Читать книгу Schöner Tod - Astrid Keim - Страница 6
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ОглавлениеDie Uhr bei der Friedhofsgärtnerei zeigt kurz vor drei, als Laura dort vorbeiradelt. Der angekündigte Besuch wird sicher nicht vor fünf erfolgen, Zeit genug also, um einen Abstecher ins Café Wacker im Mittelweg zu machen, eine heimelige Oase, nur einen Steinwurf entfernt von der hektischen Betriebsamkeit des Oederwegs. Genau das, was sie braucht, um ihre Gedanken zu sortieren.
Eine Tasse Kaffee mit aufgeschäumter Milch und ein Stück Himbeertorte ohne Sahne sollten helfen, den Ablauf der Geschehnisse stichpunktartig zu rekapitulieren. Sie leiht sich einen kleinen Bestellblock samt Kugelschreiber und versucht, sich zu konzentrieren.
Die Aussicht auf den Kuchen jedoch bringt eine Ablenkung, denn als Erstes fällt ihr ein, was für ein Privileg es ist, Anfang März in den Genuss von Himbeeren zu kommen. Besonders während der kalten Jahreszeit sehnt sie sich nach diesen Früchten. Das war schon in der Kindheit so. Für sie als Novembergeborene stand die Himbeertorte ganz oben auf der Wunschliste. Früher gab es nur eingemachte oder tiefgefrorene, beide zwar etwas matschig, aber doch mit den Aromen des Sommers. Als dann die ersten frischen im Winter kamen, war das eine Sensation. Um nichts in der Welt möchte sie jetzt darauf verzichten. Eigentlich ist sie Gegnerin des Imports von Lebensmitteln aus weit entfernten Regionen, erstens wegen der katastrophalen Energiebilanz, zweitens aus Bedenken vor zugesetzten Pestiziden. In Bezug auf Himbeeren macht sie allerdings eine Ausnahme. Der Geschmack von frischen schlägt die anderen um Längen, und so fallen sie unter die Amnestie. Genauso wie der Kuchen, welcher den Früchten erst zur Vollkommenheit verhilft.
Als sie bemerkt, wie ihre Gedanken abschweifen, ruft sie sich zur Ordnung. Sie muss sich konzentrieren und den Ablauf rekapitulieren, solange er noch frisch im Gedächtnis ist. Dieses Vorgehen war mit das Erste, was sie bei Zeugenbefragungen lernte. Wenn kein Mikrofon zur Hand war und keine Möglichkeit bestand, Notizen zu machen, war das Gedächtnisprotokoll direkt im Anschluss die einzige Chance, Ergebnisse fehlerfrei zu sichern.
Wie also war der Ablauf? Nachdenklich malt sie kleine Spiralen auf das Blöckchen. Gibt es etwas, das ich vergessen habe? Schritt für Schritt geht sie die Situation durch, vom Entziffern der Inschrift bis zur Entdeckung des leblosen Körpers, und notiert die einzelnen Punkte. Das Gesicht. Sie hat den vagen Eindruck, es irgendwann schon einmal gesehen zu haben. Es will sich jedoch keine Erinnerung einstellen, und der Eindruck verschwindet genauso schnell, wie er gekommen ist. Nein, es gab nichts Auffälliges, nicht den geringsten Hinweis, der weiterhelfen könnte. Doch, drängt es sich ihr plötzlich auf, da gab es etwas: die Rose im Haar. Eine leuchtend rote Rose, voll erblüht, ohne das geringste Anzeichen des Verwelkens. Das korrespondiert mit dem Zustand der Toten. Auch hier keine Spuren von Verwesung, soweit sie es feststellen konnte. Ist das ein Hinweis darauf, dass der Körper erst kürzlich abgelegt wurde, oder hat der strenge Frost beides konserviert? Unwahrscheinlich, zumindest was die Rose betrifft, die wäre nach kurzer Zeit erfroren und braun geworden. Also wird der Körper noch nicht lange dort gelegen haben. Oder sollte es sich um eine künstliche Blume handeln? Sie konzentriert sich auf das Aussehen. Nein, ausgeschlossen, das wäre ihr aufgefallen. Die Rose ist echt. Aber irgendetwas stimmt da nicht. Sie hat das sichere Gefühl, etwas bemerkt zu haben, ohne es in Worte fassen zu können. Aus Erfahrung weiß sie, dass es keinen Sinn macht, darüber nachzugrübeln, es wird ihr wieder einfallen, wenn die Zeit dafür reif ist. Als Gedächtnisstütze schreibt sie in Blockbuchstaben »ROSE« auf den Zettel, macht ein Ausrufezeichen dahinter und unterstreicht das Wort zweimal mit energischen Strichen. Sorgfältig faltet sie das Papier zusammen und verstaut es im Portemonnaie, um sich dem Kuchen zu widmen, der gerade gebracht wird.
Sie ist noch nicht ganz fertig, als Renate eintrifft und sich ohne Umstände am Tisch niederlässt. Renate ist ihre beste Freundin. Sie kennen sich noch aus Studentenzeiten. Auch sie ist eine Liebhaberin der angenehmen Dinge des Lebens, die sich mit zunehmendem Alter zunehmend in Caféhäusern abspielen. Ohne sich verabreden zu müssen, treffen sich die beiden häufig am Nachmittag im Wacker, um ihrer Vorliebe zu frönen und ein Schwätzchen zu halten.
Renate kann sich ihre Zeit frei einteilen. Zwar absolvierte sie ihr Soziologiestudium mit Bravour und setzte noch eine Promotion mit summa cum laude darauf, hat aber nie in diesem Beruf gearbeitet. Ihr Interesse galt zunehmend den Wirtschaftswissenschaften, und auf diesem Gebiet finden ihre kritischen Analysen und Artikel in Fachzeitschriften seit Jahren öffentliche Anerkennung.
Aus einem sehr vermögenden Elternhaus stammend, wurde sie als spät geborenes, sehnlichst erwartetes einziges Kind klaglos und großzügig alimentiert. Außerdem verfügte sie seit dem 21. Lebensjahr durch ein Vermächtnis der Großeltern über eigenes Geld. Unabhängig von pekuniären Zwängen, konnte sie ihr Leben selbst gestalten. Nach dem Tod der Erzeuger bestand die einzige Veränderung darin, sich nun selbst um die Verwaltung des Vermögens kümmern zu müssen, was ihr mit beachtlichem Erfolg gelang. Und es gelang ihr, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben und sich dem Einfluss der Mutter entziehen, die als Charity Lady im Rampenlicht ihre wohltätigen Auftritte gefeiert hatte. Renates Charity-Aktionen bestehen seit Jahren darin, mittellosen Freunden über die Runden zu helfen und sich ehrenamtlich in einer Menge wohltätiger Organisationen zu engagieren. Alf, Künstler und Privatphilosoph, den sie von ihrer Mutter erbte, wird von ihr genauso gesponsert wie eine alte Freundin der Familie, der sie den Verbleib in der vertrauten großen Altbauwohnung ermöglicht, nachdem Anlageberater am Neuen Markt ihr Vermögen verspielten.
Laura war nicht die Einzige, die Renate darum beneidete, dass ihr der harte Konkurrenzkampf um einen Job erspart blieb. Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger war Soziologie das Lieblingsfach der intellektuellen Avantgarde und der Andrang auf die wenigen Stellen entsprechend groß. Die Professoren Adorno, Marcuse und Horkheimer, leitendes Dreigestirn der Fakultät und Begründer der Kritischen Theorie, genossen hohe Achtung und Verehrung in der progressiven Studentenschaft. Viele wollten in ihre Fußstapfen treten, ohne die beruflichen Aussichten ins Kalkül zu ziehen. So kam es, dass nicht wenige nach dem Examen Taxi fuhren. Was als Übergang gedacht war, wurde manchmal aus Mangel an Alternativen zum festen Job, und so saßen damals einige hoch qualifizierte Akademiker hinter dem Steuer.
Auch Laura liebäugelte zunächst mit dieser Fachrichtung, aber in realistischer Abschätzung der Perspektiven entschied sie sich für die Rechtswissenschaften, sehr zur Befriedigung ihrer Eltern, die meinten, eine Juristin in der Familie könne nicht schaden. Es dauerte eine Weile, bis die Familie begriff, dass auch für sie ein Prozess mit Kosten verbunden sein würde.
Renate heiratete mit 26 ihre Teenagerliebe. Stefan war erst kurz zuvor durch einen Zufall wieder in ihr Leben getreten, und die Hochzeit fand nur zwei Monate danach statt. Laura hatte nie verstanden, was ihr an diesem Mann so gefiel, denn außer gutem Aussehen konnte sie nichts Bemerkenswertes an ihm finden. Ein knappes Jahr später war Renate Witwe. Bei einer gemeinsamen Wanderung mit Freunden durch den herbstlichen Wald glitt ihr Mann auf nassen Blättern aus, rutschte einen Abhang hinunter, fiel auf eine kleine, selten befahrene Straße und wurde von einem Auto überrollt. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus, und seine Eltern gaben ihr die Schuld an dem Unfall. Wegen der Lebensversicherung, die sie ausgezahlt bekam. »Heimtückischer Mord aus Geldgier«, so lautete die Anschuldigung, ein Verfahren jedoch wurde gar nicht erst eröffnet, da mehrere Zeugen das Geschehen beobachtet hatten. Ausgerechnet Geldgier als Mordmotiv, das machte Renate nun wirklich fassungslos. Die Lebensversicherung war bereits lange vor der Heirat abgeschlossen worden und hatte der Altersversorgung dienen sollen. Wie sie Laura einmal anvertraute, wollte sie eigentlich das Geld der Familie überlassen, überlegte es sich aber anders, als sich das Blatt so wendete. Seit damals hat Renate keinen ernsthaften Versuch mehr unternommen, eine neue Partnerschaft einzugehen, obwohl es an Verkupplungsversuchen des Freundeskreises nicht mangelte. Soweit es Laura einschätzen kann, ist Renate mit ihrem Los durchaus zufrieden und empfindet keine Defizite.
»Ich muss dir was erzählen«, fangen beide gleichzeitig an.
»Du zuerst!« Großzügig überlässt Laura ihrer Freundin den Vortritt, die darauf zu brennen scheint, ihre Geschichte loszuwerden. Und tatsächlich handelt es sich um Brennendes, nämlich um einen Klecks Löwensenf. In diesen ist ihr gieriger und nicht ohne Grund ziemlich dicker roter Kater Adorno getreten, als er auf den Tisch sprang und mit einer Pfote im Teller landete. Der Duft des übrig gebliebenen Wurstzipfels verlockte ihn wohl zu diesem Fehltritt, der sich bitter rächte beim Versuch, die Pfote sauber zu lecken. Der scharfe Senf stieg ihm in Nase und Augen, sodass er wie ein geölter Blitz durch die Wohnung raste, heftig niesend, mit tränenden Augen, bis es seiner Herrin gelang, ihn einzufangen und in der Badewanne zu reinigen.
Laura kann sich das genau vorstellen, und beide schütten sich aus vor Lachen.
»Jetzt du«, auffordernd nickt Renate ihr zu, aber Laura schaut auf die Uhr und schüttelt den Kopf.
»Nächstes Mal. Ich bekomme noch Besuch, weiß aber nicht genau, wann. Es ist besser, wenn ich mich aufmache. Wahrscheinlich kann ich dir später auch mehr erzählen.«
Sie hat es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen. Ein Gedanke ist wie aus dem Nichts aufgetaucht, und der hat mit der Rose zu tun. Auf dem Fahrrad sind es nur zwei Minuten bis zu ihrer Wohnung in einem ruhig gelegenen Altbau, die sie mit Christoph vor 15 Jahren gekauft hat. Zum Glück, wie ihr immer wieder bewusst wird, wenn sie hört, welche horrenden Mieten mittlerweile in der Frankfurter Innenstadt verlangt werden. So etwas wäre heute für einen Normalverdiener nicht mehr finanzierbar. Hastig schließt sie auf und deaktiviert die Alarmanlage, die rot blinkend durch das milchige Sicherheitsglas mögliche Einbrecher warnt. Als die Wohnung vor zwei Jahren renoviert wurde, entschlossen sie sich zu dieser Lösung, um das Fenster der alten Tür nicht weiterhin mit Gittern zu verschandeln.
Sie wirft den Mantel über einen Stuhl, streift ungeduldig die Schuhe von den Füßen, um in die bereitstehenden Pantoffeln zu schlüpfen, und geht zu dem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa. Eine Lampe steht dort und außerdem ein kleiner Silberkelch mit weißer Kamelie, umgeben von einem Arrangement aus immergrünen Blättern. Sie hat es von Maren bekommen als Mitbringsel, bald nach Christophs Tod. »Das ist unsterblich und trotzdem echt«, sagte Maren, »ich habe es in München gesehen und dachte, es würde dir gefallen. Die Blumen und das Grün werden gefriergetrocknet und halten dann ewig. Fühl mal, es gibt keinen Unterschied zu lebenden Pflanzen!« Vorsichtig betastete Laura die zarten Blütenblätter und musste ihr recht geben.
Aufmerksam betrachtet Laura nun das Gesteck. Es ist tatsächlich so. Nicht die geringste Spur des Verwelkens nach elf Monaten. Sollte es sich bei der Rose im Haar des Mädchens vielleicht um ein solches Artefakt handeln? Das wäre eine Erklärung für den Erhaltungszustand. Wenn man solche Blumen in München kaufen kann, gibt es sie auch in Frankfurt. Bestimmt aber nicht in vielen Geschäften, das wäre ihr sonst sicher schon aufgefallen. Vielleicht bietet sich hier eine Möglichkeit, auf die Spur des Täters zu stoßen.
Ihr kriminalistischer Eifer ist geweckt. Sie schaltet den Computer ein und tippt »haltbare Rosen« in die Suchmaschine. Sofort werden mehrere Seiten aufgerufen, in denen verschiedene Online-Firmen ihre Produkte anbieten. Ernüchtert muss sie feststellen, dass es so einfach wohl doch nicht geht. Alle haben gefriergetrocknete Blumen in großer Auswahl im Angebot, vor allem rote Rosen scheinen der große Renner zu sein.
Das Klingeln an der Haustür unterbricht ihre Nachforschungen. Über die Sprechanlage erfährt sie, dass der erwartete Besuch eingetroffen ist. Eine nette Stimme, denkt sie und ist erleichtert. Ein bärbeißiger, altgedienter Polizist würde ihr jetzt überhaupt nicht passen. Sie drückt den Summer und nimmt die zierliche kleine Frau in Augenschein, die kurz darauf vor der Tür steht. Laut Ausweis handelt es sich um Iris Kirchner. Der Name passt. Alles an ihr ist filigran. Schwarze, zum klassischen Bob geschnittene Haare umranden ein blasses Gesicht und stehen verblüffend im Gegensatz zu ihren leicht schräg geschnittenen Augen in einem so tiefen Blau, dass es fast ins Violette spielt. Irisaugen. Lauras Großmutter hatte solche Augen; seit ihrem Tod vor 28 Jahren hat sie diesen Farbton nie mehr gesehen. Diese Farbe gefiel ihr als Kind viel besser als das dunkle Braun ihrer eigenen, Erbteil des Vaters, dessen Gene dominierten. Kuhaugen, dachte sie immer, wenn sie sich im Spiegel betrachtete, und konnte ihnen nie etwas abgewinnen. Bis der erste Freund ihre »wunderschönen, sanften Rehaugen« bewunderte. Das half, sich damit abzufinden.
Vielleicht ist ihr die Polizistin wegen dieser Augen auf Anhieb sympathisch, vielleicht ist es aber auch ihr freundliches, dabei energisches Auftreten. Sie kommt jedenfalls ohne Umschweife zur Sache und bittet um detaillierte Schilderung des Auffindens, während sie ein kleines Aufnahmegerät einschaltet. Da Laura den genauen Ablauf bereits rekapituliert hat, kann sie präzise berichten und wird auch nur von wenigen Zwischenfragen unterbrochen.
Iris Kirchner nickt, als der Bericht zu Ende ist. »Sonst ist Ihnen nichts aufgefallen?«
»Doch.« Jetzt kann Laura den Trumpf aus dem Ärmel ziehen und informiert über ihre Vermutung, die Rose sei vermutlich gefriergetrocknet. Zum Beweis stellt sie das kleine Gesteck auf dem Tisch und registriert zufrieden die Überraschung.
»Das ist vielleicht ein Hinweis«, ihr Gegenüber tippt auf die Blüte, »da könnte man ansetzen, wenn sich das bewahrheitet.«
Allerdings muss Laura den aufkommenden Optimismus dämpfen und weist auf ihre eigene Recherche hin.
»Trotzdem, besser als gar nichts ...« Sie fixiert Laura mit ihren erstaunlichen Augen. »Ist Ihnen vielleicht noch mehr aufgefallen?«
Hätte ich doch schon gesagt, denkt Laura leicht eingeschnappt, doch ihr fällt tatsächlich noch etwas ein. »Die Rose passt nicht.«
»Inwiefern?«
»Im Haar der Skulptur ist keine Rose, sondern drei ziemlich unscheinbare Blüten, da bin ich mir ziemlich sicher. Das ist doch merkwürdig. Ansonsten war der Körper nämlich absolut identisch abgelegt und bekleidet. Das kann doch kein Zufall sein, sieht eher nach Kalkül aus. Als wollte der Täter damit einen Hinweis geben.«
»Sollte es sich tatsächlich so verhalten, werden wir der Sache natürlich nachgehen«, verspricht die Polizistin und stoppt den Recorder.»Für heute ist es genug, aber richten Sie sich darauf ein, dass wir Sie möglicherweise noch einmal brauchen.«
Laura nickt. »Jederzeit. Ich bin sehr neugierig, was hinter dieser furchtbaren Sache steckt. Meiner Ansicht nach ist es die Tat eines Psychopathen.«
»Alle Mörder, die aus Kalkül töten, sind Psychopathen, das ist meine Ansicht«, entgegnet die Polizistin entschieden, während Laura sie zur Tür begleitet. »Selbst diejenigen, denen volle Zurechnungsfähigkeit bestätigt wird, haben eine psychische Deformation, sonst könnten sie sich nicht über die Hemmschwelle des Tötens hinwegsetzen.«
Wieder alleine, denkt Laura über die Worte nach. Irgendwie hat Iris Kirchner recht, irgendwie aber auch nicht. Eine Hemmschwelle gibt es gewiss, da braucht man nur ins Tierreich zu schauen. Angehörige derselben Art vermeiden es, sich untereinander zu töten. Selbst bei vehementesten Rangordnungskämpfen ist der Tod des Kontrahenten eher ein unglücklicher Zufall. Sonst würden Hirsche nicht ihre Geweihe verhaken, um ihre Kraft zu messen, sondern versuchen, die scharfen Spitzen dem Gegner in die Flanke zu stoßen. Instinktverhalten nennt man so etwas wohl, das dem Schutz der eigenen Art dient. Da sind offenbar der Menschheit einige Instinkte abhandengekommen. Andererseits können außergewöhnliche Situationen ein anderes Verhalten hervorrufen. Sie erinnert sich an einen Artikel, in dem beschrieben wurde, dass Ratten bei Überbevölkerung und Nahrungsknappheit den eigenen Nachwuchs fressen. Im Gegensatz zu den Tieren ist dem Menschen jedoch Verstand genug gegeben, die Folgen seines Tuns einschätzen zu können. Es muss sich also tatsächlich um einen psychischen Defekt handeln, wenn dieser Mechanismus außer Kraft gesetzt wird. Was wiederum zum Anfang führt: Was bringt jemanden dazu, erst einen Mord zu begehen und dann alles daran zu setzen, um den Anschein zu erwecken, es sei eigentlich nichts passiert? Vielleicht ein Mord aus Eifersucht, nach dem Motto: »Wenn ich dich nicht haben kann, soll es auch kein anderer«, der dann Reue nach sich zog? Das kommt ihr nicht unwahrscheinlich vor, und sie beschließt, mit Thomas darüber zu reden und außerdem spätestens übermorgen nach dem Resultat der Autopsie zu fragen, sollte er sich nicht vorher melden.
Kurz überlegt sie, Renate noch anzurufen, um sie über das Geschehen zu informieren. Doch für heute ist es genug. Lieber ein gemütlicher Fernsehabend, um abzuschalten. Sie zappt durch die Kanäle und bleibt bei einem Komiker, pardon: Comedian hängen, wie man diese Gattung auf Neudeutsch bezeichnet. Leider verplätschert dessen Darbietung seicht im Sande, sodass sie sich mit einem Glas Wein und dem satirischen Wochenrückblick ins Bett zurückzieht, um zu erfahren, was wieder einmal schief gelaufen sei.