Читать книгу Schöner Tod - Astrid Keim - Страница 5

1

Оглавление

Laura steht auf dem Balkon und atmet tief ein. Es riecht nach Frühling. Zum ersten Mal in diesem Jahr ist eine Ahnung von aufspringenden Knospen und zwitschernden Vögeln zu spüren. Vor wenigen Tagen erst hat der strenge Frost nachgelassen, der den ­Februar fest im Griff hatte und selbst den ­Schneeglöckchen ihre Lust am Blühen verdarb. Dann sind mit dem Regen mildere Temperaturen gekommen, und heute ist der Himmel fast klar. Sie hatte überlegt, wärmere ­Regionen aufzusuchen, doch das wäre ihre erste Reise ohne Christoph gewesen, und dem fühlt sie sich noch nicht gewachsen. Christoph ist nun etwas über ein Jahr tot und die Verzweiflung der Trauer gewichen. Aber ohne ihn, mit dem sie so viele Reisen, so viele sonnige Tage erlebt hat, wäre sie nicht glücklich gewesen, denn zum Glück braucht man jemanden, mit dem man es teilen kann.

Die Kälte hat sie bisher abgehalten, sein Grab auf dem Hauptfriedhof zu besuchen, aber heute wird das Versäumte nachgeholt, dieser Entschluss stand schon beim Aufstehen fest. Heute wird das Fahrrad aus dem Keller getragen, in dem es fast vier Monate stand, es ist an der Zeit, das zwar ziemlich verrostete, aber heiß geliebte Vehikel ans Tageslicht zu bringen. Sie wirft einen Blick auf das Thermometer: 10 Grad. Da könnte man vielleicht schon zur Übergangsjacke greifen? Nein, besser nicht auf Daunenjacke und gefütterte Stiefel verzichten. In ihrem Alter ist warme Kleidung angesagt, sonst droht womöglich eine Blasenentzündung, wenn nicht Schlimmeres.

Wie war das in ihrer Jugend? Lief sie da nicht auch bei strengster Kälte mit knapper Lederjacke durch die Gegend, die bei jeder Bewegung bloße Haut enthüllte? Auszuschließen ist das nicht, denn die Lederjacke war Pflicht in den frühen Siebzigern, schon um die Eltern zu ärgern, die solch ein Ding mit den schlimmsten Befürchtungen für den Werdegang ihrer Brut verknüpften. Genauso wenig Beifall fand der Minirock, dessen Länge der Breite des Gürtels entsprach. Für so etwas jobbte Laura seit ihrem sechzehnten Lebensjahr wochen­lang in den großen Ferien, da ihre Erzeuger absolut nicht willens waren, Geld für derartigen Firlefanz herauszurücken, der so gar nicht ins konservative Weltbild passen wollte. Auch die Freude über den Fleiß der Tochter hielt sich in Grenzen, da er zu solchen Resultaten führte.

Mit Mühe gelingt es ihr, das Fahrrad die steilen Stufen hochzutragen. Letztes Jahr ging das noch besser, die Gelenke sind auch nicht mehr das, was sie früher mal waren. Es wird Zeit, sich mehr zu bewegen. Vor allem, dass es warm wird, dann geht es hoffentlich wieder bergauf.

Bergauf geht es aber zunächst am Holzhausenpark vorbei zur Eckenheimer. Keine große Steigung, aber sie zieht sich. Das Tor des Alten Portals ist ins Schloss gefallen, darum muss sie absteigen. Das ist Absicht, vermutet sie, um den Radfahrern das Hineinkommen zu erschweren, denn der große Hinweis »Radfahren verboten« wird von vielen ignoriert. Auch von ihr. Sie hat für sich beschlossen, dass damit nur die Mountainbiker gemeint sein können, die sonst querfeldein durch die Gräberreihen pflügen würden. Schritttempo dagegen gefährdet niemand und macht kaum einen Unterschied zum Laufen, erleichtert aber das Vorwärtskommen ungemein. Schließlich sind 65 Jahre kein Pappenstiel. Natürlich ist man noch nicht wirklich alt, Gott bewahre, aber kleine Einschränkungen sind nicht wegzuleugnen.

Sie bleibt vor Christophs Urnengrab stehen, einer Doppelnische in der Mauer, die einst auch ihre Asche aufnehmen wird, und betrachtet sein Foto. Er lächelt sie an, braungebrannt, mit Wind im Haar. Vorletztes Jahr ist das gewesen, aufgenommen von seiner Schwester Maren, als sie zu viert in Südfrankreich waren. Glory Days. Einige von vielen vorangegangenen. Sie ­lernte ihn zehn Jahre nach einer katastrophal ­gescheiterten, früh geschlossenen Ehe kennen. Bei ihrem ersten Mann, einem intellektuellen Überflieger, lagen Genie und Wahnsinn eng beisammen. Lange hatte sie seine Stimmungsschwankungen verharmlost. Als er jedoch eines Morgens erklärte, dass Hegel und Kant ihm im Schlaf offenbart hätten, wie die Welt zu retten sei und er sich fortan ganz dieser Aufgabe widmen wolle, gab es kein Verdrängen mehr. An diese Zeit denkt sie nicht gern. Sie war Referendarin, stand kurz vor dem zweiten juristischen Staatsexamen. Sie konnte nicht mehr schlafen, sie konnte sich nicht mehr konzentrieren, die Prüfung musste um ein Jahr verschoben werden. Erst nach der Trennung fasste sie wieder Tritt.

Mit Christoph dagegen verband sie nicht nur tiefe Zuneigung, sondern eine gemeinsame Verständigungsebene, die Worte und Erklärungen oft unnötig machte. Gleichaltrig und mit ähnlicher Sozialisation, harmonierten sie von Anfang an. Sogar ihre Nach­namen ergänzten sich zum Stabreim: Martens-Mahler. Er war Pädagoge durch und durch, ging seiner Arbeit am ­humanistischen Gymnasium mit Freude und Engagement nach. Die Verabschiedung in den Ruhestand wurde mit einem lachenden und einem weinenden Auge entgegengenommen. Aber der Ausblick auf ein Leben ohne Pflichten überwog, zumal sich auch Laura entschloss, aus dem Berufsleben auszuscheiden; sie war Partnerin in einer großen Kanzlei. Nun wollten sie das Leben genießen, Ausstellungen besuchen, sich ihrem Hobby, dem Kochen, intensiver widmen und natürlich reisen. Hatten sie bis jetzt die meisten ­Ferien in Frankreich verbracht, auch der Sprache wegen, stand jetzt Italien auf dem Programm. Den Spuren der Renaissance wollten sie folgen, Florenz, Venedig, Rom, Padua besuchen, wo diese Epoche in unzähligen Meister­werken präsent ist.

Es hätte so schön werden können, aber das Schicksal machte einen Strich durch die Rechnung. Drei Monate später war er tot. An dem Tag, als Laura offiziell verabschiedet wurde. Als sie abends gegen zehn nach Hause kam, fand sie ihn auf dem Sofa, zur Seite gesunken, das Gesicht friedlich. Der Fernseher lief, ein halb leeres Weinglas stand auf dem Tisch.

Der Boden wankte unter ihren Füßen. Die Ambulanz konnte nichts mehr tun, der Tod war bereits vor einigen Stunden eingetreten. Es wurde eine Obduktion angeordnet, um Fremdverschulden oder Suizid auszuschließen. Ein geplatztes Aneurysma im Gehirn mit massiven Einblutungen war die Ursache gewesen.

Mit diesem Befund konnte Laura nur schwer umgehen. Sie machte sich Vorwürfe, nicht bei ihm gewesen zu sein. Kurz, nachdem sie das Haus verlassen hatte, war der Tod gekommen. Unfassbar, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nie hatte Christoph über ­Beschwerden geklagt. Erleichterung brachte ein ­Gespräch mit dem ­gemeinsamen Hausarzt, der erklärte, dass ein ­Aneurysma keine Symptome verursache und eine Rettung in diesem Fall an ein Wunder gegrenzt hätte. Rückblickend half ihr das zwar, trotzdem ­dauerte es noch Wochen, in denen sie mit dem Schicksal haderte, und ein weiteres halbes Jahr, bis sie wieder nach vorne schauen konnte. Alles ist wieder da beim Anblick von Christophs Bild. Als wäre es gestern geschehen.

Nach seinem unerwarteten Tod hat sie ein Ehrenamt angenommen, um die Leere zu füllen. Als ­Vorleserin in Altenheimen. Damit ist sie ziemlich ausgelastet, denn was zunächst nach nur wenigen Stunden in der Woche ausgesehen hat, nimmt mittlerweile viel Zeit in Anspruch. Schnell ging es nicht mehr nur um das Vorlesen, längst ist sie auch in die persönlichen Situationen der alten Menschen eingebunden, die sich nach Ansprache und Zuwendung sehnen. Laura hat sich dieser Aufgabe gerne angenommen, denn so trifft sie mit Leuten zusammen, die sie sonst niemals kennengelernt hätte, und erfährt Dankbarkeit und Vertrauen.

In Gedanken versunken, setzt sie sich auf eine Bank und legt den Kopf in den Nacken. Die Sonne hat schon etwas Kraft. Ein Eichhörnchen huscht nah vorbei, und im Baum unterhalten sich zwei Amseln. An diesem Ort ist das Sein genauso präsent wie die Vergänglichkeit. Ein inniges Gefühl von Dankbarkeit durchströmt sie und löst die traurigen Erinnerungen ab. Dankbarkeit, dass mit dem Frühling das Leben wiederkehrt und sie dabei sein darf. Sonne auf der Haut und das Zwitschern von Vögeln – das genügt, um glücklich zu sein. Was früher als Selbstverständlichkeit kaum ­wahrgenommen wurde, hat einen anderen Stellenwert erhalten. Das zunehmende Alter trägt dazu bei, und vor allem ­Christophs plötzlicher Tod. In jungen Jahren mochte sie den Herbst mit seinen schönen Farben am liebsten. Das hat sich gründlich geändert. Herbst hat nun mit Abschied zu tun, Frühling dagegen mit Neuanfang. Mittlerweile scheint ihr der Neuanfang nicht mehr so gewiss und wird deshalb umso wertvoller.

Sie beschließt, noch einen kleinen Spaziergang durch den schönen alten Teil des Friedhofs zu machen, in dem die großen Frankfurter Namen versammelt sind. Sie lässt das Fahrrad stehen und schlendert durch die Lebensbaumallee, nimmt dann kleinere Wege und bewegt sich kreuz und quer gemächlich auf den Ausgang zu, immer wieder stehenbleibend, um eine Inschrift zu entziffern oder eine Skulptur zu bewundern. Die wenigen milderen Tage haben den Schneeglöckchen gereicht, um Knospen anzusetzen. Das Leben fängt neu an – und zum ersten Mal seit Christophs Tod kann sie es wieder genießen.

Sie hat nicht auf den Weg geachtet und steht plötzlich vor einem Grabmal, das ihr während ihrer Spazier­gänge bis jetzt entgangen ist. Auf einem Sockel aus Kalkstein liegt die lebensgroße Skulptur einer jungen Frau. Sie ist in ein leichtes Gewand gekleidet, das den Körperformen folgt und auch ihre Füße bedeckt. Der linke Arm liegt angewinkelt auf der Brust. Der Kopf mit dem kunstvoll geflochtenen Haar, in dem drei kleine Blüten stecken, wendet sich dem Betrachter zu. Das schöne Gesicht mit den geschlossenen Augen wirkt lebendig und entrückt zugleich, es könnte auch das Porträt einer Schlafenden sein. Obwohl die Verwitterung deutliche Spuren hinterlassen hat, wirkt das Grab gepflegt. Weder der üppig wachsende Efeu noch Flechten oder Moose überziehen die Liegende.

Der Sockel trägt eine Inschrift. Laura geht in die Knie, um sie zu entziffern, was sich sofort mit einem bohrenden Schmerz und deutlichem Knirschen rächt. Das Todes­jahr 1923 fällt ihr als Erstes ins Auge. Es ­dauert eine Weile, bis der Text Gestalt annimmt, denn die eingemeißelten Buchstaben haben ihre Schärfe verloren. Als die Zusammenhänge klar werden, ist sie zutiefst berührt:

Warum muss sich die Anmut neigen

und gar so rasch im Tod vergehn?

Wird sie in einem höhern Reigen

zum Himmelsglanze neu erstehn,

da sie in diesen Erdenbahnen

das Glück, das ihr bemessen war,

erschöpft in einem seligen Ahnen?

Uns blieb ein Duft von ihrem Haar.

Langsam richtet sich Laura auf. Trotz wärmender Sonnen­strahlen und dicker Jacke überzieht sie eine Gänse­haut. Wieder betrachtet sie das ebenmäßige, ­ruhige Gesicht, dessen Konturen sich bereits zu verwischen beginnen. Nicht mehr lange, und die Züge werden unkenntlich sein. Wie die Tote in ihrem Grab. Fast hundert Jahre sind eine lange Zeit. Der Versuch, die Schönheit zu bewahren, ist zum Scheitern verurteilt.

Vielleicht findet sich auch auf der Rückseite noch eine Inschrift. Nur drei, vier Schritte ist sie gegangen, als sie wie angewurzelt stehen bleibt: Hinter der Tumba liegt im dichten Efeu eine Gestalt, eingehüllt in dünne Plastikfolie, auf der kleine Wasserperlen blitzen. Eine Puppe, versucht sie ihr pochendes Herz zu beruhigen, bereits ahnend, dass es genau das ist, wonach es aussieht: ein toter Körper. Panik steigt in ihr auf, sie schaut sich suchend um, horcht, aber nicht das ­kleinste Geräusch deutet auf die Anwesenheit eines Dritten hin. Ich muss die Polizei alarmieren, meldet sich die Vernunft, aber wie von unsichtbaren Fäden gezogen, nähert sie sich um zwei weitere Schritte. Jetzt ist die Gestalt deutlich zu erkennen, und ihr stockt der Atem. Die Folie bedeckt eine junge Frau, deren weißes Gewand bis zu den Füßen reicht. Das aschblonde Haar ist zum Zopf geflochten und um den Kopf gewunden, die linke Hand ruht auf der Brust. Eine leuchtend rote Rose steckt im Haar, ein aufreizender Kontrast zur Farblosig­keit der übrigen Erscheinung. Um keine Spuren zu zerstören, beugt sie sich so weit wie möglich vor, um die Züge der Toten zu studieren. Das Gesicht ist von verblüffendem Ebenmaß. Lichtbraune Wimpern säumen in perfektem Halbkreis die geschlossenen Augen. Der Mund ist rosig, und ein Hauch von Rosa liegt auch auf den Wangenknochen. Ohne die Blässe des übrigen Gesichts, von Hals und Hand, der wächsernen, unverkennbaren Blässe des Todes, und ohne die beperlte Folie, könnte auch eine Schlafende im Efeu liegen. Eine ganz junge Frau, fast noch ein Mädchen, in der Makellosigkeit ihrer Jugend. Was ist das für ein Mensch, der es übers Herz bringt, diese Vollkommenheit zu zerstören? Nein, nicht zu zerstören, die Zerstörung wird noch kommen – dieses Leben auszulöschen, wie man eine Kerze auslöscht?

Stechende Rückenschmerzen machen ihr bewusst, dass sie wohl mehrere Minuten in der halbgebeugten Stellung verharrt hat. Wieder mahnt die Vernunft, die Polizei zu informieren, aber genau diese Vernunft lässt sie auch zögern. Nur allzu gut weiß sie, was jetzt ­kommen wird. Spurensicherung, Absperrung des Fundorts, Eintreffen des Gerichtsmediziners, des Fotografen. Bestandsaufnahme in aller Routine und Nüchtern­heit. Es erscheint ihr wie ein Sakrileg, die Ruhe dieses Körpers zu stören.

Sie könnte Thomas anrufen, dann müsste sie das Unvermeidliche nicht allein durchstehen. Mit Thomas Aumann verbindet sie eine langjährige Freundschaft. Zuerst war es der Beruf, der sie zusammenführte. Neunzehn Jahre ist es her, als sie ihn im Rahmen eines Prozesses um die Entführung und Ermordung eines Kindes kennenlernte. Er war ein junger Kriminal­kommissar, zumindest kam er ihr so vor, mit gut zehn Jahren Altersunterschied, aber sein akribisches Vorgehen, seine soziale Kompetenz, die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, Mitgefühl zu zeigen, nötigten ihr von Beginn an Achtung ab und führten schließlich zu einer Freundschaft, die auch seine wechselnden Partnerinnen und Christoph einbezog. Ausgerechnet er, der sich eine Familie wünschte, hat in Liebesdingen wenig Glück gehabt. Die längste Beziehung dauerte zwei Jahre, es wollte sich einfach nichts Festeres ergeben, und heute, mit über fünfzig, hat er wohl aufgegeben, darauf zu hoffen.

Ja, es wäre gut, Thomas direkt anzurufen, dann hat sie wenigstens einen Freund an ihrer Seite, wenn der ganze Tross eintrifft. Sie erwischt ihn sofort, als hätte er den Anruf erwartet. Er sei auf dem Weg nach Hause und wollte gerade Jenny Bescheid sagen, dass er früher komme. Heute sei eine der seltenen Gelegenheiten, ein paar Überstunden abzufeiern. Jenny, wer ist Jenny?, fährt ihr durch den Sinn, sie schiebt aber die Neugier beiseite, es gibt jetzt Wichtigeres. Mit etwas schlechtem Gewissen, da sie seine Freizeitplanung zunichte machen wird, berichtet sie von ihrem Fund.

»Ich bin sofort da, alarmiere nur noch die Truppe.«

»Halt«, stoppt sie ihn, bevor er auflegen kann, »die Portale sind zu. Man kann sie natürlich öffnen lassen, aber das dauert eine Weile. Am besten fahrt ihr ein Stück weiter. Kurz vor dem Eingang des Jüdischen Friedhofs ist eine Schranke. Wenn ihr Sprechkontakt aufnehmt, wird sie gehoben.«

»Ist der Fundort weit vom Eingang entfernt?«

»Nein, nur ein paar Schritte vom Alten Portal aus.«

»Dann parken wir dort und kommen zu Fuß rein, so können keine Spuren zerstört werden. Es wäre allerdings gut, wenn du uns hinführen würdest. Warte am Parkplatz auf uns.«

Sie macht sich sofort auf den Weg, denn die Anfahrt wird nicht lange dauern. Das Polizeipräsidium liegt ganz in der Nähe. Thomas ist als Erster da, er war bereits am Auto, als ihn der Anruf erreichte. Als die Kollegen eintreffen, hat sie ihm den Sachverhalt bereits hastig erklärt, und er gibt die Informationen knapp und präzise weiter. Sie lotst die kleine Kolonne in Richtung Neues Portal. Nach ungefähr 100 Metern wendet sie sich nach rechts. Jetzt sind es nur noch ein paar Schritte, und das Grabmal liegt vor ihnen.

Nachdem sich Thomas mit aller Vorsicht einen ersten Überblick verschafft hat, kehrt er zu ihr zurück. Sie steht etwas abseits, um die Spurensicherung nicht zu behindern. Seine Lippen sind ­zusammengekniffen, und die Querfurchen auf der Stirn treten deutlicher als sonst hervor. Er fährt sich mit der Hand über sein immer noch dichtes Haar, in dem das Grau begonnen hat, das dunkle Braun zu verdrängen. »Es ist ­unfassbar, was Menschen bereit sind, anderen Menschen anzutun. Selbsttötung halte ich wegen der Folie für unwahrscheinlich, obwohl man auch diese Möglichkeit genau prüfen wird. Es sieht eher so aus, als sei das Mädchen sorgfältig gebettet und die Kleidung arrangiert worden.« Auch er scheut sich offenbar, von einer Toten oder schlicht der Leiche zu reden, empfindet die Lebendig­keit im Angesicht des Todes.

Thomas legt den Arm um ihre Schultern: »Geh nach Hause, im Moment kannst du nichts tun. Ich informiere die Kollegen über deine Personalien. Sobald die Spurensicherung abgeschlossen ist, wirst du Besuch bekommen, um deine Aussage zu protokollieren.«

»Kannst du das nicht machen?« Laura schaut ihn bittend an.

»Wo bleibt deine Professionalität? Schon vergessen, dass eine neutrale Person wesentlich besser dafür geeignet ist? Natürlich bezweifele ich nicht, dass du auch mir den Sachverhalt genau schildern würdest, aber du weißt, welche Wichtigkeit selbst das kleinste Detail hat. Um das herauszulocken, hat jemand Unbefangenes nun mal wesentlich bessere Chancen als ein langjähriger Freund.«

Laura kommt nicht umhin, zuzustimmen. Doch bevor sie sich auf den Nachhauseweg macht, braucht sie noch eine dringende Auskunft.

»Wann gebt ihr eigentlich die Sache an die Presse?«

»Sobald wir hier fertig sind. Zwecklos, es aufzuschieben. Ich bin ohnehin überrascht, dass offenbar noch niemand von der Sache Wind bekommen hat. Normalerweise ist die Meute schon da, bevor die Spuren­sicherung fertig ist. Du brauchst keine Angst zu haben«, nimmt er ihre Befürchtungen vorweg, »dein Name wird nicht erwähnt. Eine Spaziergängerin hat die Leiche gefunden. Punkt.«

Mit der Bitte, sie auf dem Laufenden zu halten, wendet sie sich zum Gehen. Thomas schaut ihr nach. Er freut sich über das Treffen, auch wenn ihm ein anderer Anlass lieber wäre. Seit Christophs Tod haben sie sich nicht mehr gesehen, auch nicht telefoniert, obwohl er seine Unterstützung angeboten hatte. Als sie sich nicht meldete, nahm er an, dass sie Zeit brauche, um sich zu fangen, und wollte sich nicht aufdrängen. Mehrmals hatte er den Telefonhörer in der Hand, war dann aber doch nicht mutig genug, ihre Nummer zu wählen. Aber in seinen Gedanken war sie oft präsent. Natürlich gab es keinen Grund für sie, sich ausgerechnet an ihn zu wenden, um sich trösten zu lassen. Da gibt es andere, die ihr näher stehen, das muss er zugeben. Aber gewünscht, sie trösten zu dürfen, das hatte er schon.

Schöner Tod

Подняться наверх