Читать книгу Das verschwundene Gold. Der Frankfurter Fettmilch-Aufstand 1612-1616 - Astrid Keim - Страница 6
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ОглавлениеSchräge Streifen der späten Abendsonne fallen durch die Butzenscheiben der Fensterreihe zur Straße hin, genügen jedoch nicht, um den Raum zu erhellen. Auf den gescheuerten, stabilen Holztischen brennen Talgkerzen. Noch ist die Gästeschar überschaubar, das wird sich aber bald ändern, denn der Christophel ist beliebt bei den Handwerkern. Ein Fuhrwerk mit Weinfässern steht vor dem Kellerfenster. Muskelbepackte Schröter rollen Fässer über eine schräge Planke auf die Straße, stecken Hähne in die Spundlöcher und befestigen Schläuche daran. Nun kann der Wein in die Tiefe laufen und die Fässer dort unten füllen. Durch eine Falltür im Boden des Gastraums ist der Hausherr, Theobald Straub, bereits hinuntergestiegen, um alles zu überwachen. Zu seiner Freude trifft Martin Lene allein an, denn ihre Tante kümmert sich um die Versammlung der Zunftmeister im Nebenraum. Auf dieses Glück hatte er nicht zu hoffen gewagt. Jetzt gilt es, die Gunst des Augenblickes zu nutzen, denn lange wird es nicht dauern, bis einer der Wirtsleute zurückkommt.
»Lene.« Er tritt auf das Mädchen zu. »Wie schön, dich zu sehen.« Unter seiner Jacke hat Martin ein Lebkuchen versteckt, den er nun hervorholt und ihr entgegenstreckt. »Für dich. Ich habe ihn selbst gebacken.«
Sie nimmt das Gebäck entgegen, riecht daran und bedankt sich mit geröteten Wangen. »Das ist etwas ganz Besonderes. So was bekomme ich nicht jeden Tag. Warte einen Moment, ich muss dein Geschenk in meine Kammer bringen. Ich darf eigentlich nichts annehmen und die Tante sieht es auch nicht gern, wenn ich mit Jungen rede.«
Martin weicht zurück. Auch sie denkt also, er wäre noch ein Kind. Lene hat seine Betroffenheit bemerkt und lächelt ihm zu. »Schau«, sie deutet auf die zwei besetzten Tische, »mit wem ich sonst zu tun habe. Gegen sie bist du noch ein Junge.«
In der Ecke sitzen vier Männer beim Würfeln, am Tisch vor dem hinteren Fenster lassen sich drei weitere lautstark darüber aus, dass man den Rat davonjagen müsse, der für das ganze Elend verantwortlich sei. Alle haben die Mitte des Lebens bereits überschritten, ihre gefurchten Gesichter, die schütteren Haare und schwieligen Hände erzählen von vielen Jahren harter Arbeit. Martin nickt, sie lächeln sich an. Eilig verlässt Lene den Schankraum. Den Lebkuchen verbirgt sie unter ihrer Schürze.
Durch die geschlossene Tür dringen erregte Stimmen. Es scheint hoch herzugehen, nicht alle sind wohl gleicher Meinung. Er tritt näher heran. Polternd stürzt ein Stuhl um. Ob es wohl der Vater war? Sein Bass übertönt alle. Martin versteht Wortfetzen. »Nicht klein beigeben … handeln … der Rat muss …«
Schnell weicht er zurück, als sich die Tür zur Stube öffnet.
»Junge, das ist aber eine Überraschung. Was führt dich hierher?« Frau Straub streckt ihm freundlich ihre Hand entgegen.
Junge, schon wieder Junge! Ist ihr entgangen, wie groß er ist, welche Position er bereits hat? Liegt es daran, dass Frau Straub und seine Mutter gut befreundet sind? Martin kennt sie, solange er denken kann. Er hatte immer Respekt vor ihr. Kann es sein, dass er für sie auch jetzt noch der kleine Bub ist? Nun, das muss sich ändern. Er sehnt sich nach einer Gelegenheit, das Gegenteil zu beweisen.
Mit seiner tiefsten Stimme beantwortet er die Frage. »Mutter schickt mich. Wir machen uns Sorgen um Vater. Er soll bei der geheimen Versammlung hier dabei sein. Stimmt das?«
Frau Straub ist anzusehen, wie sie mit sich kämpft, etwas preiszugeben. Sie zupft an der Haube, öffnet den Mund, aber ihre Lippen schließen sich wieder. Nach kurzem Räuspern beginnt sie zu sprechen. »Du musst dir keine Gedanken machen, dein Vater ist mit Ehrenmännern zusammen. Gemeinsam wollen sie nach Lösungen suchen.«
»Lösungen für welche Probleme?«
Wieder zögert Frau Straub, mustert Martin nachdenklich. Groß ist er geworden, mit Flaum auf den Wangen und einer Stimme, die einmal der seines Vaters gleichen wird. Nein, hier steht kein Kind mehr vor ihr, sondern ein junger Mann, der nach Antworten sucht. Wie viel soll sie ihm erzählen?
Martin bemerkt ihre Unentschlossenheit. Will sie ihm etwas verschweigen? Das darf er nicht zulassen.
»Ich muss die Wahrheit wissen, wenn Vater Gefahr droht …«
»Gut, ich will ehrlich zu dir sein. Es ist möglich, dass ihm Gefahr droht, aber Gefahr droht uns allen. Schau dich um. Die Zahl der einfachen Leute, die nicht mehr das nötige Auskommen haben, um ihre Familien zu ernähren, steigt ständig. Seit 1609 hat sich der Preis für Weizen und Korn fast verdoppelt. In nur drei Jahren! Die Zunft der Bäcker trifft es besonders hart. Du weißt sicher, dass die Bauern nicht mehr in die Stadt dürfen, dass der Rat den Handel an sich gerissen hat. Er kauft das gesamte Getreide bei Überfluss billig ein, lagert es, verkauft es teuer bei Knappheit und schlägt auch noch hohe Steuern darauf.«
Martin entgeht der neue Ton nicht. Endlich, sie nimmt ihn ernst, zieht ihn ins Vertrauen. Er kommt nicht umhin, sich zu freuen, obwohl sie eigentlich nichts Neues erzählt, denn zu Hause wurde darüber gesprochen, aber er machte sich keine Gedanken darüber. Selbst dann nicht, als der Vater in die Judengasse ging. Er musste das Haus mit zweihundert Gulden beleihen, um den Dachstuhl reparieren zu können. Zweihundert Gulden zu zwölf Prozent! Martin war dabei, als er davon berichtete und erinnert sich noch gut daran, dass die Mutter in Tränen ausbrach. »Nie hätte ich gedacht«, schluchzte sie, »dass es so weit kommen könnte. Als wir vor neunzehn Jahren heirateten, bekamst du das Bürgerrecht und konntest in der Backstube arbeiten, sogar Meister werden. Es ging uns gut, auch nachdem die Kinder auf der Welt waren. Als Vater starb, hinterließ er das Haus schuldenfrei mit einem hübschen Batzen Geld im Sparstrumpf. Und was ist jetzt?«
Als sie das betretene Gesicht ihres Mannes sah, ging sie zu ihm, legte den Kopf an seine Brust. »Du hast keine Schuld daran, das weiß ich. Es ist ein Unglück, und ich bete zu Gott, dass er seine Hand über uns hält.«
Vincenz strich mit der Hand über ihre Wange. »Ja, es ist ein Unglück, aber nur auf Gott zu vertrauen – das wird nicht reichen.«
Es ist nicht zu leugnen, er hatte alles gewusst, aber nicht wahrgenommen, hatte so getan, als ginge ihn alles nichts an. Ganz andere Sachen waren wichtig. Wer getraut sich, nach Sachsenhausen zu schwimmen, wer rennt am schnellsten durch den Hirschgraben, welcher von den Kameraden hat die schönste Schwester? Kindereien, nichts als Kindereien. Ihm wird heiß, kleine Schweißperlen stehen auf der Stirn. Er schaut Frau Straub an, als sähe er sie zum ersten Mal.
Die bemerkt seinen Blick. »Du starrst mich an, als hätte dich der Blitz getroffen. Was ist los?«
»Ja, ein Blitz, so kann man wohl sagen. Redet weiter, ich muss alles wissen.«
»Das Blatt hat sich gewendet«, fährt sie fort, unsicher darüber, was Martin meinte, aber berührt von seiner Ernsthaftigkeit, »ja, es hat sich vieles geändert. An allem muss geknausert werden. An den Kerzen, am Fleisch, an der Kleidung. Früher kam auch bei den kleinen Leuten sonntags ein Braten auf den Tisch, das geschieht – wenn überhaupt – heute nur noch an hohen Festtagen. Die Metzger auf der Schirn wissen ein Lied davon zu singen. Sie haben viele Kunden verloren und müssen sich nach der Decke strecken. Außerdem war die Vertreibung der wohlhabenden Calvinisten aus Flandern und der Hugenotten aus Frankreich ein riesiger Fehler.«
Martin unterbricht. Ein kleines Lächeln gleitet über sein Gesicht. Endlich eine Gelegenheit zu zeigen, dass er nicht gänzlich ahnungslos ist. »Das hat mir der Vater gesagt. Sie ließen sich mit ihren großen Färber-, Seiden- und Schneiderwerkstätten in Hanau nieder.«
»Das erst später. Weil man ihnen verboten hatte, ihre Gottesdienste in der Stadt zu feiern, gingen sie nach Offenbach, das den Isenburgern gehört, und nach Bockenheim, das unter der Herrschaft Hanaus steht. Ganz nach Hanau überzusiedeln, war deshalb nur logisch – zu unserem Nachteil.«
»Wieso Nachteil?«
»Es liegt doch auf der Hand. Mit ihren großen Webstühlen und billigen Arbeitskräften machen sie Massenware. Dort kaufen jetzt die Händler ein. Statt Wettbewerb auszuschalten, ist das Gegenteil passiert, alles ging noch weiter bergab. Unsere Tuchmacher stellen keine Stoffe mehr her, und die Schneider keine Gewänder. Die da draußen sind zu billig. Viele Gesellen und Tagelöhner, sogar Meister sind nun ohne Brot und Arbeit.«
Martin ist rot geworden, nickt. »Bei uns bekommt keiner neue Kleider. Wenn etwas fehlt, holt es die Mutter aus der Judengasse.«
»Ja, da quellen die Lager von Pfändern über, die niemand mehr einlöst. Alles gibt es da um ein Weniges, Bücher, Schmuck, Bilder, Schuhe, Gürtel, Hüte, Pelze. Sogar neue Sachen werden für alt verkauft, wegen der Vorschriften. Die Handwerker gehen leer aus. So manche sind bei Wasser und Brot im Leinwandhaus eingesperrt, weil sie ihre Rechnungen nicht mehr zahlen können.«
»Im Haus der Geduld«, grinst Martin.
»Spotte nicht darüber. Es ist grausam dort. Aber wir hatten von den Juden gesprochen. Ich fürchte, mit ihnen wird es einen bösen Lauf nehmen. Die Stimmung hat sich gegen sie gekehrt. An allem gibt man ihnen jetzt die Schuld, dabei bleibt ihnen doch gar nichts anderes übrig, als vom Geldverleih und Verkauf der Pfänder zu leben. Alles andere ist ihnen ja verboten. Dafür stehen sie unter dem Schutz des Kaisers. Wenn sich das einmal ändert, gnade ihnen Gott!«
Martin antwortet nicht, er scheint in Gedanken versunken. Hat es ihm die Sprache verschlagen? Frau Straub beschließt, ihm Zeit zu geben, geht zur Falltür und erkundigt sich, wie es mit der Weinlieferung steht. Dumpf schallt die Stimme des Gatten herauf, ein paar Minuten dauere es noch. Hinter der geschlossenen Tür ist es ruhiger geworden. Der Zwist scheint verebbt. Sie geht zur Spülrinne und macht sich daran, die Kannen zu reinigen, schaut aus den Augenwinkeln zu Martin.
Der steht da wie erstarrt, schreckliche Gedanken gehen ihm durch den Kopf. Was würde aus seinem Freund Jakob? Droht ihm Gefahr? Über zehn Jahre ist es wohl schon her, dass er ihn kennenlernte. Jakob hatte sich aus der Judengasse geschlichen, um die Stadt zu erkunden und verirrte sich prompt in den engen Gassen. Der Vater nahm das weinende Kind zunächst mit nach Hause, übergab es seiner Frau und schickte einen Boten in die Judengasse, denn der gelbe Kreis auf der Jacke verriet seine Herkunft. Die beiden Knirpse verbrachten heitere Stunden miteinander, bis die Eltern eintrafen und ihren Sohn unter großen Dankesbezeugungen und strengen Ermahnungen mit nach Hause nahmen.
Den Jungen gelang es, den Kontakt aufrecht zu erhalten, und so treffen sie sich noch immer gelegentlich, ohne Wissen der Familien, die den Umgang sicher nicht gern gesehen hätten. Martin beißt die Zähne zusammen, strafft die Schultern und fasst einen Entschluss. Es ist an der Zeit, sich mit den Dingen zu beschäftigen, von denen er gerade hörte. So wie sein Vater, so wie dessen Gefährten. Und so wie Frau Straub, die ihm gerade die Visiten las, auch wenn sie es vielleicht nicht so meinte. Er wendet sich ihr zu.
»Verzeiht, ich war in Gedanken, ich muss mit meinem Vater sprechen.« Frau Straub dreht sich mit einer Kanne in der Hand um. »Nicht jetzt. Warte, bis er zu Hause ist. Wenn du vernünftige Fragen stellst, wirst du Antworten bekommen. Vielleicht.«
»Warum vielleicht?«
»Weil es vielleicht besser ist, wenn du nicht alles weißt. Die Versammlung ist wichtig, um die Zustände zu ändern. Wege müssen gesucht und Entscheidungen getroffen werden. Die meisten Bürger sind der gleichen Meinung, auch mein Ehegemahl und ich. Aber es gibt Spitzel. Sobald der Rat etwas von Plänen erfährt, die sich gegen ihn richten, kann es gefährlich werden. Geh jetzt, kümmere dich um deine Mutter. Richte ihr von mir einen Gruß aus und dass ich sie morgen besuche.«