Читать книгу Schwarzes Schaf - Ascanio Celestini - Страница 5
Eins
ОглавлениеIch bin in den sechziger Jahren geboren.
In den fabelhaften Sechzigern.
Alle wollten in den sechziger Jahren geboren werden, aber leider wurden manche vorher geboren. Und sie schämen sich, in den fünfziger Jahren geboren zu sein, mit den ganzen armen Hungerleidern, die in den Läden nichts zu kaufen hatten und die wir heute noch in ihren Armeleutekleidern durch die Schwarz-Weiß-Filme der Privatsender laufen sehen. Selbst die Reichen hatten damals Sachen an, wie sie sich heute die Emigranten aus Albanien kaufen, die im Schlauchboot nach Italien kommen. Damals hatten alle Angst vor dem Krieg, der gerade erst vorbei war. Damals gab es nur einen im ganzen Haus, der einen Fernseher hatte, und alle waren ständig bei ihm und verpesteten ihm die gute Stube mit ihrem Neid.
Alle wollten in den sechziger Jahren geboren werden, aber manche haben es nicht rechtzeitig geschafft und wurden später geboren, und sie fuchst es heute noch, zu spät gekommen zu sein. Sie wurden in den bleiernen Jahren geboren, wo die Leute auf der Straße starben wie mitten im Krieg.
Nur in den sechziger Jahren war der Krieg weit genug weg, dass niemand an ihn dachte.
Alle wollten in den sechziger Jahren geboren werden, aber man kann im Leben alles ändern, außer dem Geburtsdatum.
In den fünfziger Jahren taten die Leute nichts Spannendes.
Das einzig Gute an den fünfziger Jahren war die Gewissheit, dass bald die sechziger Jahre anfangen würden.
Dann kam das Jahr 1959 und alle bissen noch ein paar Tage die Zähne zusammen, denn es fehlte nicht mehr viel bis zum Ende dieser faden Jahre. Im Sommer 1959 fuhren die Leute nicht mal ans Meer. Sie schämten sich für die ollen, albernen Badesachen, die sie anhatten. Und wer doch ans Meer fuhr, badete im Meerwasser, das nach nichts schmeckte. Es schmeckte nicht nach Salz, es hatte einfach nicht diesen Geschmack, den das Meer in den sechziger Jahren haben würde. Es war ein schales Wasser, fade wie die gesamten fünfziger Jahre.
An Weihnachten 1959 waren die Menschen ganz high, so neugierig waren sie auf die fabelhaften Sechziger, die bald anfangen würden, und sie vergaßen darüber sogar das Feiern. Sie kauften keinen Panettone und keinen Pandoro, keinen Sekt und keinen Torrone. Sie gingen früh ins Bett und hatten nicht einmal ihre Krippen aufgebaut. Ein paar hatten einen Stall hingestellt mit etwas Moos, aber von den Figuren waren nur die Heiligen Drei Könige da, denn sie waren auf der Reise und würden zusammen mit dem neuen Jahr ankommen. Die Heiligen Drei Könige der 1959er-Krippe waren schon die Heiligen Drei Könige der sechziger Jahre. Doch das Jesuskind hat niemand dazugelegt. In dem Jahr hatte das Jesuskind keine Lust, geboren zu werden, dafür war es an Weihnachten 1960 so froh, dass es gleich dreimal auf die Welt kam.
Dann kam der 31. Dezember und rund um den Globus warteten die Menschen auf den Beginn der fabelhaften Sechziger. Kaum hatte es Mitternacht geschlagen, hagelte es Wunder über Wunder. Einem Kahlkopf wuchsen echte Hippie-Haare. Alte Frauen mit Dutt und ollen Ciocie an den Füßen hatten plötzlich blonde Marilyn-Monroe-Locken und unter den schwieligen Sohlen wucherten ihnen Pfennigabsätze. Selbst die Mädchen mit dickem Hintern, die sich immer scheu an den Mauern entlanggedrückt hatten, weil sie so einen ausufernden Hintern hatten wie die Hilfsarbeiterinnen auf den Reisfeldern der fünfziger Jahre … selbst die bekamen einen perfekten Hintern, schön verpackt in den Miniröcken der sechziger Jahre. Und an den Beinen hatten sie keine Haare mehr. Nichts, nicht das kleinste Pünktchen von der Rasierklinge zu sehen. Sie hatten glatte, total perfekte Beine.
Am 31. Dezember 1959 warteten alle auf den Beginn der fabelhaften Sechziger.
Alle außer meiner Großmutter.
Meine Großmutter legte sich an dem Abend wie immer um acht ins Bett.
Meine Großmutter hasste die sechziger Jahre. Sie hasste auch die fünfziger und die vierziger Jahre. Sie hatte den Krieg und den Faschismus gehasst, die Deutschen und die Amerikaner. Das Einzige, was sie nicht hasste, waren ihre Hühner.
Meine Großmutter war wie eine alte Frau angezogen, Omakittel und Stinkeatem. Und wenn sie rülpste, rochen ihre Rülpser nicht etwa nach Coca-Cola und Pepsi-Cola. Ihre Rülpser rochen nach frischem Hühnerei. Sie lief immer barfuß herum, sogar im Hühnerhaus. Sie sang nicht die Lieder der sechziger Jahre, sie sprach mit der Henne und die reckte ihren Hals. Meine Großmutter hielt ihr eine Hand unter den Hintern und die Henne ließ das Ei fallen. Meine Großmutter bohrte mit dem langen Nagel von ihrem kleinen Finger ein Loch in das Ei und trank es. Sie sagte »das ist frisch, das Ei. Es riecht noch nach Hühnerarsch.«
In den sechziger Jahren brachte mich meine Großmutter jeden Morgen zur Schule, aber montags zog sie die festen Strümpfe aus der Apotheke an und ihre Schuhe. Montags brachte sie mich bis zur Klasse. Ich ging in die letzte Reihe und sie ging zur Lehrerin und fragte sie »wie macht er sich denn, unser Kleiner?« Und die Lehrerin antwortete »er macht sich nicht gut, unser Kleiner. Ich habe ihn in die letzte Reihe gesetzt, damit er nicht stört. Ich habe ihn allein gesetzt, denn sonst verdirbt er mir noch die anderen. Er kommt nur zur Schule, um die Bank zu wärmen. Er ist schwach im Rechnen. Er ist schwach in Erdkunde. Er ist schwach im Kopf. Er ist der Schlechteste in der ganzen Klasse. Er ist das schwarze Schaf. Ich glaube, ich werde ihn dieses Jahr nicht versetzen, denn wenn er das Jahr wiederholt, lernt er vielleicht wenigstens irgendwas.« Und meine Großmutter zog ein frisches Ei aus ihrer Schürze, bohrte mit dem langen Nagel von ihrem kleinen Finger ein Loch hinein und reichte es der Frau Lehrerin. Die trank und meine Großmutter sagte »trinken Sie nur, Frau Lehrerin, das ist frisch, das Ei. Es riecht noch nach Hühnerarsch.« Und die Klassenkameraden lachten, weil meine Großmutter wie eine Oma angezogen war. Sie lachten, weil sie Arsch sagte. Auch wenn es nur ein Hühnerarsch war … sie lachten trotzdem.
Am letzten Schultag kam die Lehrerin zu mir in die letzte Reihe und sagte »manche Kinder reifen früher, manche später. Genau wie bei den Äpfeln. Und du bist der faule Apfel, dich kann man auf den Müll schmeißen. Du bist das schwarze Schaf, dir ist nicht zu helfen, du brauchst nicht mal eine Ehrenrunde. Ich werde dich wohl doch versetzen. Sag deiner Großmutter, dass ich dich versetze, sag, sie soll mir Eier bringen.« Und am Tag der Zeugnisse zog meine Großmutter die festen Strümpfe aus der Apotheke an und ihre Schuhe. Wir gingen in die Schule, wir bekamen das Zeugnis und ich war versetzt. Da ging meine Großmutter mit mir zur Lehrerin und bedankte sich und gab ihr Eier, und den anderen Lehrern gab sie auch Eier. Auch dem Pfarrer, der den Katechismus lehrte, und auch dem Turnlehrer und sogar dem Direktor. Sie bohrte ihnen mit dem langen Fingernagel ein Loch hinein und alle tranken. Meine Großmutter zeigte mir diese Lehrer der sechziger Jahre und sagte »die Lehrer sind alles Heilige. Genau wie die Heiligen in der Kirche. Und der Direktor ist der heiligste von allen, er ist der Oberheilige, er ist Jesus Christus.« Ich sagte »nein, das ist doch ein Witz, Großmutter …« Doch der Direktor sah nicht aus wie ein Witz. Er schlürfte sein frisches Ei wie das Abendmahl. Dieses Ei war die Heilige Hostie und er kam mir vor wie Christus, der die Kommunion abhält, Christus, der selbst seinen eigenen Leib verspeist.
Und meine Großmutter sagte »trinkt, ihr Herren Lehrer, das ist frisch, das Ei. Es riecht noch nach Hühnerarsch.«