!« sagte Estella.

»Wenn ihr wollt, dann telephoniere ich allen ab.«

»Grund?« fragte Estella.

»Ach wat! Wozu brauchen wir Gründe? Du bist einfach nicht wohl – basta!«

»Dann sag schon lieber gleich, einer der Riesenkrebse hat sie ins Bein gebissen.«

»Kinder, das wäre ja alles sehr nett und schön,« sagte Estella, »aber ihr glaubt doch nicht, daß ich mir die öde Bagage rein zu nix und wieder nix auf den Hals lade! So blöd bin ich nicht.«

Peter grinste und zeigte die weißen Zähne.

»Dazu is mir dem Peter sein Geld zu schade!« fuhr sie fort. »Ueberhaupt, deutscher Sekt hätt’s bei der Bowle auch gemacht.«

»Also aus welchem Grunde sind wir öde Bagage geladen?« fragte Werner.

»Das gilt nicht für dich!« sagte Peter und klopfte ihn auf die Schulter.

Werner nickte und sagte:

»Ich weiß.«

»Also, es is ganz gut, wenn ihr Bescheid wißt, damit ihr mich unterstützt, nachher, wenn ich die Rede drauf bringe. Es handelt sich um Holtens neues Stück. Ich hab so was läuten hören, man will die Schabelsky von der Burg kommen lassen. Na, sowas gibt’s bei mir nicht! Sobald ich das raus hab, da schmeiß ich dem Direktor Abend für Abend die Helena, bis keine Katze mehr ins Theater geht. Also ihr versteht, die Rolle krieg ich!«

»Ehrensache!« sagte Werner. »Meine Stimme hast du!« und sie stießen an.

»Schnür’ mir mal hier das Korsett, Brand,« sagte Estella und setzte sich Peter auf den Schoß, so daß sie Werner den Rücken kehrte. »Der Peter schafft’s nicht!«

Und Werner zog das Korsettband so fest an, daß Estella von Peters Schoß auf seinen glitt.

»Nicht einmal halten kann er mich,« sagte Estella.

»Du läufst mir schon nicht fort,« erwiderte Peter und grinste.

»Dabei, was glaubst du wohl, was er anstellen würde, wenn das ein anderer wäre als du,« sagte Estella.

»Natürlich!« erwiderte’ Peter. »Werner bildet eine Ausnahme! In allem! Für den tue ich alles, und der darf auch alles tun!«

»Bist du nicht stolz?«  fragte Estella.

»Ich hab so das Gefühl, als wenn das selbstverständlich wäre, wenn zwei Menschen befreundet sind wie wir.«

Draußen klingelte es.

Alle drei fuhren auf, verzogen die Gesichter und sahen sich an.

Sollte das etwa schon einer von den Gästen sein? dachten sie und sahen, ohne daß einer zu reden wagte, zur Tür.

Die Zofe kam mit einem Rohrpostbrief in der Hand.

»Hurra!« schrie Werner. »Eine Absage!«

»Soll ich euch sagen, von wem?« fragte Peter.

»Wie kannst du wissen?« fragte Estella und nahm der Zofe den Brief ab.

»Wetten, daß er von Frau Geheimrat Weber ist?«

Estella öffnete und las.

»Wo hast du sie gesprochen?« fragte sie erregt.

»Also es stimmt.«

»Antworte bitte!« drängte Estella.

»Nirgends! Aber ich habe gewußt, daß ihr Bedenken kommen werden. Denn sie lebt beständig in Sorge, nur ja keinen gesellschaftlichen Fauxpas zu begehen.«

»Lächerlich!« sagte Estella gekränkt und reichte ihm den Brief: »Da lies!«

»Danke! Vermutlich eine Migräne? Was?«

»Nein!« sagte Estella überlegen. »Aber sie ist zu ihren Tochter nach Dresden, die plötzlich erkrankt ist.«

Peter wollte widersprechen. Aber Werner gab ihm ein Zeichen, und so ließ er’s.

»Gieß lieber ein, statt mich zu kränken,« sagte Estella.«

»Recht hat sie!« entschied Werner.

»Im übrigen, ob die aufgetakelte Pute kommt oder nicht, da mach ich mir viel draus. Ich bleib doch wer ich bin.«

»Bravo!« rief Werner.

»Dann kommen eben auf jeden neun Krebse statt acht.«

»Das Stück zu?« fragte Werner.

»Fünfundsiebzig Pfennige!«

»Ausgeschlossen!« rief Werner. »Die acht Krebse der Frau Geheimrat verzehren wir!«

»Das ist eine Idee!« sagte Peter.

Und schon war Werner draußen und holte aus der Riesenschüssel die acht strammsten Jungen heraus.

Werner und Peter zogen ihre Smokings aus und machten sich an die Krebse.

»Die ersten drei Schwänze auf das Wohl der Frau Geheimrat.«

Sie führten sie gleichzeitig zum Munde und schnalzten, trotz ihrer guten Manieren, vor Vergnügen mit der Zunge.

»Nachspülen!« kommandierte Werner, und sie leerten ihre Gläser in einem Zuge.

Als sie beim siebenten Krebse angekommen waren, verzog Werner das Gesicht und sagte:

»Eigentlich könnte jetzt noch jemand absagen.«

»Das wär’ reichlich spät,« meinte Estella.

»Wir würden’s jedenfalls nicht übelnehmen.«

»Wißt ihr,« sagte Peter, »eigentlich ist es genug, wenn jeder sieben Krebse hat.«

»Durchaus meine Meinung!« sagte Werner und war auch schon wieder an der Tür, trotz Estellas Protest, dem er wirksam damit begegnete, indem er sagte:

»Laß nur, ich bring’s schon geschickt irgendwie an, daß das Stück eine Mark kostet – dann gleicht’s sich aus.«

Und das beruhigte Estella, die um ihr Prestige besorgt war.

Als sie trotz keiner weiteren Absage eben bei der dritten »Krebsserie« waren und den Preis pro Stück nach einigen Bedenken abermals um fünfundzwanzig Pfennige erhöht hatten, klingelte es, und es kamen die ersten Gäste.

»Herr Geheimrat Weber,« meldete die Zofe. Werner und Peter ließen die Köpfe hängen und sahen wehmütig auf ihre Teller. Aber Estella, die schon zur Tür stürzte, um den Geheimrat zu empfangen, kehrte plötzlich um und schrie:

»Kinder, ich habe ja vergessen, mich weiter anzuziehen.«

Und Werner und Peter stellten fest, daß sie recht hatte.

Werner half ihr, den Rock überziehen, Peter in die Taille; die Zofe wechselte ihr die Schuhe; dann tanzte die Puderquaste über das Gesicht, der Dorinlappen fuhr über die Fingernägel und ein paar Tropfen Ideal huschten und verschwanden auf den Händen, an der Brust und unter den Armen. Werner und Peter schlüpften in die Smokings, und das intime Fest war beendet.

Estella betrat vom Wohnzimmer aus den Salon und begrüßte den Geheimrat.

»Verzeihen Sie, liebster Geheimrat, aber ich war so in meine neue Rolle vertieft, daß ich wirklich erst ein wenig ans offene Fenster mußte, um mich zurechtzufinden.« Dabei holte sie mehrmals tief Atem und führte mit Anmut das Spitzentuch an den Mund.

»Meine Teuerste,« rief der Geheimrat entsetzt, »in dieser Aufmachung am offenen Fenster! Womöglich in erhitztem Zustand! Wir haben keine drei Grad. Bedenken Sie, daß Tausende an Ihrer Gesundheit ein Interesse haben.«

»Ich bin daran gewöhnt,« sagte sie und bat den Geheimrat, sich zu setzen.

»Vor allem muß ich Ihnen nochmals das Bedauern meiner Frau aussprechen. Sie wissen ja, wie sehr meine Frau Sie schätzt, nicht nur als Künstlerin, auch als Menschen. Ich versichere Sie, sie hatte sich ganz besonders auf den heutigen Abend gefreut. Sie begreifen, wenn man, wie wir, von Gesellschaft zu Gesellschaft gehetzt wird, zu denen man doch immer mehr oder weniger gezwungen geht, wie wohltuend es da für sie ist, mal einen Abend mit Menschen aus Ihrer geistigen Sphäre zu verleben.«

»Ich muß sagen, daß mir die Hauptfreude des Abends durch das Fernbleiben Ihrer Gattin genommen ist – vor allem der traurige Anlaß. Ich hoffe nur, daß es nichts Ernstes ist.«

»I Gott bewahre, das heißt,« verbesserte er schnell, »ich meine, Sie verstehen ja, die übertriebene Angst einer Mutter.«

»Gewiß! ich bin zwar noch nicht . . .«

»Ich weiß – aber trotzdem – ich meine von der Bühne her, da kennen wohl auch Sie die übertriebene Angst einer Mutter.«

»Nun,« meinte Estella, »es ist nur gut, daß es Dresden ist.«

»Gewiß – aber wieso eigentlich?«

»Nun, ich meine, die Nähe! Es konnte doch ebenso London oder Paris sein.«

»Ach so! Gewiß! Da haben Sie recht. Aber schließlich konnte ja meine Tochter auch in Berlin verheiratet sein.«

»Gewiß! Das wäre noch näher!«

»Ich kenne solche Fälle – sogar bei uns in der Familie.«

»Sie sind sehr verzweigt?«

»Wieso?«

»Ich dachte.«

»Ach so! Ich verstehe; ja! ja! natürlich! Wir waren zwölf Geschwister; bei meiner Frau waren es zehn. Die alle haben geheiratet, da waren es vierundzwanzig; es kamen Kinder, wie das in den Ehen so ist; in ein paar Jahren waren es über neunzig. Wenn ich die Ehre habe, Sie zu Tisch zu führen, Gnädigste, dann wird es mir ein Vergnügen sein, da ich sehe, es interessiert Sie . . .«

»Ganz außerordentlich.«

»Es ist auch wirklich interessant.«

»Finden Sie?«

In diesem Augenblick betraten Werner und Peter den Salon.

Gott sei Dank! dachte Estella, so lange hätten sie doch nicht zu warten brauchen.

»Die Unzertrennlichen!« sagte der Geheimrat.

»Ja! das ist wirklich eine Freundschaft!« meinte Estella.

Man begrüßte sich.

»Ich höre von Ihren großen Plänen zum ewigen Frieden, Doktor!« sagte der Geheimrat zu Werner.

Der wies auf Peter.

»Dank dem Interesse, das der Baron Peter Linden meinen Ideen entgegenbringt, besteht wenigstens einige Aussicht, sie der Verwirklichung näher zu bringen.«

»Nun, wo solche Kräfte walten,« sagte der Geheimrat und wandte sich an Peter.

»I, wat,« wehrte der ab, »auf die Ideen von Werner gebe ich gar nichts; im Gegenteil! Erstens gehen se gegen die Geschäftsinteressen meines Vaters, also auch gegen meine; vor allem aber sind das so ideale Chosen, aus denen ja doch nie was wird.«

»Und trotzdem . . .?«

»Ich bitte Sie, was kann ich denn mit meinem Geld besser anfangen? Noch ’ne Jacht? Noch ’n Landsitz? Drauf sitzen tun doch nur meine Freunde, und ich hab’ de Scherereien. Da is doch wenigstens ’ne Idee, wenn se auch verrückt is; aber was im Leben is denn nich verrückt?«

»Das sagen Sie in Ihrem Alter?« rief der Geheimrat

»Ach wat, ich kenn’ den Klöngel und halt’ mich draußen. Aber ich seh ’n mir mit an und amüsier’ mich. Und dann: ich sag immer zu Werner: mach’ du deinen Friedensklöngel nur so laut wie möglich. Wenn viel vom Frieden geredet wird, dann wird auch viel vom Kriege geredet; das ist doch klar. Na, und mit dem Positiven erzielt man immer stärkere Wirkungen als mit dem Negativen.«

»Das stimmt,« sagte der Geheimrat.

»Folglich, je lauter Werner seine Friedensideen betreibt, um so stärker wird die Reaktion – ich kenn’ das doch – und um so mehr Geschützlieferungen bekommen unsere Fabriken, das ist doch klar!«

»Wenn man dich reden hört,« sagte Werner, »könnte man beinahe an seinen Idealen verzweifeln.«

»Aber Sie werden doch dem Baron nicht sein Geschäft verderben.«

»Wo die anderen bloß bleiben!« sagte Estella.

»Sie erwarten noch Gäste?« fragte der Geheimrat.

»Ja! Nur ein Paar. Herrn Holten und Fräulein Agnes.«

»So! So! Ist der noch immer in Berlin?«

»Sie läßt ihn nicht fort,« sagte Peter.

»Ich bitt’ dich, als ob ein Mann wie Holten sich von einer solchen —« Ein Blick Peters, und sie brach ab.

»Sie schätzen sie nicht?« fragte der Geheimrat.

»Aber ja!« erwiderte Estella. »Wie kommen Sie darauf? Wir sind die besten Freundinnen; wir sehen uns täglich.«

»Ich finde, sie gewinnt von Tag zu Tag,« sagte Werner. »Noch ein wenig mehr Kultur, und sie ist« – er verneigte sich zu Estella – »die Anwesenden natürlich ausgeschlossen, in Bezug auf Weib nach meinem Begriff: die Vollendung.«

»Du bist ein Schwärmer! Ein Uebertreiber! Ein Idealist!« sagte Peter.

»Ich meine auch,« äußerte Estella. »Ich will mich durchaus nicht mit ihr vergleichen, schon weil sie die Jugend für sich hat. Ihr merkt das natürlich nicht so, aber wenn man sie alle Tage um sich hat, dann empfindet man doch die Provenienz recht störend.«

»Du meinst die Herkunft?« fragte Peter, und Estella errötete, weil sie glaubte, ein falsches Fremdwort gebraucht zu haben.

Der Geheimrat tat erstaunt.

»Das wußt’ ich gar nicht! Von wo kommt sie denn?«

»Wie? Sie wissen nicht . . .?« fragte Estella erregt.

Der Geheimrat schüttelte den Kopf.

»Nein! Aber das interessiert mich sehr.«

»Also, das soll ja furchtbar sein!« sagte Estella.

»Nicht möglich!« erwiderte der Geheimrat. »Darf man nicht ein wenig mehr . . .?«

Estella tat, als wenn sie Bedenken hätte:

»Wissen Sie, Herr Geheimrat, ich möchte nicht gern – nicht wahr, Sie verstehen – Agnes ist meine Freundin . . . Aber ich begreife gar nicht, daß Sie davon nichts wissen.«

»Gott ja! Man redet viel! Aber nie was Bestimmtes. Immer nur so in der Form wie Sie . . .«

»Na, das dürfte ja auch genügen,« meinte Estella.

»Und Holten?«

»Wie meinen Sie?«

»Ich meine, weiß er?«

»I Gott bewahre!« platzte Estella heraus. »Wie können Sie glauben. Holten ist ein so feiner Mensch, – wenn der eine Ahnung hätte!«

»Wovon?« fragte Werner nicht eben freundlich. »O pardon!« sagte Estella, »ich vergaß, du bist mit ihm befreundet.«

»Sie hat ja nichts gegen ihr gesagt!« vermittelte Peter.

»Durchaus nicht!« sagte der Geheimrat. »Im Gegenteil!«

»Ich erlaubte mir nur die Frage,« wiederholte Werner, »wovon weiß Holten nichts?«

»Stammt sie denn aus Berlin?« fragte der Geheimrat. »Oder hat er sie importiert?«

»Soviel ich weiß, kommt sie von ganz wo anders her,« erwiderte Estella.

»So hört mit dem Quatsch auf!« sagte Peter. »Im Grunde wißt ihr ja alle nichts.«

»Jedenfalls habe ich nichts Nachteiliges über sie gesagt,« stellte Estella fest.

»I Gott bewahre, du hast nur geschimpft,« sagte Peter.

»Peter! Ich bitt’ dich!« empörte sich Estella. »Laß deine Scherze!«

»Ich meine auch, die Gnädigste hat nicht ganz unrecht,« vermittelte der Geheimrat. »Unser Interesse zeigt doch nur, wie sehr wir . . .«

»Ah!« sagten alle und sprangen auf, und der Geheimrat setzte hinzu:

»Da sind sie!«

Und Agnes, Carl und der Direktor traten in den Salon.

Estella ging auf Holten zu und sagte:

»Sie glauben gar nicht, was für eine Freude und Ehre es für mich ist, Sie bei mir zu sehen.«

Carl war verlegen und sagte:

»Aber bitte – das ist wirklich sehr freundlich!« und drückte ihr die Hand.

Dann begrüßte sie Agnes, so, daß Carl es sah, küßte sie und sagte:

»Es ist mir direkt unbehaglich, daß ich dich jetzt so wenig sehe.«

»Carl reist morgen,« sagte Agnes – wandte sich zu ihm und sagte: »Leider!«

Der strahlte und reichte ihr die Hand:

»Ich komme wieder!«

»Bald!« bettelte Agnes und zog eine Schnute.

Werner stand neben Peter.

»Was sagst du dazu?« fragte er und wies auf Agnes.

»Also mag sie ihn doch.«

»Sie wird ihre Gründe haben!« erwiderte Peter.

»Wir haben eben von Ihnen gesprochen,« sagte der Geheimrat, als er Agnes begrüßte. Estella gab acht und rief:

»Wo spricht man nicht von ihr? Ganz Berlin spricht von Agnes. In der letzten Nummer der Illustrierten ist das Bild des neuen Präsidenten von Amerika rausgeblieben, um ihrem Bilde Platz zu machen.«

»Mit Recht!« sagte der Direktor. »Das hat für das Publikum auch mehr Interesse.«

Der Geheimrat stimmte bei:

»Nur die neue Mode der langen Röcke sollten Sie nicht mitmachen,« sagte er, betrachtete ihr Kleid und sah sich um den Hauptreiz des Abends betrogen.

»Wissen Sie nicht, daß Fräulein Agnes die Mode mit veranlaßt hat?« sagte Werner.

Estella sah ihn wütend an.

Der Geheimrat schüttelte den Kopf, und der Direktor sagte:

»Was heißt das?«

»Nun, sie hat Fräulein von Pforten beim Zusammenstellen der Kostüme für die Komödie von Shaw geholfen; und wenn Sie sich erinnern, haben die Kostüme mehr Aufsehen erregt als das Stück. Seitdem . . .«

»Sie hatten schon bessere Einfälle,« sagte der Geheimrat.

Agnes lachte und sagte:

»Unhöflicher Mensch. Nehmen Sie bei Ihrer Frau, von der wir übrigens eben kommen,« – Peter und Estella sahen sich an – »Unterricht im Takt.«

»Entschuldige!« sagte Werner leise zu Estella. »Das war eine kleine Lektion für vorhin!«

Estella verzog das Gesicht und sagte:

»Esel!«

Peter, der dabei stand, zeigte die Zähne.

»Ich amüsier’ mich,« sagte er und grinste.

»Herr Holten,« wandte sich Estella an Carl, »denken Sie, Ihre Dame hat mir vor einer halben Stunde abgesagt.«

»Was heißt das, seine Dame?« trat Agnes dazwischen, nahm Carls Hand und lehnte sich an ihn: »Ich bin seine Dame!«

Werner stand sprachlos.

»Was sagst du zu Agnes?« fragte er Peter.

»Gute Schule!« erwiderte Peter.

»Ich sag dir, Agnes verstellt sich nicht.«

»Ein ganz harmloser Mensch!« bestätigte der Direktor.

Peter kniff die Augen zusammen:

»Laßt sie mal erst sich auskennen.«

»Sie meinen, sie tastet noch?«

»Ne, die macht’s mit ’m Instinkt.«

»Ich glaube mit dem Geheimrat,« sagte der Direktor.

Und da er das für einen Witz hielt, so lachte er.

»Wie können Sie das behaupten?« fragte Werner empört.

»Behaupten?« sagte der breit und schüttelte den Kopf.

»Sie wissen, scheint’s, nicht, daß ich mit Holten . . .!«

Peter faßte ihn an die Schulter:

»Sei doch bloß nicht gleich immer so feierlich.«

»Im übrigen,« sagte der Direktor und beugte sich leicht nach vorn. »Ich meinte das natürlich ganz harmlos.«

Werner gab ihm die Hand und Peter sagte:

»Na also!«

Aber die anderen waren aufmerksam geworden.

»Darf man wissen, um was da gestritten wird?« fragte Agnes.

»Um die Dame des Hauses,« sagte Werner.

»Wieso?«

»Wer sie zu Tische führt.«

»Das ist doch klar!« rief Agnes, »soviel verstehe ich auch schon; natürlich der Aelteste!« Sie sah sich um und wies auf den Geheimrat.

»Glaubst du nun, daß die echt ist?« fragte Werner, und Peter erwiderte:

»Zeitweis.«

Der Geheimrat empfand es nicht als Kompliment, und dadurch, daß Estella sagte:

»Du meinst natürlich den Würdigsten,« wurde die Situation noch unangenehmer.

Denn jetzt brauste Agnes auf und rief:

»Na, weißt du, wenn’s danach ginge, dann müßtest du wohl mit Carl zu Tische gehen.«

»Aber Agnes!« sagte Carl beschämt, legte seinen Arm um sie und wandte sich zu den anderen: »Das sagt sie natürlich nur so dahin, ohne sich was dabei zu denken.«

»Ich versteh schon!« sagte der Geheimrat, und auch die übrigen gaben zu erkennen, daß sie die Aeußerung mehr belustigte als kränkte.

»Lächerlich!« rief Agnes. »Was heißt denn das? Als ob einer von euch an ihn heranreicht. Nicht mal alle zusammen!« Dabei sah sie sie der Reihe nach an.

»Ich glaube,« sagte der Geheimrat und rettete geschickt die Situation, »wir tun am besten, in diese spontane Huldigung auf unseren berühmten Dichter mit einzustimmen und zu rufen: Er lebe hoch! hoch! hoch!«

Alle stimmten ein, und Agnes dachte:

Schade, daß die Alte das nicht gehört hat. Sie wäre mit mir zufrieden.

Als der Diener, der Peter gehörte und hier nur aushalf, die Türen zum Speisezimmer aufschob und meldete:

»Es ist serviert,« nahm Agnes Carl unter den Arm und sagte:

»Komm!«

»Dein rechter Tischnachbar kommt später,« sagte Estella, indem sie selbst dem Geheimrat den Arm reichte und den Direktor an ihre rechte Seite bat.

»Wer ist es?« fragte Agnes.

»Der alte Herr Brand.«

Agnes verzog das Gesicht, hatte ein »Bex« auf der Zunge, dachte an die Frau Geheimrat und beherrschte sich.

»Na also, dann, bis er kommt, Baron!« rief sie, nahm Peter bei der Hand und ging mit ihm und Carl voran. Die anderen folgten.

»Was ist denn das?« sagte Agnes und beugte sich über die Riesenschüssel, die in der Mitte der Tafel stand. Dann rief sie: »Krebse!« und Estellas großer Moment war da.

Sie wußte von einem Spaziergang her, daß Agnes mit diesen beschwerlichen Tieren noch niemals in direkte Berührung getreten war, ihnen also hilflos gegenüberstand, und sie freute sich auf den Augenblick, in dem Agnes ihre Blöße, die nach ihrer Ansicht immerhin Mangel an Kultur verriet, eingestehen mußte.

Aber Agnes, die Estellas Hinterhältigkeit nicht einmal ahnte, war keinen Augenblick verlegen, sondern sagte ganz arglos:

»Au, fein Carl! Du mußt mir zeigen, wie man die Tiere aufpellt, damit ich mich nicht blamiere, wenn’s die mal in richtiger Gesellschaft gibt.«

Estella sprach die nächsten fünf Minuten kein Wort mehr.

Aber der Geheimrat, Peter und Carl wetteiferten, Agnes in die Mysterien des Krebsessens einzuweihen. Das Resultat war überraschend; Agnes übertraf an Geschicklichkeit bald ihre Lehrmeister. Es schmeckte ihr köstlich, während Estella – ohne es auszusprechen – fand, daß jeder Krebs bitter war und nach Galle schmeckte. Agnes mußte sich auf Peters Geheiß nach jedem Krebs den Mund und die Fingerspitzen spülen. Sie tat es lächelnd und ungezwungen und ahnte nicht, daß sie bei dieser Prozedur, die an sich gewiß mehr ein notwendiges Uebel war, einen reizvollen Anblick bot.

Das gab den Anlaß zu einem Gespräch über Aesthetik, und man einigte sich dahin, daß immer nur die Ausführung, nie der Gegenstand, den Maßstab für ästhetische Wertung abgeben könne. Ein Muttergottesbild mit dem Jesusknaben, das auf einer von Engelsköpfen umrankten Wolke Marias Himmelfahrt darstelle, könne unästhetisch wirken, während die Grablegung Christi eines Matthias Grünewald, auf der man sieht, wie das Fleisch des verwesenden Körpers in Fäulnis übergeht, neben dem Genuß und der Freude am Kunstwerk keinen Ekel aufkommen lasse.

»Sehr richtig!« sagte der alte Brand, der gerade ins Zimmer trat, »denn das Grauen vor dem Gegenständlichen verschwindet völlig vor dem überwältigenden Können.«

»Und damit«, sagte Werner, »ist auch das Problem Agnes’ gelöst – mit dem Genuß am Kunstwerk, so wie Gott es hingestellt hat. Und damit ist zugleich bewiesen, daß dem Sujet keine Grenzen gesetzt sind. Ein Kunstwerk wie Agnes wird selbst in seiner tiefsten Verworfenheit für den Aestheten noch einen größeren Genuß bedeuten, als ein königlicher Koprophage in Samt und Seide.«

Estella tat sehr interessiert, verstand aber kein Wort und nickte daher auch meist bei falscher Gelegenheit sehr intensiv mit dem Kopfe. Nur wenn Agnes’ Name zu häufig wiederkehrte, war sie gekränkt. Agnes hingegen gab sich erst gar keine Mühe und rief, als Peter ein anderes Thema anregte:

»Gott sei Dank! Endlich mal ein vernünftiges Wort!«

»Was heißt das?« fragte Estella, »ich fand, es war äußerst anregend!«

»Also schlagt mich meinetwegen tot,« rief Agnes, »aber ich habe kein Sterbenswort verstanden.«

»Das tut mir deinetwegen leid,« sagte Estella.

»Das kann ich nich finden!« widersprach Peter. »So ’n theoretischer Kram geht mir auch auf die Nerven. Wat is, is! Einer fühlt doch nicht wie der andere. Und das meiste is doch immer nur einjebildet und nachjeredet!«

»Ich finde auch,« sagte Agnes. »Ihr seid unter uns noch langweiliger.«

»Was meinst du denn damit wieder?« fragte Estella.

»Laß man!« wehrte Peter ab und grinste, »se wird schon was meinen.«

Als die Unterhaltung später wieder im Gange war, fragte Peter leise:

»Sagen Sie, liebe Agnes, was meinten Sie damit, daß wir unter uns noch langweiliger seien? Langweiliger als in der Gesellschaft?«

»Natürlich! Was sonst?«

»Glauben Sie nicht, daß Sie Estella damit kränken, wenn Sie so deutlich zum Ausdruck bringen, daß sie oder ihr Haus, oder wie Sie wollen, nicht zur Gesellschaft gehört?«

Agnes sah ihn erstaunt an.

»Das ist doch nicht meine Schuld – ich finde es dumm genug, aber es ist doch so!«

»Gewiß! Aber man braucht es doch nicht zu sagen.«

»Ja, weiß sie das denn nicht?« fragte Agnes höchst verwundert.

»Natürlich weiß sie’s.«

»Na also! – Und Sie und die anderen wissen’s doch auch. Jeder weiß es doch. Und sie wird doch mit Ihnen zusammen auch nirgends eingeladen, weil Sie nicht Mann und Frau sind.«

»Das alles ist natürlich richtig. Aber es ist doch peinlich, das zu berühren.«

»Das Berühren ist peinlich, und das Tatsächliche ist es nicht?« fragte Agnes und wies auf die Gesellschaft. »Wenn es peinlich ist, dann umgeht man’s doch und platzt es sich nicht noch so faustdick vor die Nase. Das ist doch der größte Schwindel! Das is doch nich halb und nich ganz: das is doch Bruch. Ne, Baron, für so ’n Mumpitz bin ich nich zu haben. Entweder ich pfeif’ auf was – aber dann so laut, daß es alle hören, oder ich such’s zu ändern. Aber mich selbst betrügen, da käm’ ich mir zu dämlich bei vor.«

»Mein Standpunkt!« sagte Peter. »Aber nicht der der Welt«

»Mir wurscht.«

»Mir darf’s wurscht sein,« sagte Peter, »weil ich zufällig und ohne Verdienst Millionen habe, aber Ihnen . . .«

Sie klopfte ihn auf die Hände.

»Abwarten, Baron! Ich bin auch nicht auf den Kopf gefallen!« Dann wandte sie sich schnell zu Carl und sagte: »Carli, wär’s nicht netter, wenn wir den letzten Abend allein gewesen wären?«

Er nahm ihre Hand und sagte zärtlich:

»Wir haben noch viele Stunden vor uns.«

»Glaubst du, daß ich mich freue?«

Er sah sie strahlend an und nickte.

»Mehr als du?« fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

»Doch! doch!« sagte sie, fiel ihm um den Hals und küßte ihn.

»Aber, aber!« sagte der alte Brand.

»Laß doch, Onkelchen!« rief Agnes und wandte den Kopf.

»Wir sind ja unter uns!«

Der Direktor hatte inzwischen Peter in ein Gespräch gezogen. Er wußte, daß er ihn hier treffen würde. Das war auch der Grund, aus dem er der Einladung Estellas gefolgt war. Er trug sich mit dem Gedanken einer freien Bühne im großen Stile, die für die unbemittelten Einwohner Groß-Berlins kostenlos gute Vorstellungen gab. Der Plan stand, wie alle Theaterpläne, längst bis ins kleinste Detail fest. Die jährliche Steuerquote, die der einzelne entrichtete oder besser nicht entrichtete – denn das Hauptkontingent stellten die, deren Einkommen unter dem steuerpflichtigen Satze blieb – entschied über den Anspruch auf Mitgliedschaft der Freien Bühne, die jedem Unbemittelten das Recht auf eine Vorstellung in der Woche gab. Alles war wie gesagt, bis aufs kleinste durchdacht; nur fehlte, wie bei allen Theaterplänen, die Finanzierung. Durch einen minimalen, kaum fühlbaren Steueraufschlag, den die Vermögen von über einer halben Million zu entrichten hätten und über dessen »Erwägungsmöglichkeit« der Finanzminister mit sich reden lassen wollte, sobald die Finanzierung des Unternehmens erfolgt wäre, würden die jährlichen Unkosten gedeckt. Der ethische Wert des Projekts war in einer Denkschrift niedergelegt, im Anschluß an die sich prominente Persönlichkeiten aller Berufsstände zustimmend, teils begeistert geäußert hatten. Eine Option auf eine Reihe erster Künstler und Künstlerinnen war bereits erfolgt.

»Kurz es ist eigentlich alles da,« sagte der Direktor, »was fehlt ist lediglich . . .«

». . . das Geld!« ergänzte Peter.

»Ja!«

Peter grinste, denn er hatte vom ersten Augenblick an gewußt, worauf der Direktor hinaus wollte. Auch der Geheimrat ahnte es und hatte daher mit seiner Begeisterung für die Idee zurückgehalten.

»Ich sehe noch eine Lücke,« sagte der alte Brand. »Hat denn die von Ihnen projektierte Steuer, deren Erwägungsmöglichkeit sich der Finanzminister vorbehielt, auch schon einen Namen?«

Und der Direktor merkte nicht die Ironie, die in der Frage lag, und sagte:

»Nein, noch nicht!«

»Dann möchte ich vorschlagen, sie die ideale Forderung zu nennen,« sagte Werner, der den Plan ernst nahm und von ihm entzückt war.

»Jedenfalls möchte ich raten, ehe man an die Finanzierung geht – denn die scheint nach dem, was Sie sagen, ja nur so eine Art Formalität zu sein —«

Peter grinste über das ganze Gesicht.

»Sagen wir mal die Krönung des Ganzen,« erwiderte der Direktor und war stolz und froh, über den Knüppel, den der alte Braun ihm zwischen die Beine schmiß, nicht gestolpert zu sein.

»Und mich halten Sie für geeignet, diese Krönung zu vollziehen?« fragte Peter.

»Ich wüßte keinen Würdigeren.«

Da legte Peter Messer und Gabel hin, schluckte das Stück Rehfilet, das er im Mund hielt, ungekaut herunter, wischte sich den Mund mit der Serviette, lehnte sich in den Stuhl, schob den Kneifer gerade und sagte:

»Mein Lieber, Sie müssen nämlich wissen . . .«

»Allmächtiger!« sagte Agnes und stieß Carl an. »Paß auf, jetzt kommt dem seine Tour.«

». . . das is alles ganz anders, als Sie und die anderen sich das denken. Mein Vater, das is ein unbequemer Herr. Jewiß, er hat hundertsiebzig Millionen – aber was hab ich davon? Wenn das so einfach wäre, was glauben Sie wohl, wozu ich mich da die ganzen Jahre bei den Gerichten mit ihm herumschlüge? Sie müssen nämlich wissen, meine Mutter war ’ne verwitwete Baronin Linden, ehe sie Freiin von Ostrau wurde; und ich bin aus dieser ersten Ehe, bin aber von Baron Ostrau, als er meine Mutter heiratete, adoptiert worden. Daher auch mein Name Linden-Ostrau. Sehen Sie, das ist alles nicht so einfach! Es existiert nämlich auch aus der geschiedenen Ehe des Baron Ostrau ein Sohn, der seit zwei Jahren verheiratet ist.«

Peter holte Atem.

Agnes beugte sich über den Tisch.

»Diese Ehe«, fuhr sie genau in Peters Tonfall fort, »ist bis heute gottlob kinderlos. Die freiherrlich Lindenschen und die freiherrlich Ostrauschen Güter, Hochöfen, Gruben und Geschützfabriken wurden bei Schließung der Ehe zu einem Fideikommiß vereinigt – verstehen Sie, und zwar wurde bestimmt, falls aus der Ehe kein Kind hervorginge – na und das is nich hervorgegangen, daß das Fideikommiß an den ersten männlichen Erben fallen solle, der aus einer Ehe hervorgeht, die mein Adoptivbruder oder ich schließe. Diesen ganzen Vertrag . . . – So, lieber Baron, nun haben Sie sich wohl erholt, nun bringen Sie’s zu Ende!« Und Peter nahm die Rede auf und schloß:

». . . ficht nun mein Vater nach dem Tode meiner Mutter aus formalen Gründen an, um sich freies Verfügungsrecht zu erwirken. In der ersten Instanz habe ich gewonnen; daher mein Kredit. Verliere ich aber die zweite, pumpt mir kein Mensch mehr was. Also, ich bin ein armer reicher Mann.«

»Und wann dürfte die Entscheidung der zweiten Instanz fallen?« fragte der Direktor.

Peter und Agnes zogen die Schultern in die Höhe und sagten gleichzeitig:

»Vielleicht in sechs Wochen – vielleicht in zwei Jahren – das weiß kein Mensch.«

Alle lachten und klatschten Agnes Beifall.

Dadurch ermuntert, nahm sie genau die Stellung des Direktors ein, schob die Unterlippe nach vorn, drehte den Kopf zur Seite, kniff das linke Auge ein bißchen zusammen und sagte mit einer Stimme, die seiner zum Verwechseln glich:

»Nun, lieber Baron, wenn Sie mir das Versprechen geben, dann warte ich schlimmstenfalls die beiden Jahre.«

Der Direktor war platt, und da sie ihm diese Antwort vom Munde abgelesen hatte, so war ihm ganz unheimlich zumute, und er nickte nur zustimmend mit dem Kopfe.

Und ehe Peter noch etwas erwidern konnte, änderte Agnes Ausdruck, Maske und Stimme und fuhr als Peter fort:

»Das ginge, wenn es keine dritte Instanz, das Reichsgericht, gäbe.«

Und wieder als Direktor sagte sie:

»Wie lange dauert das?«

Sie zog wie Peter die Schultern in die Höhe und sagte:

»Am Reichsgericht schwebt heute noch ein Prozeß seit 1876; die Parteien sind schon zweimal darüber hinweggestorben; die Erben führen ihn weiter.«

Sie ahmte das entsetzte Gesicht des Direktors nach und fuhr als Peter fort:

»Aber das ist nicht immer so. Es gibt auch Prozesse, die schneller gehen. Worauf aber am Ende der ganze Klöngel hinausläuft und worauf es mir und meinem Alten ankommt, ist die Frage, ob einmal Lindensches oder Ostrausches Blut auf Ostrau-Linden herrscht. Und das is ’ne verflucht ernste Sache.«

»Als ob ich mich sprechen höre!« rief Peter – und der lachende Jubel, der Agnes’ Leistung folgte, ließ auf eine zehnmal stärkere Zuhörerschaft schließen.

»Das ist eine ganz ungewöhnliche Begabung!« sagte der alte Brand.

Und der Geheimrat rief dem Direktor zu:

»Direktor, die Kraft sichern Sie sich rechtzeitig!«

Carl saß da und staunte sie an.

»Du bist ganz wunderbar!« sagte er. »Tausend eigene Saiten klingen in dir. Und sie alle kommen aus einer  Quelle – die ist tief und unergründlich! Das Gute und die Sünde geht darin um, wie Schwestern. Sie alle klingen zusammen, und du weißt es selbst nicht, was das Gute und was das Böse ist.«

»Ein Vorwurf für eine Dichtung!« sagte Werner.

Und Carl nickte nachdenklich und sagte:

»Ja! Wenn man das gestalten könnte!«

»Wenn es einer kann, dann kannst du’s,« sagte Brand.

Carl wandte sich ganz zu Agnes, nahm ihre beiden Hände, beugte sich zu ihr, küßte sie auf die Stirn und sagte mit einer Stimme, die zeigte, wie feierlich ihm zumute war:

»Ich will’s versuchen.«

Und alle stießen auf ein gutes Gelingen an.

Dies erschien Estella als der Augenblick, um unauffällig auf den eigentlichen Zweck des Abends zu sprechen zu kommen.

»Vorher aber haben wir ja wohl noch ein modernes Trauerspiel von Ihnen zu erwarten?« sagte sie.

»Oh, was glauben Sie!« erwiderte Carl und führte die Hand zur Stirn. »Bis das in mir Gestalt gewinnt, das kann zwei, drei Jahre dauern. Solange trage ich es in mir und fühle es werden, und gehe mit einem Glücksgefühl umher. Und eines Morgens, da steht die Gestalt wie ein fertiger Mensch in mir, und ich führe ein Doppelleben. Sie begleitet mich überall hin. Alles, was ich tue, lasse ich in Gedanken auch sie tun. Jeden meiner Gedanken denkt auch sie, und stundenlang am Tage halten wir Zwiesprache miteinander. Oft fasse ich es selbst nicht, daß, was da in mir wurde und nun lebt, nicht Mensch von Fleisch und Blut ist. Sehen Sie, dann erst beginnt meine Arbeit, indem ich dies neue Wesen von mir gebe, wie ein Geheimnis ausplaudere, der Welt überantworte – und dadurch eben mich von ihm befreie. Das ist eine Arbeit, die mir dann freilich schnell von der Hand geht, um so schneller, je größer die Zahl der Gesichte ist, die sich von neuem in der Ferne mir schon wieder aufdrängen und denen ich, selbst wenn ich mich zur Ruhe zwingen will, doch immer wieder verfalle.«

»Ihr Dichter seid eben komische Menschen,« sagte Agnes. »So gar nicht gegenständlich! und ich bin’s nur!«

»Bravo, Agnes!« rief der alte Brand. »Das kennzeichnet ihn und Sie; Sie sind es ausschließlich, während Carl in einer ständigen Auflösung, in einem ständigen Fluß der Gefühle lebt.«

»Hab ich also mal keine Dummheit gesagt?« fragte Agnes, lächelte, hob das Glas, nickte hinein, sagte: »Prost, Agnes!« und trank.

»Prost, Agnes!« rief der alte Brand, und alle stimmten in den Ruf mit ein.

Estella erneute ihren Versuch.

»Also dann kommt das neue Drama bald?« fragte sie.

»Nach Weihnachten vermutlich!« sagte Carl.

»In der Presse standen ja schon verschiedentlich Notizen.«

»Die ich nicht lanciert habe,« sagte der Direktor.

»Kennt denn sonst jemand schon das Stück?« fragte Estella.

»Gewiß! Außer Brand und mir noch ein paar andere Direktoren – und wem Doktor Holten es etwa sonst noch gegeben oder gelesen hat.«

»Keinem einzigen,« sagte Carl, »außer natürlich meiner Frau.«

Carl erschrak; zum ersten Male in Agnes’ Gegenwart sprach er von ihr. Und auch die anderen empfanden es peinlich.

»Weshalb nicht mir?« fragte Agnes erregt.

»Du sollst es haben,« beschwichtigte sie Carl.

»Nein, ich will, daß du es mir auch liest, so gut wie ihr.«

»Mit Freuden, Agnes!«

»Wann?«

»Wenn ich wiederkomme.«

»Nein! Ich will, daß du es gleich tust.«

»Du weißt doch, daß ich morgen reise«

»Dann bleibst du noch, auf einen Tag kommt es doch nicht an.«

»Das sagst du schon seit acht Tagen.«

»Du hättest mir ja nicht zu folgen brauchen, da ich keinen Grund hatte als den, dich hier zu haben. Jetzt aber habe ich einen Grund. Und darum darfst du nicht reisen, versprich mir das!«

»Agnes, das geht nicht!«

»Du willst mir das Stück also nicht lesen?«

»Gewiß will ich. Wenn du mich gestern darum gebeten hättest, so . . .«

»Gestern wußte ich noch nichts von einem Stück.«

»Ich habe dir davon erzählt.«

»Aber nicht, daß andere es kennen. Also, Carli —« sie änderte den Ton ihrer Stimme, wurde weich, fuhr ihm mit beiden Händen durchs Haar, brachte ihr Gesicht nahe an seins und sagte: »Du bleibst?«

Carl überlegte.

»Du hast das Stück doch hier?« fragte sie.

»Nein!« sagte er beinahe froh, denn er hatte gar nicht daran gedacht, daß er das Manuskript nicht bei sich hatte.

Agnes schien verstimmt. Aber nur einen Augenblick lang, dann wandte sie sich zu dem alten Brand und sagte:

»Onkel Brand, Sie müssen es ja haben – und Sie auch, Direktor!«

Beide schüttelten den Kopf.

»Ihr lügt!« rief sie wütend. »Ich lasse mich nicht dumm machen! Also einer von beiden gibt’s auf einen Tag heraus. Wir fahren ja bei Ihnen vorbei, Direktor, oder haben Sie’s im Theater?«

»Wie kann ich das bei der Menge von Manuskripten wissen!« sagte der Direktor.

»Wieder gelogen!« rief Agnes. »Gut, suchen wir’s erst bei Ihnen. Ist’s da nicht, so liegt’s im Theater. Wann sind Sie da morgen früh?«

Der Direktor lächelte über Agnes’ Beharrlichkeit.

»Ich seh schon,« sagte er, »mir bleibt nichts übrig als die Waffen zu strecken.«

»Also?« fragte Agnes und ließ kein Auge von ihm.

»Wenn Sie bei mir vorüberfahren, schick’ ich’s Ihnen an den Wagen – vorausgesetzt, daß Doktor Holten . . . .«

Agnes wandte sich an Carl:

»Sag’ ja!«

Und jeder fühlte, daß er nicht nein sagen konnte.

Holten nickte denn auch mit dem Kopfe, worauf ihm Agnes um den Hals fiel, einen Kuß auf den Mund drückte und »Danke« sagte.

Nur der alte Brand wagte einen Einwurf und sagte:

»Fänden Sie es in Carls Interesse nicht richtiger, Agnes, wenn er nun endlich wieder an die Arbeit ginge?«

»Ich bitt’ Sie, ob das neue Werk in zwei Jahren oder in zwei Jahren und einem Tage fertig ist, das ist doch wahrhaftig gleichgültig.«

»Es ist nicht der Tag, es ist das System,« sagte Brand, schon mehr vor sich hin.

Unter System verstand Agnes vielleicht fälschlich in erster Linie Carls Frau, die ja vermutlich auch in irgendeiner Form in das System, von dem Brand sprach, mit hineinspielte.

Sie kämpfte schwer und wohl zum ersten Male, um eine Antwort, die sich aus dem Blute ihr aufdrängte, zu unterdrücken. Sie biß die Lippen zusammen, krampfte die Hände und würgte die Antwort herunter. Aber in ihrem Gesicht stand das Wort: Kampf.

Und Brand las es und erriet, wem es galt. Er suchte ihren Blick und sah sie an. Sie erschrak und fühlte, daß sie in ihm einen Gegner hatte.

Estella, die sich immer wieder von ihrem Ziele abgedrängt sah, brachte das Gespräch zum dritten Male, was nun schon nicht mehr unabsichtlich schien, auf Carls Drama.

»Das nächste Stück hat ja wohl eine weibliche Rolle, die der Helenas entspricht,« fragte sie.

»Das möchte ich nicht sagen!« erwiderte Carl, und entwickelte in ein paar Zügen den Charakter der weiblichen Hauptrolle.

»Das ist mir ja wie auf den Leib geschrieben!« rief Estella, »nein, wie ich mich darauf freue, das zu spielen.«

Der Direktor verzog den Mund und machte ein dummes Gesicht. Carl sah sie an und sagte:

»Nun, wir wollten, offen gesagt, die Wedelly von der Burg für die Rolle gewinnen.«

Estella zwang sich zum Lachen.

»Nicht nett von Ihnen, Herr Doktor, mich zu frotzeln; auch als Scherz kränkt’s mich. – Sehen Sie,« und sie wies auf ihre Finger, die nervös zitterten, »das ist unser Künstlerblut.«

»Das tut mir aber leid,« sagte Carl teilnahmsvoll und wandte sich an Brand und den Direktor. »Vielleicht, daß wir’s noch ändern.«

»Wie?« rief Estella grell und ließ geschickt Messer und Gabel fallen, so daß zwei Teller laut in Scherben sprangen – »Nein! das ist ja nicht möglich! Das kann nur ein Scherz oder ein Bluff sein! Das hieße ja, mich der Lächerlichkeit preisgeben! Das wäre ja eine Provokation! eine bewußte Erniedrigung! ein wohlbedachtes mich Totmachen! Wo jeder weiß, daß ich da bin, daß ich die Helena spiele, und wie spiele —« und sie zitierte aus dem Gedächtnis Wort für Wort ein halbes Dutzend von Kritiken, in denen man ihre Leistung maßlos lobte.

»Wie können Sie nur so reden,« sagte der Direktor, »wo Sie genau wissen, wie ich Sie schätze.«

»Das seh ich!« sagte Estella.

»Ich versteh janich, wie man sich um das bißchen Theater so aufregen kann,« sagte Peter. »Sei doch froh, wenn du nicht soviel zu lernen brauchst.«

»Das verstehst du nicht!« rief Estella.

»Das geb ich zu,« sagte Peter.

»Aber Sie wissen es,« wandte sie sich an den Direktor, »daß da meine künstlerische Ehre engagiert ist.«

»So hören Sie mich doch nur einmal ruhig an, ich will es Ihnen ja erklären.«

»Da gibt es keine Erklärung!« rief Estella.

»Also zunächst mal: niemand will Sie kränken. Wir alle schätzen Sie als weitaus bestes Mitglied des ganzen Ensembles. Aber Sie wissen, ich habe außer dem Neuen Theater noch das Stadttheater gepachtet.«

»Muten Sie mir etwa zu, da aufzutreten?« fragte Estella verächtlich – »in dem Arme-Leute-Viertel?«

»Uns, und ich hoffe auch Ihnen, liegt daran, daß die Werke Holtens, über deren Bedeutung wir uns ja alle klar sind, ins Volk, in die Massen dringen.«

»Und ausgerechnet ich soll das vermitteln; soll vor einem Publikum spielen, das eine Tingeltangeleuse nicht von einer Heroine unterscheiden kann?«

»Also während man das neue Drama Holtens im Neuen Theater spielt, wollen wir – und zwar in der gleichen Besetzung – die Helena im Stadttheater spielen.«

»So! – Und wenn es Ihnen eines Tages einfällt, Herrn Holten noch tiefer in die Massen dringen zu lassen, dann muß ich womöglich drei Wochen lang auf einem Budenrummel in Kyritz oder Treuenbrietzen gastieren, während Sie mir in Berlin eine Konkurrenz großpäppeln, die inzwischen die Rollen spielt, die kontraktlich mir zukommen. Nein, Herr Direktor, Schundluder lasse ich mit mir nicht treiben. Das habe ich nicht nötig, und dazu ist man Gott sei Dank auch wer!«

»Das kann ja alles in Ruhe morgen im Bureau besprochen werden,« sagte der Direktor. »Wir wollen doch hier nicht . . .«

Aber Estella ließ sich den Mund nicht verbieten.

»Nein!« rief sie, »ich verlange auf Grund meines Vertrages einfach die Rolle in dem neuen Stück! Lassen Sie in Ihrem Vorstadttheater meinetwegen sonstwen als Helena auftreten. Es gibt genug Schmierenkomödiantinnen, die sich noch um die Ehre reißen. Wie wäre es zum Beispiel mit Agnes? Die ist mir ja angeblich zum Verwechseln ähnlich.« Sie lachte laut auf. »Das wäre ja dann ein vollwertiger Ersatz.«

Für Peter war Estella mit diesem Augenblick erledigt. Frauen, die derart aus der Rolle fielen, ertrug er nicht. Der Direktor vergegenwärtigte sich den Vertragsparagraphen, auf den sich Estella stützte, um sich für den Fall eines Prozesses über die juristische Lage zu orientieren. Der Geheimrat dachte: Wie wird meine Frau bereuen, das versäumt zu haben. Die beiden Brands bedauerten Carl, da sie wußten, daß er tagelang unter dem Eindruck dieser häßlichen Szene stehen und leiden würde. Aber Agnes, die Estella, ohne es zu wissen, an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen hatte, sprang auf:

»Einverstanden!« rief sie. »Ja! Ich spiele die Helena. Ich, die Schmierenkomödiantin nehme den Kampf mit dir, große Künstlerin, auf. Ich spiele! Wie du! So verlogen und so raffiniert! Ich mache denselben großen Schwindel! Vielleicht sogar besser als du, weil ich zehn Jahre jünger und tausendmal hübscher und schlanker und gewandter bin als du. Und mit dem griechischen Tanz, der fortbleiben mußte, weil du zu klobig und zu plump warst – ja! ja! meine Herrschaften, das wußten Sie noch gar nicht! – stech’ ich dich aus! Und dann – weißt du, was dann geschieht? Dann spielen wir abwechselnd, einen Abend du, den anderen ich. Und der Teufel soll mich holen, wenn das Theater an meinen Abenden nicht voller ist als an deinen. Und nachher, dann werden an deinen Abenden die Preise ermäßigt; du verstehst? weil sonst nämlich keine Katze mehr hineingeht. Und am Ende da wirst du noch froh sein, wenn du durch mich als Schmierenkomödiantin in Kyritz oder Treuenbrietzen oder in einem Armenviertel unterkommst.«

Eine Pause entstand. Alle waren starr. Nur Peter grinste, schob den Kneifer gerade und sagte:

»So’n Klamauk!«

Estella fühlte sich einer Ohnmacht nahe und schloß die Augen.

Nach einer Weile fuhr Peter fort:

»Also, das is nu mal Tatsache: von allen Weibern sind die von der Bühne die verrücktesten! – Ich verstehe nicht, wie ein Mann das aushält.«

Diese Sachlichkeit wirkte beruhigend und nahm die Angst, die auf allen lag.

Nur Carl ergriff Partei und sagte:

»So reg dich doch nicht auf, Agnes! Das läßt sich ja alles in Ruhe erledigen.«

»Ich will das jetzt erledigt haben!« sagte sie. »Hört endlich mit dem Versteckspiel auf! Kommt die Wedelly – ja oder nein? Mir ist’s gleich! Nur wissen will ich’s!«

»Sie kommt!« sagte der Direktor.

»Ha!« rief Estella; ein Schreck traf den anderen – und die Ohnmacht ging vorüber.

»Gut!« fuhr Agnes fort, »ist Estella trotzdem verpflichtet, die Helena am Stadttheater zu spielen?«

Der Direktor, dem die juristische Situation inzwischen klar geworden war, nickte.

»Gut! Dann bleibt’s also dabei! Ich habe Ihr Wort, Direktor? Ich spiele abwechselnd mit Estella.«

»Ja, das ist doch wohl nicht möglich.«

»Und warum nicht?«

»Diese große Rolle, wo Sie noch nie . . .«

»Ich bin kein Idiot und tät’s nicht, wenn ich nicht wüßte, daß ich’s kann. Ich kenne jede Bewegung, jedes Hilfsmittel, jeden Tonfall. Ich habe Szene für Szene probiert.«

»Mit wem?«

»Fragen Sie den Geheimrat. Der versteht zwar nicht viel davon, aber er ist doch kein Esel; und schlauer als er wird das Publikum im Stadttheater auch nicht sein.«

Der Geheimrat beugte sich verlegen über seinen Teller, der wie die Teller aller anderen unberührt stand.

»Also, Kinder, wahrhaftig, es ist gescheiter, wenn wir die jungen Enten nicht ganz kalt werden lassen,« sagte Peter. »Los, Geheimrat, wir essen!«

Aber dem war gar nicht danach zumute.

»Reden Sie!« drängte ihn Agnes. »Sie haben sich doch sonst vor Begeisterung immer rein umgebracht.«

»Ich muß sagen, nach meinem Laienurteil und nach den Proben, die ich zu sehen bekommen habe – es waren nicht viel . . .«

»Mindestens zehn!« unterbrach ihn Agnes.

». . . steckt in Fräulein Agnes eine große Künstlerin!«

»Na, also!«

»Obschon ich . . .«

»Was denn nun noch?« fragte Agnes.

»Obschon ich glaube,« fuhr der Geheimrat fort, »daß ihre stärkere Begabung auf dem Gebiete der Tanzkunst zu suchen ist.«

»Quatsch!« sagte Agnes. »Das weiß ich besser,« und wandte sich wieder an den Direktor:

»Uebrigens haben Sie denn allein die Besetzung zu bestimmen?«

»Aber nein! Ueberhaupt nicht! Auf Wunsch Brands hat Holten seit dem Tage der Helenapremiere allein die Entscheidung; ich kann nur raten und Vorschläge machen.«

»Nun also!« sagte Agnes und setzte sich erleichtert.

»Dann ist’s ja gut. Dann brauchen wir ja gar nicht weiter darüber zu reden,« und sie nahm Gabel und Messer auf und begann zu essen.

Brand sah Carl an und sagte:

»Ich hoffe, den Wahnsinn wirst du nicht begehen.«

Carl fuhr mit der Hand durch das Haar.

»So antworte ihm doch!« drängte Agnes.

»Nun – ich meine, bis dahin ist’s ja noch lange.«

»Wieso? Es sind kaum drei Wochen,« sagte Brand.

»Ich weiß auch nicht, warum du zögerst,« drängte Agnes »Du bist doch kein Kind und brauchst dich vor Brand doch nicht zu fürchten.«

»Er hat sich sechsundzwanzig Jahre lang nicht vor mir gefürchtet,« sagte Brand.

»Um so besser!« erwiderte sie und legte Messer und Gabel wieder auf den Teller. »Also, Carl! Gib mir die Hand!« Und da er sie nicht gab, so nahm sie sie selbst und hielt sie fest. »Ich will, daß du’s sagst!« Sie fühlte Brands Blick und war um so fester entschlossen, die Entscheidung zu erzwingen.

»Sieh, Kind!« erwiderte Carl, »alles was du willst. Aber, nicht wahr, das siehst du selbst, das geht doch wirklich nicht.«

»Versuch’s!« drängte Agnes und drückte seine Hand.

»Es geht! sage ich. Ich will’s! und ich kann was ich will.«

»Du denkst dir das leichter.«

»Ich denke mir nichts! Ich fühl’s! – Wenn du willst, daß ich bei dir bin, dann tu mir den Willen! Abwechselnd sie und ich! Laß sie beginnen – und falle ich durch, so schadet’s nur mir! Weder dir, noch dem Stück! Dann war’s ein Versuch! – Aber das sage ich nur so, denn ich weiß: ich kann’s! Wenn du das nicht fühlst, dann hast du mich nicht lieb, Carl – dann ist das alles nur so dahingeredet, so ins Blaue hinein – denn sonst wüßtest du’s, wenn ich dir was wär’! Davon hängt jetzt alles ab . . . das weiß ich. Ob du das tust oder nicht.«

»Tu’s nicht!« rief der alte Brand, der sah, wie Agnes ihn zu sich hinüberzog. »Sie hat recht: davon, wie du dich jetzt entscheidest, hängt alles ab!«

»Alles!« wiederholte Agnes, und es war etwas in ihrem Ton, was diesem Worte Sinn und Deutung gab. Er wußte: gab er jetzt nach, so war sie sein, sein auch dem Geiste nach; sagte er nein: so stand sie morgen wieder da, von wo er sie hergeholt hatte. Das war kein Zufall gewesen, sondern Bestimmung. Daran glaubte er.

»Alles!« wiederholte sie jetzt leise, schob sich dicht an ihn heran, berührte sein Bein, zitterte, spreizte die Hand und sagte langsam und bestimmt: »Abwechselnd sie und ich. Sag, daß du es willst!«

Carl sann noch einen Augenblick nach; dann sagte er:

»Ja! ich will’s!«

»Danke!« rief Agnes wie erlöst und sank auf ihren Stuhl zurück.

Der alte Brand klopfte nervös mit den Fingern auf den Tisch und brummte vor sich hin:

»Schmachvoll ist das!«

»Nehmen Sie’s bitte nicht übel,« sagte Estella und stand auf, »aber ich fühle mich nicht wohl. Baron Peter ist so freundlich, an meiner Stelle – also bitte, bleiben Sie! Ich hoffe, daß ich in einer halben Stunde wieder . . .« und sie wankte am Arme des Geheimrats aus dem Zimmer.

Als sie draußen war, sagte der Direktor:

»Ich glaube, wir gehen.«

»I wat!« widersprach Peter. »Das kenn’ ich – das geht vorüber. Es wird noch sehr jemütlich heute abend; passen Sie auf! Nur diese verfluchte Fachsimpelei muß aufhören.

Also wollen wir uns versprechen: kein Wort vom Theater mehr.«

Sie versprachen’s sich und blieben. Nur der alte Brand ging. Als sie im Salon saßen, erzählte Peter von afrikanischen Jagden, der Geheimrat brachte Börsenwitze, Carl sprach von der Mystik des Gebirgslebens, der Direktor klatschte aus Künstlerehen, Werner entwickelte neue Ideen vom ewigen Frieden und Agnes schoß den Vogel ab, indem sie mit feiner Witterung für das, was dem einzelnen das Gepräge gab, Typen aus der Berliner Gesellschaft kopierte.

Schließlich war es Agnes, die mehr aus Neugier hinausging und nach Estella sah.

Estella saß vor ihrem Toilettenspiegel und puderte sich.

»Du! liebste Agnes?« rief sie freudig, als wenn nichts vorgefallen wäre.

Agnes stutzte erst, dann fand sie das gar nicht so dumm und sagte:

»Na also! denn komm, wir amüsieren uns himmlisch bei dir!«

Estella nahm Agnes unter den Arm und ging mit ihr nach vorn. Peter stand auf, und die beiden Frauen setzten sich auf das Sofa; Estella legte ihren Arm um Agnes’ Taille, und der Geheimrat erzählte seinen Witz zu Ende.

»Nu haben wir aber genug davon,« sagte Agnes.

Der Direktor setzte sich an den Flügel und spielte Rienzi.

»Walzer!« rief Agnes, sprang auf und zog Carl, der seit seiner Hochzeit nicht mehr getanzt hatte, in den Saal.

Peter nahm den Teppich auf. Werner reichte Estella den Arm, der Geheimrat setzte sich neben den Flügel, beugte sich nach vorn und beobachtete Agnes.

Als sie sich lange nach Mitternacht verabschiedeten, küßten sie der Reihe nach Estella die Hand und dankten ihr für den genußreichen Abend.

»Und für die Krebse!« ergänzte Agnes.

Estella lächelte, hatte für jeden ein freundliches Wort, küßte Agnes auf die Stirn und beteuerte mehrmals, daß sie es sei, die zu danken habe.

Dann ging sie zu Bett. Die Zofe löschte das Licht und ging den Korridor entlang in ihr Zimmer. Estella zog sich die seidene Decke bis an den Hals hinauf, streckte sich, holte tief Atem und sagte:

»Bagage!«

Danach fühlte sie sich leichter. Aber sie wälzte sich noch lange umher, ehe sie Schlaf fand. —

Carl war nie glücklicher als nach diesem Abend. —

Als der Geheimrat gegen ein Uhr nach Hause kam, drehte sich seine Gattin auf die andere Seite und fragte:

»Nu, Leo, wie war’s?«

Das gerötete Gesicht des Geheimrats strahlte:

»Das war einer der anregendsten Abende in den letzten Jahren.«

Die Tat bewies es.

Lache Bajazzo

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