Читать книгу Der Berg der Kelten. Die Erben des Glaubergs - Astrid Rauner - Страница 8

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Dunaan und Cernos hatten in der Sonnenwendnacht noch einen weiten Weg durch das Dickicht auf sich genommen, um jenseits des Lagers dieser fremden Söldner sicher die Nacht zu verbringen. Rabenkrieger hatte Cernos sie im Nachhinein genannt. Denn diesen Namen hatte Eburatos ihnen verliehen, nachdem er zum ersten Mal sein neues Heer in voller Stärke formiert hatte. Der Fremde, der sie anführte, ließ sich seinen Worten nach von den Söldnern Heimeran nennen, Heimat des Raben. Die Schreie der Schlachtenvögel verfolgten die beiden Flüchtenden so lange, dass Dunaan es schon für ein böses Omen hielt.

Zu Lugus, dem Lichtgott, schickten sie nur ein kärgliches Trankopfer zum Sonnenuntergang – mehr ließen ihre Vorräte nicht zu. Und als die Nichte des Fürsten Dhalaitus am nächsten Morgen erwachte, hielt Cernos ein so hohes Fieber gefangen, dass sie ihn aus seinem Delirium gar nicht mehr erwecken konnte.

Erst Taubheit, dann Resignation, dann war es Panik, die Dunaan überfielen. Hilflos kniete die junge Frau am Schlaflager ihres einzigen Begleiters, der sie in diese Wildnis geführt hatte, fernab aller Wege. Alle ihre Decken, die sie Elaid zu Beginn der Flucht abgenommen hatten, wickelte Dunaan um den Todkranken, bevor sie das Feuer schürte. Doch noch während sie mit zitternden Fingern trockenes Holz zusammenraffte, wusste sie, wie zwecklos all ihre Bemühungen waren. Sie lagerten mitten im Wald. Nach allen Richtungen erblickte die junge Frau nichts außer Bäumen, einen Bachlauf vielleicht, Talhänge und ansteigendes Gelände. Selbst aber, als sie einen felsigen Steilhang erklommen hatte, um in dieser Fremde wenigstens den Ansatz einer Orientierung zu finden, blickte sie nur über ein Meer von Baumkronen, das das hügelige Land bis an den Horizont wie einen Schleier überzog.

Verzweifelt sackte die junge Frau vor einem entwurzelten Baum ins nasse Laub. Sie kämpfte mit aller Gewalt gegen die Tränen, die immer hartnäckiger aus ihren Augen zu drängen versuchten. Schnell aber verlor sie auch diesen Kampf. Es war aussichtslos. So sehr sie sich bemühte, Cernos kam nicht mehr zu Bewusstsein. Der einzige Mann, der sie aus dieser Wildnis nach Hause hätte führen können, würde in wenigen Tagen verstorben sein. Sie trug nichts bei sich, keine Kräuter, keine Tränke. Einen halben Tag hatte sie damit vergeudet, zwischen den mächtigen Buchen und Eichen nach einer Weide zu suchen, aus deren Rinde sie einen entzündungshemmenden Trank hätte bereiten können.

Sie war das einzige Heilmittel, das ihr in den Sinn kam und das die junge Frau sicher hätte identifizieren können. All die anderen Namen von Pflanzen und Pilzen, die die Schamanen zu gebrauchen pflegten, es war so lange her, dass sie selbst davon gesammelt hatte. Mit jedem zweiten Schritt begegnete Dunaan einem Kraut, das in ihrer Erinnerung mit irgendeiner heilsamen Wirkung behaftet war. Doch Heilmittel und Gift lagen so nah beieinander. Auf dem Glauberg oder bei Reisen war immer jemand an ihrer Seite gewesen, der guten Rat wusste.

Und deshalb weinte sie. Sie weinte wie ein Kind, dem sie in ihrer Hilflosigkeit glich, und hasste sich dafür. Was hatte sie sein wollen? Eine Kriegerin? Eine Heerführerin? Bhranags Erbin? Ihr Vater hätte sich in Grund und Boden schämen müssen, wenn er sie so sitzen gesehen hätte! Dunaan spürte nicht mehr, wie sich ihre Fingernägel in das Fleisch ihrer Beine schnitten, so umschlossen, wie sie die angezogenen Knie hielt. Alle Geräusche, die sie umgaben, hatten sich in ein tosendes Rauschen verwandelt, wie Wasserwellen mit jedem Schluchzen aufgewühlt, sodass kein Laut mehr vom anderen zu unterscheiden war.

Den warmen Atem fühlte sie erst, als der Geruch nach Tier betäubend stark in ihre Nase zog. Erschrocken sprang Dunaan auf, stolperte drei Schritte rückwärts, um beinahe über eine Wurzel zu fallen, als sie sich endlich des verirrten Schafes bewusst wurde, das eben noch an ihrem Gesicht gerochen hatte. Zwei Herzschläge lang stand sie nur da, musterte das Tier, das – wie ihr nun erst bewusst wurde – von einigen Artgenossen begleitet wurde, die im Dickicht verteilt von den Kräutern fraßen.

Schafe. Das struppig weiße Fell bedeckte ihre Körper gerade dicht genug, damit die Sonne die weiße Haut nicht verbrannte. Dunaan glaubte einer Fremden gleich mit ansehen zu können, wie ihr Gehirn wieder seine Arbeit aufnahm – und sie endlich begriff, was das Erscheinen der Tiere bedeutete. Sie waren geschoren worden! Geschorene Schafe gehörten einer Herde an, die von Hirten bewacht in die Wälder getrieben wurde.

Auf einmal erstarben jegliche Ängste vor den unbekannten Feinden, die in diesen Wäldern lauerten. Ohne auf ihre eigene Erschöpfung, die Schmerzen in ihren Gliedern Rücksicht zu nehmen, jagte Dunaan durch das Dickicht, den frischen Hufspuren folgend, die sie wenig später auch schon auf einen stark zugewachsenen Hirtenpfad führten. Nun wurden die Stimmen der Tiere immer lauter. Die Erleichterung siegte über alle Eindrücke, die von Dunaan Besitz ergreifen wollten, als endlich die Gestalt eines jungen Mannes zwischen den Büschen erschien – ein drahtiger Halbwüchsiger, mit einem Jagdmesser und einem langen Stock bewaffnet, der jedoch eher dem Treiben der Herde diente. Zwei Hunde, die eben noch übermütig einer Maus hinterhergejagt waren, hoben die Köpfe und begrüßten Dunaan mit einem misstrauischen Knurren.

Erst der Anblick der Hirtenhunde bremste Dunaans Überschwang, der sie nun ebenso schnell mit ihren Sorgen allein ließ. Der junge Mann hatte sich überrascht zu ihr umgedreht. Sie überlegte fieberhaft, wie sie ihm ihre Notlage erklären könnte, ohne dabei sich oder Cernos zu verraten, als plötzlich ein erkennendes Lächeln die Züge des Hirten erhellte und er fragte: „Dunaan? Seid Ihr Dunaan?“


Borigennos hatte in seinem jungen Leben viel ertragen müssen. Die Schmerzen seiner Verletzungen, den Todesrausch einer Schlacht, das alles erschien ihm seit Tagen nicht so schwer zu erdulden wie die Ungewissheit des Wartens. Wenigstens Hahles war endlich an die Seite seiner Gefährten zurückgekehrt. Was auch immer dieses Mädchen, Boriana – oder wie sie sich nannte – ihm eingeflößt hatte, die Kräuter wirkten so gut, dass er selbst jetzt, drei Tage nach seiner Befreiung, noch in einem Zustand aus Schlafen und Wachen vor sich hindämmerte. Borigennos hätte sie am liebsten dafür persönlich zur Rechenschaft gezogen – denn zu allem Überfluss fesselte Hahles’ prekärer Zustand sie noch weiter an ihr notdürftiges Versteck. Jedes Mal aber, wenn er sich allzu sehr darüber aufregen wollte, erinnerte der Fürstenbruder sich daran, dass ihnen womöglich gar keine andere Möglichkeit für eine Befreiung geblieben wäre.

Warum auch immer sie diesen Bengel mit auf eine solche Reise genommen hatten! Kriegerweihe hin oder her, ein so unerfahrener Fährtenführer war mehr Ballast als wirkliche Hilfe. Auch wenn seine Ortskenntnis und der Zufall, dass ausgerechnet Bekannte von ihm in diese undurchsichtigen Machenschaften verwickelt waren, die Suche erleichtert hatten. Das musste Borigennos Hahles zugestehen.

Trotzdem änderte es nichts daran, dass vor allem er sie nun aufhielt. Sie hatten Dunaan gefunden! Sie war so nahe gewesen, zehn, zwanzig Galoppsprünge entfernt und doch wieder schier von den Geistern dieses Landes verschlungen! Der Gedanke machte Borigennos seit Tagen so rasend, dass er kaum einen Moment Ruhe fand und stattdessen immer wieder von seinem Schlaflager, eingezwängt zwischen Kisten, Töpfen und allerlei Gerümpel, aufgesprungen war, um grübelnd auf und ab zu laufen.

„Du machst dir viel zu viele Sorgen, Junge! Es erzürnt die Götter, ihr Vertrauen so sehr in Zweifel zu ziehen. Menschen opfern ihnen, und sie senden ihre Hilfe!“

Borigennos holte tief Atem. Nein, sie erleichterte die Situation nur zum Teil. Aus der Not heraus hatten Halvo, Drabal und Borigennos den fast bewusstlosen Hahles zurück zu der Köhlerfrau und ihrem Gefährten geschafft, die den Fürstenbruder mit ihrer Gastfreundschaft nur so zu überschütten versuchte. Der Umstand, unter einem festen Dach am warmen Feuer lagern zu können, war doch angenehmer, als in der Wildnis dieser riesigen Wälder. Der künftige Heerführer hätte seine Zeit jedoch lieber mit weniger wunderlichem Gesindel verbracht.

Der alten Frau für ihren Teil schien der Besuch willkommene Abwechslung in ihrem Alltag. Ununterbrochen sah Borigennos die Bänder an ihren Armen umherwirbeln, während sie die Männer bewirtete und sich fast mit mütterlicher Rührseligkeit um Hahles kümmerte, sodass es ihm zumindest nach diesen drei Tagen schon deutlich besser erging. Dem Fürstenbruder schien das Mütterchen, das sich Moriadua nannte, jedoch mehr einem jener Druckgeister zu gleichen, die nachts in die Häuser der Menschen schlichen, um sich auf ihren Brustkorb zu setzen und ihnen den Atem zu stehlen. Vielleicht kam es schon Verfolgungswahn gleich, immer wieder jedoch überkam Borigennos die Ahnung, als beobachtete die kauzige alte Frau ihn in einem unbemerkten Moment mit den Augen einer wissenden, viel weniger zerstreuten Person, die wie eine Spinne Gefallen daran gefunden hatte, langsam aber sicher ein Netz zu weben. Und jeden Tag, den Borigennos in diesem Versteck ausharren musste, glaubte er, die Fäden deutlicher zu spüren, die sich um seine Glieder spannten.

„Was die Hirten wissen, verbreitet sich schneller, als die Raben fliegen!“ Borigennos schreckte auf, als er ihre Stimme plötzlich so nah an seinem Ohr hörte. Unbemerkt war die Alte an ihn herangetreten. Nur einen Herzschlag lang schien es, als huschte ein triumphierendes Lächeln über ihre Lippen, bevor sie ihm einen Becher Tee in die Hand drückte und mit einem großen Schritt über Hahles’ Schlaflager zurück zur Kochstelle ging. „Wenn die Hirten sie nicht finden, hat der Wald sie schon zu sich genommen. Dann ist sie zu einem Opfer bestimmt, das wir den Göttern nicht nehmen dürfen!“

Du magst dich mit diesem Glauben abfinden!, hetzte Borigennos in Gedanken, wagte jedoch nicht, es in Worte zu fassen. Eines musste er ihr zugestehen: Ganz ohne Grund hatte sie ihm sogar ihre Hilfe bei der Suche nach Dunaan angeboten. Und auch, wenn es dem Fürstenbruder nicht schmecken mochte, womöglich hatte sie den schnellsten Weg gefunden, Dunaan tatsächlich zu ihnen zu bringen. Obwohl die Köhlerhütte nicht weit vom Bärenhain entfernt lag, hatten doch in den vergangen Tagen keinerlei Krieger, Wanderer, Händler oder andere Menschen aus der Siedlung die schmalen Pfade zu der Behausung gekreuzt. Warum auch? Niemand tauschte Holzkohle im Sommer, da das Wetter mit jedem Tag wärmer wurde. Die einzige Person, der Borigennos und die Köhlerleute seit ihrer Ankunft begegnet waren, war ein wandernder Hirte, der eine große Herde Schafe weit ab von den Siedlungen in die Wälder trieb und mit seinen Tieren tagelang die unberührten Lichtungen und Haine ablief, die nicht wie die Waldränder vom Vieh der nahen Dörfer kahl gefressen waren.

Dieses kurze Treffen hatte Borigennos zu bedenken gegeben, dass er möglicherweise doch häufiger den Kontakt zu solch einfachen Menschen hätte suchen können. Denn, wie auch immer diese Verbindungen zustande kamen, die wandernden Hirten, die Köhler, die Jäger, all diese Bewohner der wilden Länder abseits aller Dörfer, hatten scheinbar eine uralte, verschworene Gemeinschaft gebildet, auf die kein Fürst mehr wirklichen Einfluss nahm. Aus diesem Grund hatte der Hirte gar nicht danach gefragt, wer diese Frau war, die sie alle suchten. Der Fürstenbruder war sich sicher, dass er längst von den Geschichten gehört haben musste, wenn zutraf, was Moriadua über diese Menschen erzählte. Und trotz Borigennos’ anfänglichem Misstrauen gab er zu, dass ihr Plan wirklich gelingen konnte. Nur ließen die Götter sich Zeit.

Borigennos hielt es langsam nicht mehr aus. Obwohl schon Moriaduas Gefährte vor zwei Tagen für Tauschgeschäfte in eine weiter entfernte Siedlung ausgezogen war und somit nicht in der kleinen Hütte übernachtete, blieb durch die Lager der vier unerwarteten Gäste in dem Raum kaum mehr Platz zum Gehen. Drabal hatte dem schon Genüge getan und teilte sich sein Schlaflager mit den Ziegen, deren Pferch nur mit einem Gatter vom Wohnraum getrennt lag. Trotzdem war der Platz im Innenraum so rar, dass der Fürstenbruder an diesem Morgen glaubte, nicht mehr atmen zu können.

Erleichtert flüchtete er sich ins Freie. Der Rauch des immer noch ausglühenden Holzkohlemeilers hing wie schwarzer Nebel über der Lichtung und kratzte dem jungen Mann im Hals. Doch alles erschien ihm besser, als weiter wie ein Tier eingesperrt mit dieser wunderlichen Frau im Haus zu verweilen. Halvo vertrieb sich die Zeit mit vorsichtigen Spähritten, immer bemüht, keinem Bewohner des Bärenhains zu begegnen, die wohl noch immer nach den fremden Männern Ausschau hielten, die beinahe Dunaans erneute Verschleppung vereitelt hätten. Zu gern hätte Borigennos ihn um sein Pferd gebeten, damit er es ihm gleichtun konnte. Zu allem Überfluss jedoch schmerzte die Schwertwunde in seinem Bauch so erbärmlich, dass es ihm zeitweise die Luft raubte.

Aus diesem Grund gelang es Borigennos nur mühsam, seine Gedanken zu klären. Noch war es Vormittag. Sonnenstrahlen griffen durch das rauschende Blätterdach, dass das Laub an den Bäumen wie verzaubert leuchtete. Der Kohlerauch kleidete dieses unwirklich schöne Bild in die Düsternis der Wirklichkeit. Immer wieder schloss Borigennos die Augen, die Hände hinter den Kopf verschränkt, als sammelte er Schwung für einen Schlag gegen einen unsichtbaren Gegner. Uedhor! Uedhor, ich bitte dich, ich flehe dich an! Beschütze Dunaan, deine Erbin, und bring sie zurück zu mir!

„Der Gott des Wassers schützt seine Kinder!“

Borigennos fuhr herum. Wie von selbst krallte sich seine Hand um den Schwertgriff, wollte die Waffe aus der Scheide reißen. Das Sonnenlicht spiegelte sich bereits auf dem blanken Eisen, als er sich selbst bremsen konnte und begriff, dass es nur Moriadua war, die lautlos an ihn herangetreten war und direkt hinter ihm stand.

„Hat man Euch gelehrt, in die Köpfe fremder Menschen zu sehen?“

Die Alte lächelte gewinnbringend. „Manchmal braucht es nicht die Kräfte eines Schamanen dafür. Man sieht es Menschen an, wenn sie beten.“

Borigennos hielt mühsam seine Missbilligung zurück. Die Höflichkeit gebot es, dass er seine Gastgeberin nicht zusammenstauchte, nur weil sie ihm vor ihr eigenes Haus nachgefolgt war. Es änderte nichts daran, dass er lieber alleine geblieben wäre. Aber selbst dem verräterischen Zucken seiner Lippe zum Trotz machte Moriadua keine Anstalten, wieder zu gehen. Stattdessen begann sie: „Warum hast du mich nicht gefragt, woher ich dich kenne?“

„Ihr sagtet doch, Ihr würdet einen Erben des Uedhor erkennen.“

„Natürlich. Aber das hat seinen Grund. So klein bist du gewesen, als ich euch alle verlassen musste.“

„Euch?“ Die rechte Hand des Fürstenerbes verkrampfte sich. Je länger er zuhörte, umso mehr focht Vernunft mit Neugierde, ob er ihre Geschichte tatsächlich wissen wollte. Das Gefühl, sich völlig durchschauen zu lassen, weckte ein kaum zu ertragendes Bedürfnis nach Flucht. Als seine Wissbegierde jedoch die Oberhand gewann, entschied er sich dafür, zu bleiben. Beim Blick in Moriaduas Augen schien ihr Geist auf einmal fern, als sie zu erzählen begann: „Den kleinen Dhalaitus. Ausgerechnet er ist das erste Kind gewesen, dem ich auf die Welt geholfen habe. Und ich hatte solche Angst um ihn, so jung wie ich damals war.“

„Ihr?“ Borigennos wollte nicht glauben, was er hörte. „Ihr lügt doch! Wie solltet Ihr, eine Köhlerin aus den Wäldern der Raino, zur Hebamme meines Bruders werden?“ Seine Geduld fing an, an einer kritischen Schwelle zu schaben. Die Entrüstung, die er wie natürlich über diese Anmaßung empfand, trübte schon bald die Erkenntnis, dass ihre Erzählung gar keine Lüge darstellte. Ganz unberührt sah sie ihn an, die alte Frau. „Ich hatte gehofft, Dhalaitus’ Mutter würde es eines Tages als sinnig erachten, alle Geschichten zu erzählen, die die Sippe des Uedhor umranken. Dabei ist sie zu ihren Lebzeiten so großzügig gewesen. Manchmal hat sie unseren Leuten sehr persönliche Geschenke gemacht.“

„Was heißt, ‚alle‘? Weib, wenn Ihr wollt, dass ich Euch Glauben schenke, solltet Ihr endlich aufhören, Euch mit Euren Rätseln wichtiger zu tun, als Ihr seid!“

Moriadua schüttelte tadelnd den Kopf. „Ihr Kinder, Ihr seid so hitzköpfig in diesem Alter!“ Dann lächelte sie. Und es war dieses Lächeln, das Borigennos’ Beherrschung völlig ins Wanken brachte. Die eine Geste barg ein Versprechen, die Gewissheit, dass der Fürstenbruder schon lange Teil eines Spiels war, über das er jede Kontrolle verloren – ja, sie vielleicht gar nicht besessen hatte. Hilflos wusste er nicht mehr, was er tun sollte, war nur noch darum bemüht, alte Souveränität zu mimen, obgleich er wusste, dass Moriadua längst unter seine Maske blickte.

Was war das, was er in ihren Augen las? Mitleid? Gar Genugtuung? Die Antwort blieb sie ihm schuldig. Die alte Frau hatte sich schon beinahe wieder zum Gehen gewandt, um ihren Rätseln ein letztes hinzuzufügen: „Nein, wie solltest du auch von all dem etwas wissen! Frag deinen Bruder, den großen Dhalaitus, ob die Götter es billigen, wenn man ihr eigenes Blut verstößt, obwohl es reiner ist, als jedes, das ein anderer Mensch hätte zeugen können! Frag ihn danach!“

Damit machte sie kehrt. Das erste, was in Borigennos wieder zum Leben erwachte, war Wut, Wut darüber, wie sie mit ihm umsprang, diese Fremde, die alte, kauzige Frau, die mit ihm spielte, als wäre er irgendein Findelkind, das sie auf den Wegen aufgelesen hatte. „Wartet!“, brüllte er ihr hinterher. Moriadua drehte sich um, als er ihr nachsetzte. Anstatt auf seine Aggressionen einzugehen, wies sie ihn jedoch auf einmal völlig ungerührt an: „Sieh hin!“

Die unerwartete Aufforderung brachte Borigennos aus der Fassung. Verwundert sah er sie zum anderen Ende der Lichtung nicken und ihren Worten nachtragen: „Sieh, und glaube mir endlich, dass die Götter mit den Hirten sind!“

In seiner Fassungslosigkeit wusste der Fürstenbruder nichts anderes, als ihr zu folgen – und erstarrte auf einmal in der Bewegung.

Was ihnen vorauseilte, waren die Schafe. Zu Dutzenden rannten sie blökend auf die Lichtung, bewacht von zwei wolfsgroßen Hunden, die ihrem Herrn den Weg erkundeten. Dieser folgte nur wenig später, ein hagerer junger Mann, der gemeinsam mit einer zweiten Person eine Trage schleppte. Borigennos’ Blick glitt nur flüchtig über den dort bewusstlos Daliegenden, ein ausgezehrter Mann mit früh ergrautem Haar. Sein Blick haftete auf der jungen Frau, die hinter dem Hirten lief. Die Morgensonne offenbarte schonungslos alle Zeichen, die die Strapazen in ihre Züge gebrannt hatten. Gealtert schien sie, viel stärker, als einem Mädchen wie ihr es wiederfahren sollte. Und doch zählte für Borigennos nur eine einzige Tatsache, eine Gewissheit: Es war Dunaan. Dunaan war am Leben. Und sie war hier.

Der Berg der Kelten. Die Erben des Glaubergs

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