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Erster Teil
III
ОглавлениеPeter war über Genf hinaus. Im ersten Dämmer fuhr der Zug den See entlang, der noch in tiefem Schlafe lag.
Peter saß abgezehrt und wachsbleich, mit tief in den breitumränderten Höhlen liegenden, matten Augen, stumm, gebeugt und in sich versunken.
Seine Kameraden standen und sahen mit staunenden Augen hinaus.
Nach endloser Fahrt durch Frankreich, hinter verrammelten Fenstern, nach einer nicht endenwollenden Nacht, der letzten als Gefangene in Feindesland, lag nun, ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, schweigend in friedlichem Schlummer der See vor ihnen. Auch die Berge, an denen die letzten Schatten der Nacht hingen, schliefen noch.
Eine feierliche Rührung war über alle gekommen. Ohne daß jemand ein Zeichen gab, waren sie aufgestanden und hatten sich an die Fenster gedrängt. Mit dem scheuen Glanz in den erstaunten Augen von Kindern, die, halbbewußt, zum ersten Male am heiligen Abend zu dem strahlenden Baume emporschauen – also starrten die dem Leben Zurückgegebenen die Landschaft an. Eine Weile lang; dann rissen sie die Mützen von den Köpfen, faßten sich bei den Händen, einer hob den Kopf ein wenig, und aus vierzig Kehlen erscholl leidenschaftlich und bewegt der Gesang:
»Nun danket alle Gott!«
Lautes Schluchzen mischte sich in den Gesang; erst vereinzelt und beherrscht; dann wuchs es an und gab dem Klang der Stimmen eine Rührung, die ohnegleichen war.
Nur Peter saß in sich zusammengesunken auf seinem Platz und rührte sich nicht.
Ein junger Offizier, der gestern noch bleich wie der Tod ausgesehen, jetzt aber vor Freude rote Wangen hatte, trat an ihn heran, legte ihm die schwere Hand auf die Schulter und sagte mit weicher Stimme:
»Reinhart!«
Peter erschrak, fuhr auf und sah ihn an. In seinen Augen lag etwas Wehes, Müdes.
»Sieh dir das an!« sprach ihm der blonde Offizier zu.
»Du bist draußen! in der Schweiz! bist frei!«
Peter nickte teilnahmlos.
»Woran denkst du?« fragte der Blonde.
»An die da!« erwiderte Peter mit zitternder Stimme und wies mit der Hand in die entgegengesetzte Richtung, in der der Zug fuhr.
»Sie werden frei sein wie wir! – Sie werden alle heimbefördert.«
Peter schüttelte den Kopf.
»So reiß dich doch endlich aus den trüben Erinnerungen! Denk nicht immer zurück! Denke vorwärts!«
»Ich kann nicht.«
»Ja, was soll denn aus dir werden?« fragte der Blonde entsetzt.
»Nichts! – Ich möchte zurück.«
»Wohin willst du?«
»Nach Dahomey – zu den Meinen!«
»Reinhart! Mensch! weißt du, was du sprichst?«
»In das Lager von Abomey.«
»Die Deinen sind in der Heimat! Oder hast du deine Mutter und Geschwister vergessen?«
Peter schüttelte den Kopf und sagte:
»Nein! – Aber ich gehöre zu denen da unten.«
»Willst du in die Hölle zurück?«
»Ich muß!«
»Wer zwingt dich?«
»Mein Gewissen. – Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß sie leiden – und ich sitze hier.«
»Denke an dich! und danke Gott, daß du den Bluthunden nicht erlegen bist.«
»Ein andrer wird an meiner Stelle leiden.«
»Rede dich nicht in solchen Wahnsinn hinein! Daß du hier sitzt, bedeutet ein Opfer weniger!«
»Zu spät,« erwiderte Peter.
»Wieso zu spät?« fragte der Blonde.
Peter heb mühsam seine Hände und streckte sie, die Flächen nach außen, vor ihm aus. Sie waren zersetzt.
»Das heilt schnell. Es gibt für dich von nun ab keinen Venére mehr, der dich mit dem Ochsenziemer mißhandelt, und keinen Leutnant Grabiani, der dir Daumenschrauben anlegt und dich von Schwarzen prügeln läßt.«
»Ich fühle nichts mehr« erwiderte Peter und hielt dem
Blonden noch immer die Flächen seiner Hände hin. »So sieht es auch in mir aus.«
Der fühlte mehr, was Peter meinte, als daß er ihn verstand.
»Du bist noch durcheinander. Das findet sich alles wieder. Nur widersetz dich nicht. Du mußt den Willen haben, Reinhart, gesund zu werden.«
Peter sprang auf, packte ihn bei den Armen, führte sein Gesicht dicht an seines, sah ihm fest in die Augen und sagte laut:
»Ich will nicht! Ich lebe nicht! Fühlst du denn nicht, wie sie leiden. Wie die Peitschenhiebe ihnen Fleisch und Seele zersetzen? Ich will zu ihnen! will zurück! will mitleiden! – Wo führt ihr mich hin? Ins Paradies? Unter Menschen? – Ich will zu den Tieren in die Hölle!« —
Ueber den Bergen des Sees färbte sich das graue Blau des Himmels in helles Rot. Auf zerfetztes Gewölk, das wie eine Herde schmutziger Schafe am Himmel klebte, fiel rosafarbenes Licht. Leichte Nebel, die leblos an den Bergen hingen, stiegen auf, verflüchteten sich und verschwanden. Die Strahlen der aufgehenden Sonne bestrichen die Rücken der Berge, die strahlend erwachten, legten sich auf den dunklen See und glitzerten da wie helle Smaragde.
Wieder drängten alle zum Fenster und standen wie vor einem Wunder. Was da glühend hinter den Bergen aufkroch, empfanden sie wie den ersten heißen Gruß der Mutter Erde, der sie dem Gefühle nach jahrelang entrückt, nun zurückgegeben waren. Sie steckten die Arme zum Fenster hinaus, als wollten sie das Glück mit Händen fassen und den Gruß erwidern, der ihre Herzen wie das erste gütige Wort der fernen, langentbehrten Mutter traf.
Noch einmal wandte sich der blonde Husar an Peter, wies ihn auf die Landschaft draußen und sagte:
»Kann dich das nicht heilen?«
Peter starrte hinaus.
»Man soll den Menschen nicht aus seinem Schicksal reißen. Keiner weiß, warum er da ist. Jedes Menschenleben aber hat einen Zweck.«
»Raff dich auf! Erfüll ihn!«
»Er liegt dort!« erwiderte Peter und wies wieder hinter sich. Und dann fügte er mit starker Betonung hinzu: »Nur die Bestie hat ihn nicht.«
»Denk nicht an das Häßliche,« redete der blonde Husar auf ihn ein und wies auf die Sonne, die jetzt voll am Himmel stand. »Sieh das Schöne!«
»Wenn es einen Gott gibt . . .«
»Den gibt es!« beteuerte der sonst nicht gläubige Husar.
» . . und ich stehe vor dem Jüngsten Gericht und Gott fragt mich: ›Warum ließest du sie am Leben?‹ so antworte ich: ›Weil dein Gebot, Herr, lautet: du sollst nicht töten.«
Der blonde Husar faßte teilnahmvoll Peters Hand, die kalt und rauh war.
»An was denkst du?« fragte er Peter in fast bittendem Tone.
Peter erhob laut die Stimme:
»Aber die Bestie!‹ wird der Herr fragen. ›mein Gebot geht auf Menschen. Nicht auf wilde Tiere! Warum ließest du sie leben? wo du doch sahst, wie sie meine Menschen quälten!«
»Wir sind nicht da, um zu richten,« ging der blonde Husar auf Peters Reden ein. »Das steht nur Gott zu.«
»Leutnant Grabiani!« rief Peter im Kommandoton, »Sergeant Castelli! Sergeant Vergnaud! in die Knie! – Venére!!« schrie Peter, daß es dröhnte. »Venére, Tier! hörst du die Stimme des Herrn? Warum hast du Gottes Menschen zu Tode gefoltert? Satansknecht! – Aber nun bin ich da! Gesandt von Gott! Verstehst du, grausames Tier! Weißt du, was das bedeutet?« Er dämpfte die Stimme und lächelte fast beglückt. »Ziehe die Daumenschrauben nur an! Fester! fester!! Schlage mit deinem Ochsenziemer nur auf mich ein. Laß die Schwarzen mich schlagen! Ich fühl’ es nicht! Denn mit mir ist Gott! Du Höllenhund!«
Dann sank er wieder in sich zusammen, schloß die Augen und schlief ein.
Einer der Kameraden, ein Arzt, setzte sich zu ihm.
»Ist er wahnsinnig?« fragte der blonde Husar.
»Das möchte ich nicht unbedingt bejahen,« erwiderte der. »Die gewaltige Reaktion! Bei uns löst sie Glück und Freude aus. Bei ihm das Gegenteil!«
»Er hat auch mehr als wir gelitten,« sagte ein andrer.
»Gewiß! Von denen, die da unten in Gefangenschaft waren, ist wohl keiner geistig ganz intakt geblieben.«
»Er ist noch am Tage, bevor er aus Dahomey fort kam, von Castelli mit dem Ochsenziemer geschlagen und unter Würgen mit Faustschlägen ins Gesicht und auf den Kopf mißhandelt worden.«
»Das liegt doch aber Monate zurück,« sagte der blonde Husar.
»Gewiß,« erwiderte der Arzt, »so weit haben sie ihn für den Austausch in dem Lazarett schon hergerichtet, daß die äußeren Merkmale so ziemlich verschwunden sind. Darin sind sie als Volk, das auf Kultur hält, äußerst gewissenhaft! Aber was sich da innen festgesetzt hat – ob das je verschwindet, ist mir doch zweifelhaft. Zumal bei einem so empfindsamen Menschen wie es Reinhart ist.«
»Die arme Mutter!« klagte der blonde Husar.
»Ist es ihr Einziger?« fragte der Arzt und Kamerad.
»Ihr Einziger und ihr Alles.«
»Hoffen wir, daß er in anderer Umgebung und sachgemäßer Behandlung gesundet.«
»Als was würden Sie seine Krankheit bezeichnen?« fragte, immer flüsternd, der blonde Husar.
Der Arzt zog die Schultern hoch.
»Dafür gibt es noch keinen Namen. Es ist das Verdienst der Franzosen, die Welt um diese Krankheit bereichert zu haben. Tausende leiden darunter. Man sollte sie ›die französische Krankheit‹ nennen. Das Krankheitssystem ist allemal das gleiche: die verprügelte Seele!«
Der blonde Husar nickte zustimmend mit dem Kopf und sagte:
»Das ist eine treffende Bezeichnung. Gut, daß die meisten Menschen wenig Seele haben und die Behandlung nur körperlich empfinden.«
»Gewiß ist das gut,« stimmte der Arzt bei.
»Gibt es auch unter denen, die aus englischer Gefangenschaft kommen, viele derart Kranke?« fragte der blonde Husar.
»Nein! – Nur hier und da mal ein Fall, genau wie es natürlich auch in Deutschland vereinzelt solche Fälle gibt. – Es gibt eben überall rohe und feige Menschen, die ihr Mütchen an wehrlosen Gefangenen kühlen. Aber der Ruhm, die geistige und seelische Mißhandlung wehrloser Menschen sozusagen von Staats wegen zum System erhoben zu haben, gebührt den Franzosen.«
Obgleich sie leise sprachen und die lauten Stimmen der andern sie übertönten, schien es dem blonden Husaren doch, als ob Peter, der ihm gegenüber saß, ihrer Unterhaltung folgte.
Peter sah sie an, wieder mit jenem wehleidigen Lächeln, schüttelte den Kopf und sagte:
»Nein!«
»Sie glauben es nicht?« fragte der Arzt, nur um etwas zu erwidern.
»Der Mensch und die Bestie!« sagte Peter. »Darin liegt alles! Das Tier in sich überwinden. Den Satan austreiben. Gott ähnlich werden. Darauf kommt alles an.«
»Da hast du völlig recht,« sagte der blonde Husar und war erstaunt über die klare Rede.
»Allein das Bibellesen macht es nicht,« fuhr Peter fort. »In die eignen Tiefen steigen. In seiner Seele lesen, darin Gottes Wort steht: Ueberwinde!«
»Was?« fragte der blonde Husar.
»Das Tier, das in uns allen steckt, überwinden, um Mensch zu werden.«
»Sie haben ganz recht, Reinhart,« sagte der Arzt. »Wenn alle es schon überwunden hätten, wenn es nicht, zurückgedrängt und verborgen, doch noch in uns allen steckte in irgendeiner Form, das Furchtbare, was wir jetzt erleben, wäre unmöglich!«
»Ob der Mensch es überhaupt überwinden kann?« fragte der blonde Husar.
Peter sah ihn groß an und sagte laut und bestimmt:
»Ja! – Komm mit mir zurück, Lux! Lerne es!«
»Wo?« fragte der.
»Unten! In Dahomey! In dem Gefangenenlager! Komm mit mir, Lux!« sagte er bittend.
»Du hast doch nicht etwa im Ernste den Gedanken, in diese Hölle zurückzukehren?«
»Ich muß!«
»Wer treibt dich?«
»Gott!«
»Er hat dich daraus erlöst. Versündige dich nicht! Sei ihm dankbar!«
Peter stand auf und zitternd am ganzen Körper hob er die Hand zum Schwur und gelobte:
»Ich kehre zurück! – Hörst du’s, Venére? Ich komme! Bestie! Quälgeist! Deine Stunde schlägt! Der Mensch kommt, der von Gott ist. Ich schwör’ es euch, ihr Lieben, daß ich komme und euch erlöse oder mit euch leide!«
»Sie haben recht,« sagte der Arzt. »Es ist Ihre Pflicht und die von uns allen, Mittel und Wege zu finden, um diese Unglücklichen zu befreien und ihre Peiniger zur Rechenschaft zu ziehen.«
»Kommen auch Sie mit mir!« rief Peter und sein Auge strahlte. »Helfen auch Sie mit!«
»Gewiß! Aber nicht heut und nicht morgen. Denn, nicht wahr, wir wollen die Armen doch erlösen. Und das muß, soll es gelingen, bedacht und gut bedacht sein. Damit, daß wir mit ihnen leiden, ist ihnen nicht geholfen. Aber Sie haben ganz recht. Es muß etwas geschehen, und zwar schnell.« Peter sah ihn groß an und sagte:
»Nicht jeder darf richten!«
»Gewiß nicht!« gestand ihm der Arzt zu. »Die zuständige Stelle muß nach Vernehmung glaubwürdiger Zeugen, wie Sie einer sind, die Erlösung der Opfer und die Bestrafung der Schuldigen fordern, und wenn es nötig wird, erzwingen.«
»Nein!« widersprach Peter. »Wer Uebel vergelten und gerecht richten will, muß an sich selbst das Uebel erfahren haben. Wie sollte er es sonst verstehen und gerecht sein.«
»Gut! gut!« stimmte der Arzt ihm bei. »Ueber alles das werden wir in Ruhe miteinander reden. Von jetzt an sind wir ja nur noch der Form nach Gefangene und niemand hindert uns mehr, unsere Gedanken auszusprechen. Sie werden sehen, Reinhart, wenn wir erst ein paar Tage weiter sind, dann werden wir ruhiger über alles denken.«
»Nur nicht denken!« drängte Peter. »Der Gedanke hat das Unglück über die Welt gebracht. Der Gedanke hat das Gefühl verdrängt, der erste Gedanke war die Lüge.« Er wandte sich vom Fenster ab, durch das die Sonne schien, führte die Hände vors Gesicht und sagte: »Wenn doch der Tag nicht wäre!«
»Ja, aber Reinhart, wie stellst du dir das denn vor?« Der Arzt gab dem blonden Husaren ein Zeichen, nicht weiter in Peter zu dringen, der ganz deutlich wieder Zeichen starker Erregung zeigte.
»Nichts stelle ich mir vor! Ich will nicht! Die Vorstellung ist die Ursache alles Uebels! Oder seht ihr denn noch immer nicht, was ihr damit angerichtet habt? Dank eurer falschen Vorstellungen und eurer Verstandesarbeit, auf die ihr euch soviel zugute haltet, ist ganz Europa heute ein Blutfetzen. Setzt endlich das Gefühl an die Stelle des Verstandes und ihr werdet morgen den ewigen Frieden haben!«
»Hören Sie, Doktor,« sagte der blonde Husar strahlend, »hören Sie, was Reinhart sagt: Er hat doch ganz recht!« Und in seiner Freude polterte er, ehe der Arzt es hindern konnte, darauflos. »Nicht wahr, Reinhart, du bist gar nicht krank, nur mit den Nerven ein wenig herunter. Gott sei dank! Dich reißen wir wieder hoch!«
Er sah nicht, wie Peters Gesicht sich wieder veränderte.
»Nein!« rief der laut. »Ihr reißt mich nicht wieder hoch. Wohin wollt ihr mich reißen? Etwa mit eurem Verstand gegen mein Gefühl angehen? Ich will nicht. Bin ich euch etwa gefolgt? Freiwillig? Man hat mich herausgerissen! Mit Keulen und Ochsenziemern – genau, wie man mich hineingetrieben hat. Ich wollte bleiben. Ich war durch. Hatte alles vergessen, was ich wußte. Dachte an nichts mehr. Litt nur, litt. Und aus meinem Leid wuchs das Gefühl, die Liebe zu den Menschen. Und ihr wollt mich in die Welt zurücktreiben? Ihr meint es gut, aber ich will nicht! Ich habe eine Mission! eine große! heilige! von der ihr nichts wißt. Die ich fühle! Ich bin weder ein Heiliger, noch ein Narr, noch gar ein Kranker. Ich bin so gesund wie ihr,« sagte er und lächelte wehleidig.
Er zog mit einem festen Ruck die Gardine vor das Fenster. Der Arzt hielt einen Kameraden, der ihn daran hindern wollte, zurück. Er schloß die Augen wieder und lehnte sich zurück, und an seinem schmerzverzerrten Mund erkannte der Arzt, daß er sich wieder in Dahomey, bei den Seinen, fühlte.
Der Zug fuhr durch einen Tunnel. Der Aufsicht führende Schweizer Offizier verkündete:
»Meine Herren! noch fünf Minuten!«
»Was ist in fünf Minuten?« fragte der Arzt.
»Luzern!« erwiderte der Schweizer und schlug hinter sich die Türe zu.
Alles sprang auf. Mit dem Gefühl, daß ein Wunsch, den man jahrelang Tag für Tag, Stunde um Stunde heiß ersehnt hatte, sich nun erfüllen sollte, umfaßte man in Gedanken schnell noch einmal alles, was hinter einem lag und nun plötzlich in endlose Ferne gerückt schien. Als lägen zwischen gestern und heute Jahre, so stark überschattete die Freude alles Vergangene, das nur noch wie ein Bild aus lang vergangener Zeit in der Erinnerung stand.
Empfanden so alle das Wort Luzern als den endgültigen Abschluß eines traurigen Kapitels und den Ausgangspunkt eines neuen Lebens, so war es für Peter nur eine Etappe auf dem Wege zu dem Ziel, das die Vorsehung ihm bestimmt hatte.
Völlig teilnahmlos nahm er seinen kleinen Koffer und schob sich durch den Gang zur Tür. Die vielen Menschen auf dem Bahnsteig sah er kaum. Als ein kräftiges Hurra zu den Wagen emporscholl und die Hunderte von Ausgetauschten körperlich schmerzhaft wie ein elektrischer Schlag traf, der das Blut wieder in Fluß brachte und Körper und Seele wie von einer Lähmung befreite und sie wieder zu vollwertigen Menschen machte – auch da empfand Peter noch immer nichts. Es glitt an ihm ab wie der beliebige Ruf eines Bahnbeamten. Automatisch folgte er den andern, ließ sich von fremden Menschen und früheren Kameraden teilnahmlos die Hände schütteln und bewegte sich mit der Menge in das nahegelegene Hotel du Lac, wo sie nach einem feierlichen Empfange für die Nacht einquartiert wurden.
Als sie dann die geschmückte Hotelhalle betraten und das Lied: »Deutschland, Deutschland über alles!« den Heimkehrenden entgegentönte, da traten selbst den Starknervigen die Tränen in die Augen. In dieser Stunde war Peter unter vielen Hunderten von Menschen der einzige, dessen Gesichtsausdruck unverändert und dessen Lippen geschlossen blieben.
Der rangälteste Offizier sprach patriotische Worte. Peter hörte sie kaum. Und als er zum Schluß nicht mit in das Hoch einstimmte, fiel er einigen neben ihm stehenden Offizieren zum ersten Male unangenehm auf.
Ein aus Deutschland zum Empfang gesandter würdiger Geistlicher trat vor.
»Kameraden!« rief er den Heimkehrenden zu. »Ich war zu einer Zeit, da noch Frieden war, eines Sommers in Norderney. Das Meer spülte die Leiche eines jungen Mannes an den Strand. Es schien ein Engländer zu sein. Die Badegäste standen in einiger Entfernung neugierig und entsetzt um den Toten herum. Da trat eine vornehme Dame an den Toten heran, kniete vor ihm nieder, beugte sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. ›Im Namen der fernen Mutter!‹ sagte sie. – So stehe auch ich hier als Abgesandter eurer fernen Mutter und heiße euch im Namen der heißgeliebten deutschen Mutter Erde willkommen!«
War es Zufall oder göttliche Eingebung, daß der würdige alte Herr jetzt auf Peter zuschritt, obgleich er in ziemlicher Entfernung von ihm stand, ihm die Hand auf den Kopf legte und ihn auf die Stirn küßte?
Ein wohliges Gefühl von Ruhe und Frieden empfand Peter. Unter dem weichen Druck der Hand sank Peter willenlos in die Knie, faltete die Hände und betete laut:
»Unser Vater in dem Himmel. Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe. Auf Erden wie im Himmel. Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.«
Alle falteten die Hände und beteten mit. Und die tiefe Inbrunst seines Gebetes ging wie die Stimme der fernen Mutter in aller Herzen ein.
Und der würdige geistliche Herr, die Hand noch immer auf dem Haupte des knienden Peter, erhob die Stimme und fuhr fort:
»Denn so ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, so wird auch euer himmlischer Vater euch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.«
Dann wandte er sich an seinen Platz zurück und die Feier nahm ihren Fortgang.
Wie eine zusammenstimmende Folge von Akkorden lösten sich in Peter die starren Glaubenssätze. Alles drückend Schwere fiel von ihm ab, und als er eine Stunde später oben in seinem Bett lag, hatte er noch immer das Gefühl, als wenn die weiche Hand des würdigen Herrn auf seinem Haupte ruhte.