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Erster Teil
V

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Die nächsten beiden Tage, die Peter in der Gesellschaft der Dame verbrachte, vergingen schnell. Es wurde nicht viel gesprochen; um so mehr gehandelt. Und die wenigen Stunden, die er dann allein war, saß er meist unter Ausschaltung aller Gedanken auf seinem Balkon oder im Garten. Seine Kameraden sah er nur zu den Mahlzeiten. Oberflächliche Reden, an denen er sich selten beteiligte und die für die meisten andern ausreichende Zerstreuung waren, übten auf ihn keinerlei Wirkung.

Sein wahres Leben, das des Unbewußten, das sich bei ihm vor Tagen noch so stark an die Oberfläche gedrängt hatte, dies durch den Sexualtrieb wieder ins Unterbewußtsein verdrängte Leben, lebte er jetzt nur in seinen Träumen. Da sah er in den Gefangenenlagern Dahomeys wieder, wie seine Kameraden unter Aufsicht und auf Befehl französischer Offiziere von den Schwarzen bespien, getreten und halbtot geprügelt wurden. Zerfetzt sah er sie in die Knie sinken und mit letzter Kraft die Arme ausgebreitet, hörte er sie immer wieder rufen:

»Rette uns, Peter! Komm! hilf uns!«

Aber schnell fand er am nächsten Morgen in die Wirklichkeit zurück. Es war ein Rausch, nicht mehr, an dem weder das Herz, geschweige denn die Seele irgendwelchen Anteil hatten. Herz und Seele waren zerrissen und außerstande, zu lieben. Aber der Rausch betäubte ihn und er fühlte die Schmerzen nicht.

Als er am dritten Morgen in Engelberg erwachte, brachte man ihm ein Telegramm, darin stand, daß seine Mutter tags zuvor von Berlin abgereist sei und im Laufe des Tages eintreffen werde.

Sonderbar! Diese Nachricht wirkte so anders als vor Tagen am Morgen nach seiner Ankunft in Luzern das erste Telegramm seiner Mutter gewirkt hatte. Um den unmittelbar-innerlichen Zusammenhang zu ihr herzustellen, mußte er mühevoll erst allerlei Gedanken verdrängen. Und je mehr er das tat, um so deutlicher fühlte er, daß ihm schwer ums Herz wurde. Die Liebe für seine Mutter saß tief da, wo in nächster Nähe auch das große Leid seine Stätte hatte. Und nun, da er an diesem Gefühl rührte und sich durch seinen äußern Rausch hindurch den Weg zu diesen Tiefen bahnte, fühlte er deutlich auch schon wieder jenes leidenschaftliche Mitleid mit seinen ehemaligen Kameraden sich regen. Er kämpfte dagegen an, und, um sich abzulenken, öffnete er ein Kuvert, das ihm der Diener zugleich mit dem Telegramm gebracht hatte. Es war ein Befehl, der ihn vormittags zehn Uhr zu dem rangältesten Offizier rief. So gleichgültig an sich ihm diese Aufforderung war, so suchte er doch, um seine Gedanken abzulenken, zu erraten, was der Vorgesetzte wohl von ihm wissen wolle. Alle möglichen Einfälle kamen ihm, nur den wahren Grund, den jeder dritte ihm sofort genannt hätte, erriet er nicht.

»Also, Herr Oberleutnant,« empfing ihn der vorgesetzte Offizier sehr dienstmäßig. »Ihr skandalöses Benehmen, verstehen Sie,« und er wiederholte noch einmal und unterstrich es: »Ihr skandalöses Benehmen muß ein Ende haben. Und zwar sofort. Wie Sie da abbrechen, das ist Ihre Sache. Sie scheinen nämlich nicht zu wissen, daß Sie sich und nicht zuletzt diese Dame kompromittieren.«

Peter stand ganz verdutzt.

»Ja . . . das ist doch . . . rein zwischen uns . . . beiden . . .« stammelte er. »Das . . . kann doch höchstens eine Vermutung sein.« – Und er, der sich die Tage über um niemanden gekümmert, kaum jemanden gesehen hatte, begriff gar nicht, daß Fernstehende so aufdringlich und taktlos sein und sich um Dinge kümmern konnten, die sie nichts angingen.

»Das kombiniert man sich einfach,« erwiderte der Oberst. »Wir alle kombinieren uns das! Selbst meine Frau! Man muß sich schämen.«

»Ja, aber warum tut man das?« fragte Peter. »Wen es stört, der braucht es sich doch einfach nicht zu kombinieren, und wem es Freude macht, nun, der nimmt eben keinen Anstoß daran.«

»Es hört auf! Und zwar noch heute! Sieht man Sie noch einmal zusammen, so bestrafe ich Sie.«

»Man wird uns nicht mehr zusammen sehen,« versprach Peter.

»Und Sie werden mit der Dame auch nicht mehr unter vier Augen zusammen sein,« forderte der Oberst.

»Das kann ich Herrn Oberst nicht zusagen.«

»Es handelt sich um keine Zusage, sondern um einen Befehl!«

»Wenn Herr Oberst der Dame das dann vielleicht direkt sagen wollten.«

»Ich? Wieso ich?« erwiderte er verwirrt. »Was habe ich mit Ihren Liebschaften zu tun?«

»Ich dachte, nichts! Aber Herr Oberst haben mich soeben eines Besseren belehrt.«

Der Oberst zitterte jetzt am ganzen Körper.

»Kommt die Da —, die Frau etwa zu Ihnen aufs Zimmer?«

»Darüber bedaure ich Herrn Oberst keine Auskunft geben zu können.«

»Ich verbiete es Ihnen!«

»Ich bin auf die Entschlüsse der Dame ohne Einfluß.«

»Weisen Sie ihr die Tür.«

»Das verbietet mir außer meiner Erziehung in diesem Falle das Gefühl.«

»Sie haben Ihr Gefühl dienstlichen Befehlen unterzuordnen.«

»Ich bedaure, Herr Oberst, aber das vermag ich nicht.«

»Ich werde Sie zwingen.«

»Dazu hat man mich nicht einmal in Dahomey zwingen können.«

»Sie sind hier nicht in Dahomey, sondern stehen vor Ihrem deutschen militärischen Vorgesetzten.«

»Das ist mir inzwischen zum Bewußtsein gekommen.«

Der Oberst, der den Sinn dieser Worte mehr fühlte als verstand, fuhr Peter an und sagte:

»Sie haben drei Tage Stubenarrest wegen Renitenz.«  —

Aber der Gesichtsausdruck Peters, der ein leises Lächeln nicht unterdrücken konnte, machte ihn nachdenklich. – »Ae . . »das heißt . . . ä . . .,Sie werden natürlich umquartiert – und zwar in ein anderes Stockwerk. Sie werden Ihr Zimmer überhaupt nicht mehr betreten.« – Und er schien sehr zufrieden mit dieser Lösung.

»Verzeihung, Herr Oberst,« erwiderte Peter. »Die Neigung der Dame gilt nicht dem Zimmer, sondern der Person. Es dürfte sich daher nicht um die Ausschaltung des Zimmers, sondern um Ausschaltung der Dame handeln.«

»Ich verbiete Ihnen, die Dame von dem Zimmerwechsel in Kenntnis zu setzen! So! Und damit dürfte der Fall erledigt sein.«

Er war es leider nicht! Denn als am Nachmittage desselben Tages Frau Julie von Reinhart in Engelberg ankam und beim Hotelportier, der weder von dem Zimmerwechsel noch von dem Stubenarrest Peters Kenntnis hatte, nach der Zimmernummer ihres Sohnes fragte, wurde ihr die ehemalige Zahl genannt.

»Ja, hat mein Sohn das Telegramm denn nicht bekommen?« fragte sie beängstigt und bewegt, als sie im Fahrstuhl in die zweite Etage fuhr.

»Ich kann es nicht sagen,« erwiderte der Hoteldirektor, der infolge der doppelten Bedienung, in der Frau Julie reiste, an die Stelle des Portiers getreten war.

»Mir lag daran, ihn nicht zu überraschen, weil ich fürchte, daß ihn das zu stark erregen wird. – Ist er gesund? Hat er alle . . .?« Sie stutzte und brachte das Wort ›Glieder‹ nicht über die Lippen.

»Er macht einen durchaus gesunden Eindruck,« erwiderte der Direktor.

Für Frau Julie war das ein großer Augenblick. Auf eine Frage, die sie sich vier Jahre lang Tag für Tag, Stunde um Stunde gestellt hatte, war ihr endlich die erlösende Antwort geworden! Ihr wurde schwarz vor den Augen, die Knie zitterten und sie hielt sich an ihrer Zofe und Johann, dem Diener, fest.

Ein dankbarer Blick Johanns traf den Direktor.

»Die gnädige Frau hat vier Jahre lang nichts von dem jungen Herrn gehört,« sagte er zur Erläuterung. »Denken Sie, er war in Dahomey gefangen; in den Kolonien!«

»Nun, bei den Franzosen hat er es gewiß gut gehabt.«

»Glauben Sie?« fragte Johann.

»Ich bitt’ Sie, ein Kulturvolk wie die Franzosen wird seine Gefangenen doch nicht schlecht behandeln.«

Der Fahrstuhl hielt. Frau Julie hatte sich wieder in der Gewalt.

»Ich möchte doch lieber,« sagte Frau Julie mit geröteten Wangen. »Ich fürchte, er könnte zu sehr erschrecken. – Vielleicht, daß Sie zunächst mal Johann . . . Aber, dann denkt er womöglich, mir sei etwas zugestoßen und Sie sollen ihn vorbereiten.«

»Das wäre denkbar,« stimmte Johann zu. »Aber der Herr Direktor könnte vielleicht sagen, es sei von Luzern aus telephoniert worden, daß die gnädige Frau nach Engelberg unterwegs sei.«

»Das ginge!« meinte Frau Julie und war so erregt, daß sie den Direktor am Arm nahm und ihm mit einer Stimme, die zitterte und bebte, zuflüsterte: »Gehen Sie, gehen Sie zu meinem Sohne! Und dann, wenn er weiß, dann sagen Sie ihm: am Ende ist sie gar schon da! – Aber nur, wenn Sie sehen, daß er ruhig ist. Sonst muß man es ihm allmählich beibringen.«

Der Direktor ging den Flur hinunter. Frau Julie stand und hielt sich mit der einen Hand bei Johann, mit der andern bei ihrer Zofe fest. Jeden Schritt, den er tat, fühlte sie in ihrem Herzen. Jetzt blieb er stehen und wandte sich rechts zur Tür. Frau Julie lehnte sich leicht an Johann an. Der Direktor klopfte und öffnete, in dem Glauben, daß jemand »Herein!« rief, die Tür. Im selben Augenblick schrie eine Frau laut auf und man sah, wie der verdutzte Direktor zurückfuhr.

»Was ist?« rief Frau Julie laut.

Die Tür flog zu und wurde verschlossen.

Der Direktor kam zurück und verkündete verlegen:

»Es tut mir leid, gnädige Frau, aber Ihr Herr Sohn kann nicht empfangen.«

Frau Julie starrte noch immer zur Tür.

»Er . . . er . . . ist . . . doch . . . da?« fragte sie zaghaft.

»Gewiß . . . aber, Verzeihung, er ist nicht allein.«

In diesem Augenblick kam der Oberst, der sich persönlich davon überzeugt hatte, ob Peter auch in dem ihm angewiesenen Zimmer im oberen Stock die ihm zuerkannte Strafe absaß, die Treppe hinunter. Er gab dem Direktor ein Zeichen, daß er ihn zu sprechen wünsche. Der trat an ihn heran.

»Kennen Sie Frau . . .?« flüsterte er ihm zu und nannte einen Namen.

Der Direktor bejahte.

»Wenn die Da—, die Frau nach Herrn Oberleutnant Reinhart fragen sollte, so sagen Sie ihr nicht, daß er seit heute nicht mehr in Zimmer 43, sondern eine Etage höher in 117 untergebracht ist.«

Der Direktor machte nicht grade ein besonders kluges Gesicht.

»War sie etwa schon bei ihm?« fragte der Oberst lebhaft.

»Nein. Aber ich wußte gar nichts von diesem Zimmerwechsel und mir scheint, daß auch die Dame ihn übersehen hat.«

»Wieso? Was soll das heißen?«

»Ich hatte eben den Vorzug, einen Blick in Zimmer Nr. 43 zu werfen.«

»Da wohnt jetzt Rittmeister von Droste.«

»Gewiß. Aber es scheint, daß der Name nicht viel zur Sache tut.«

»Wieso? Was meinen Sie?«

»Die Uniformen der beiden Herren sind einander wohl zu ähnlich.«

»Der eine ist neunter, der andere vierzehnter Dragoner.«

»Dann scheint die Dame sich in der Nummer der Achselklappen geirrt zu haben«

»Inwiefern?«

»Nun, jedenfalls befindet sie sich zurzeit auf Zimmer Nr. 43.«

»Bei Rittmeister von Droste!« rief der Oberst laut und lief mit rotem Kopf den Korridor hinunter.

Der Direktor klärte inzwischen Frau Julie auf, und während sie am Arme Johanns und der Zofe die Treppe hinaufstieg, hörte man, wie der Oberst mit beiden Fäusten an die Tür von Zimmer 43 klopfte und laut rief:

»Herr von Droste! Herr von Droste! schämen Sie sich! Bedenken Sie, was das für einen Skandal gibt! Wo wir doch alles vermeiden sollen, was irgendwie Aufsehen macht.« Gleich darauf öffneten sich die meisten Flurtüren und neugierig äugten die Hotelgäste beiderlei Geschlechts nach dem Zimmer, vor dem mit krebsrotem Gesicht Hände ringend der Oberst stand.

»Da haben wir’s!« sagte er entsetzt, als er die vielen Menschen sah. Und in das Zimmer hinein rief er: »Wenn Sie wüßten, was Sie angerichtet haben!«

Frau Julie war inzwischen an der Tür ihres Sohnes angelangt. Von den Vorgängen im unteren Stock hatte sie in ihrer Bewegtheit kaum etwas verstanden.

»Soll ich nicht . . .?« fragte Johann.

»Nein! nein!« erwiderte Frau Julie. »Ich bin schon . . .« Und sie klopfte zaghaft an und schloß die Augen, als sie die Stimme ihres Sohnes hörte, der laut »Herein!« rief. Und da sie nicht öffnete, so sagte er es noch einmal.

Frau Julie griff mit zitternder Hand nach der Klinke. Sie versuchte, sie herunterzudrücken. Es gelang ihr nicht. Sie wandte sich an Johann. Der nahm mit Takt ihre Hand herunter und öffnete die Tür.

»Jean!« rief Peter erfreut und sah Frau Julie nicht, die dahinter stand. »Guter, alter Freund!« sagte er und ging auf ihn zu, nahm ihn bei beiden Händen und zog ihn ins Zimmer. Frau Julie war zur Seite getreten. Die Tür blieb offen. »Also Sie leben noch! Sehn Sie mal an! Jünger sind Sie nicht geworden. Aber der brave, alte Jean sind Sie doch geblieben. Innerlich unverändert! Was, Jean? Wir sind einander nicht fremd geworden?«

»Will’s nicht hoffen, Herr Doktor,« erwiderte Johann.

Und draußen stand Frau Julie und lauschte beglückt der Stimme ihres Sohnes, die sie fünf Jahre lang nicht mehr gehört hatte.

»Ja, was bringen Sie? Kommen Sie allein? Haben Sie mir was auszurichten?« fragte er lebhaft.

»Ich bringe Ihnen etwas sehr Wertvolles,« erwiderte Johann und Peter verstand sofort und rief:

»Die Mutter! Wo ist sie?«

Johann wandte sich zur Tür.

»Mutter!« rief Peter laut und innig auf den Flur hinaus. Die stand zitternd an der Wand und sagte ganz leise:

»Mein Junge!«

»Mutter!« rief Peter und stürzte hinaus. »Da! da bist du! – Ja, ja, du bist es! Mütterchen, mein Mütterchen, so komm doch! – So! Ganz fest in meine Arme. Ich bin ja da! – Du! – Bei dir! Mein bestes, gutes Mütterchen! – Wie das wohl tut! So! so! fest schmiege dich an mich. – Und so bleiben wir nun für immer. Ganz dicht beieinander, Mutter! hörst du? Unser ganzes Leben lang.«

»Ja, mein Junge!« erwiderte Frau Julie leise und streichelte ihn mit zitternden Händen. »Das wiegt die ganze Trennung und alle Schmerzen auf. Halte sie nur fest, deine alte Mutter.«

Umschlungen, wie sie gestanden hatten, gingen sie jetzt in Peters Zimmer. Er half Frau Julie in einen tiefen Sessel und setzte sich ihr zu Füßen. Johann ging diskret aus dem Zimmer und schloß die Tür. Peter legte den Kopf in Frau Julies Schoß und sie streichelte ihn mit ihrer weißen, schmalen Hand, lächelte beglückt vor sich hin und flüsterte lautlos:

»Ich habe ihn! Ich habe ihn, Ferdinand! Unsern guten Jungen! Du kannst ganz ruhig sein. Er ist bei mir!«

Und Peter, in dem alles aufgewühlt war, schmiegte sich fest an Frau Julie. Er fühlte sich geborgen. Hatte er doch einen Ort, zu dem er von nun an jederzeit sein Leid tragen konnte.

Draußen stand Johann und wischte sich mit seinem Leinentuch dicke Tränen aus den roten Augen.

Wie Satan starb

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