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Benita und Benjamin. In der Pubertät hatte ich mich oft gefragt, ob unsere Eltern für uns eine Zukunft als Varietékünstler geplant hatten. Benjamin hatte nie etwas gegen seinen Namen gehabt. Es war für ihn in Ordnung, Ben gerufen zu werden, oder Benni. Mir blieben die Spitznamen Ben-zwei, Benitalein, Die-Schwester-von-Ben.

Ben war ein guter Bruder, einer, den jede Schwester sich wünscht: beschützend, verständnisvoll, loyal. Und – und das war wohl der ausschlaggebende Punkt, ihn für immer lieb zu haben –, er verteidigte mich vor unseren Eltern, als ich mit vierzehn beschloss, mich Bille rufen zu lassen. Ich hatte den Namen Benita bis dahin abgrundtief hassen gelernt.

Unsere Mutter Jette hatte – natürlich – dagegen protestiert. Sie hatte den Namen Benita für mich ausgesucht, und Bastian, unser Vater, hatte sich – bestimmt wieder – herausgehalten. Wie sonst auch wird er sich an seine Zeitung geklammert haben, so dass die Namensgebung wie eine kurzzeitige Funkstörung an ihm vorbeigerauscht war.

Ben und ich saßen in meinem alten Kinderzimmer, das ich weder aus- noch umgeräumt hatte, seitdem ich wieder ins Elternhaus gezogen war, weil mir die Lust dazu fehlte. Oder die Zeit. Oder beides. Ben kauerte lässig mir gegenüber und sah mich mit großen Augen an. Er wartete, dass ich eine kluge Bemerkung machte, auf die er dann eine ebenso kluge Antwort geben würde. Er liebte es, geistreich zu flachsen. Wir beide liebten das Wort, er redete gern, ich las gern. So war ich Literaturwissenschaftlerin geworden und nach dem Carlo-Desaster bei einem Verlag als Lektorin gestrandet. Er dagegen schmiss sein Maschinenbaustudium, ging zur Börse und machte einen Haufen Kohle. Natürlich hätte er meine Schulden mit einem Klacks begleichen können. Mein Bruder schwamm im Geld. Er hatte eine Wohnung in London (mit Freundin), eine in New York (mit Freundin), eine in Hamburg (leider auch mit Freundin, daher konnte ich nicht einfach so bei ihm wohnen, was ich gerne getan hätte). Ich liebte seine Wohnung. Sie war funktional. Kalt, wie eben eine Designerwohnung war, die von einer Designerinnenarchitektin eingerichtet worden war (eine Ex), aber eben mit allem ausgestattet, was das Leben lebenswert machte: einem Whirlpool und der unersetzlichen Espressomaschine, die hervorragenden Latte macchiato machen konnte. Und er hatte meinen Eltern das Haus bezahlt, das sie nach unserer Versetzung auf das Gymnasium erworben und sich dann auch gleich mit dem Kredit verhoben hatten. Wunderbar, wenn man einen Sohn hatte, der gut mit Zahlen konnte. Oder einen Bruder, der einem zur Seite stand, wenn man ihn brauchte. Meine Schulden hätte er jetzt, wo er so etwas wie ein Millionär war, mit links tilgen können, aber ich wollte es nicht. Mein Stolz verbat es mir. Ich wollte es allein schaffen. Wenigstens den Rest, den ich noch zu tilgen hatte, das waren knapp über zwanzigtausend Euro.

„Was ist los, Ben, die zweite?“, fragte er mich, seine Schwester, die, die nach ihm auf die Welt gekommen war, wenn auch nur Minuten später.

Ich lächelte müde. „Hast du jemals darüber nachgedacht, im Varieté aufzutreten?“

Er lachte auf. „Die Börse ist auch ein verrückter Zirkus.“ Er sah auf sein Smartphone und checkte kurz Dax und Dow Jones.

„Eine neue Freundin?“, fragte ich möglichst unschuldig. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass seine Nervosität mit einer neuen Frau zu tun hatte. „Irgendwann wirst du mit deinen Parallelwelten auf die Nase fallen. Irgendwann wird die eine der anderen begegnen, und wie willst du dich dann herausreden?“

Er sah mich lächelnd an. „Gar nicht. Sie wissen voneinander.“

Ich hob die Augenbrauen. „Und sind dir nicht böse?“

„Bille-Maus“, sagte Ben herablassend, und auch wenn ich meinem Bruder von Herzen zugetan war, diese Attitüde machte mich wahnsinnig. „Sie lieben mich. So wie du und Mam.“

„Klasse, dass du mich schon auf eine Stufe mit Mama stellst.“ Ich sah ihm dabei zu, wie er auf die Tastatur seines Gerätes drosch, und wunderte mich, wie er es schaffte, sich nie zu vertippen. „Was ist? Fallen deine Kartoffelpreise?“

„Ich habe in einen Mikrofinanzfond investiert und schaue mir gerade die Zahlen an.“

„Ist das gut?“

Er nickte. „Auf jeden Fall. Es wirft nicht viel ab, aber es ist eine gute Idee, Kleinunternehmer in den Drittweltländern zu unterstützen, und das tue ich hiermit.“

Nachdem er alle Zahlen gecheckt hatte, legte er das Smartphone beiseite und sah mich direkt an. Sein Blick war ernst, und ich wusste, dass er in meinen Gedanken zu lesen versuchte.

„Du steckst wieder in Schwierigkeiten“, stellte er folgerichtig fest.

„So würde ich das nicht nennen“, wand ich mich und wäre am liebsten unter meine Decke gekrochen.

Wir saßen auf meinem Bett, das noch das bequemste Möbelstück im Zimmer war. Schon früher haben wir oft auf unseren Betten gesessen und bis tief in die Nacht über Solschenizyn, Thomas Mann und wie man am schnellsten ein Mädchen rumkriegt, diskutiert. Ich sehnte diese Zeiten zurück. Ben war einfach zu wenig zu Hause, als dass man ihn noch zur Familie gehörig empfand. Er war eher zu einem durchreisenden Zugvogel geworden. Er blieb nicht lange genug, als dass man sich wieder an ihn gewöhnen konnte, und wenn er ging, hinterließ er eine unbestimmte Form von Sehnsucht. Bei mir wie auch bei unserer Mutter.

„Ich habe einen neuen Vorgesetzten, der mir das Leben zur Hölle macht.“ Ich wusste, dass ich übertrieb. Niemand machte mir das Leben zur Hölle außer ich selbst. Ich hätte Damian Winter auch weniger Beachtung schenken können. Ihn wie Weber behandeln können. Aber Weber und Winter waren, abgesehen von den gleichen Initialen, so unterschiedlich wie die Farben Rot und Grün. Es gab noch mehr Unterschiede zwischen den Männern, Weber war nicht sonderlich attraktiv und alt wie Methusalem. Damian Winter führte mir dagegen jeden Tag vor Augen, was es hieß, ein lebendiges Wesen zu sein, das irgendwann einmal Sex gehabt hatte. Ich konnte mich an den Sex mit Carlo nicht mehr erinnern. Aber daran, dass es etwas gab, das einem den Puls hochschnellen ließ, durchaus. Winter ließ meinen Puls hochschnellen.

Ben nickte verständnisvoll. „Du hast dich in ihn verknallt.“

„Ach Quatsch!“, murmelte ich. „Ich hasse Männer.“

Ben bleckte grinsend die Zähne. „Oh ja, so gut sieht er also aus.“

Ich blitzte ihn böse an.

„Du redest von einem Mann, der dir die Knie schlottern lässt. Und? Ist er denn auch an dir interessiert?“

„Du Schwachkopf, ich bin es, die nicht interessiert ist. Schau mich doch an. Ich sehe so durchschnittlich aus, wie man nur aussehen kann.“

Ich versuchte, Esmes Worte vom Vormittag aus dem Kopf zu bekommen. Würde sie mich jetzt hören, wie ich auch bei Ben nach Komplimenten fischte, würde sie mich überhaupt nicht mehr ernst nehmen. Aber ich brauchte diese doppelte Zusicherung – die von Esme und Ben. Ich war so unglaublich bedürftig und musste einfach sicher gehen, dass ich von den zwei Menschen, die ich am meisten liebte, mit allen meinen Fehlern und Unzulänglichkeiten akzeptiert wurde. Nicht nur das: Ich brauchte diese Bestätigung, dass ich trotzdem in Ordnung war.

Ben strahlte mich an. „Du weißt genau, wie hübsch du bist. Du hast Modelmaße, ich muss das ja wissen, ich bin ein Mann.“

„Du bist ein Bruder.“

„Da verwechselst du was“, widersprach er. „Wir sind beide über einen Meter achtzig groß, wir sind schlank, haben tolles braunes Haar.“

„Köterblond“, unterbrach ich ihn.

„In New York heißt die Farbe Melange. Und unsere Augen sind umwerfend. Jedes Mal wenn ein Mädchen sich in mich verliebt, dann wegen meiner sanften, braunen Augen.“

„Ja, du Reh. Und ich heiße Angelina und schleudere meine kaum vorhandenen Brüste ins Gesicht eines jeden Mannes, der sich, erschlagen von so viel Weiblichkeit, in mich verknallt.“

Er sah auf meine Oberweite, die ich, gemessen an Esmes, für kaum wahrnehmbar hielt, und sagte: „Dein Busen ist schön. Mehr würde den Männern Angst machen. Du hast eine natürliche Ausstrahlung. Andere beneiden dich um dein Aussehen.“

Ich starrte ihn an. „Wer?“

Er runzelte die Stirn und dachte nach, bis ihm der Name der Verflossenen wieder einfiel. „Salva.“

„Die aus Italien?“

„Slovenien.“

„Die sah aber doch selber so hübsch aus.“

„Ja, eben, Schönheit erkennt Schönheit.“ Ben zögerte einen Moment und meinte schließlich: „Ich glaube nicht, dass dein Aussehen das Problem ist, oder? Dieser Damian Winter scheint es aber auch nicht wirklich zu sein, wenn du nicht in ihn verliebt bist. Also was ist es dann?“

Das war der Moment, Ben zu beichten. Ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Die Angst, gekündigt zu werden, weil zu erwarten war, dass das Bilderbuchsegment geschlossen und ich als Aushilfe im Unterhaltungsbereich nicht dauerhaft gebraucht würde. Obwohl ich natürlich auch noch andere Aufgaben im Verlag hatte, aber keine bedeutenden. Meine Angst, ewig bei den Eltern wohnen zu bleiben, weil ich mir keine Wohnung in Hamburg leisten konnte, und dann meine Schulden.

„Du hast immer noch welche?“, stieß er verblüfft aus. „Ich dachte, Daddy Bastian hat dir die Schulden bezahlt.“

„Ben, hör mir zu! Du musst mir wirklich noch einen Rest an Ehrgefühl lassen. An Würde, weißt du. Wenn du mir auch noch diese Schulden bezahlst, habe ich ja gar nichts mehr, um …“

„Carlo hinterherzuheulen? Ist mir klar. Verstehen kann ich es aber trotzdem nicht, dass du auf einen hässlichen Kerl mit Neigung zum Doppelkinn und Wurstfingern abgefahren bist.“

„Er hatte keine Wurstfinger“, wehrte ich ab.

„Aha, das Doppelkinn streitest du also nicht ab. Bille, er ist es nicht wert, dass du überhaupt noch einen Gedanken an ihn verschwendest.“

„Das findet Esme auch“, gab ich kleinlaut zu.

„Na, siehst du, habe ich dir doch gesagt. Esme und ich sind fast immer einer Meinung.“

Das wäre mir neu. Esme und Ben konnten sich zu meinem Leidwesen nicht ausstehen. Seitdem Ben Esme so übel angebaggert hatte, dass er mit der verwendeten Energie den Elbe-Seitenkanal allein hätte ausheben können, und Esme ihn hatte abblitzen lassen, sprachen sie nicht mehr miteinander. Ben mied sie, und ich wusste nicht warum. Ebenso wenig blickte ich bei Esme durch. Sie redete nicht darüber, und ich fragte nicht. Ich hatte Angst, das Thema anzusprechen und irgendetwas nicht wieder Gutzumachendes auszulösen, etwas wie einen Erdrutsch. Die Erde bekam man ja nachher auch nicht mehr wieder an die Berghänge gepappt.

„Was hast du gesagt?“, versuchte ich, wieder in die Gegenwart zurückzufinden, als Ben still geworden war. Ich hatte wieder mal nicht zugehört.

„Wenn du wirklich glaubst, dass du gekündigt wirst, solltest du dich rechtzeitig nach einer anderen Stelle umsehen. Du könntest auch als meine Assistentin arbeiten.“

„Ich interessiere mich nicht für Zahlen, Ben, und das weißt du. Ich interessiere mich für Sprache.“

„Warum bloggst du nicht?“

Ich dachte für einen kurzen Moment darüber nach. „Die Idee ist gut, aber wenn ich schon den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen habe, und dann am Abend das gleiche tue, habe ich das Gefühl, meine Arbeit würde nie aufhören. Meine Arbeitstage haben schon zwölf Stunden. Ich würde sehr gerne etwas ganz anderes machen.“

„Was denn?“

Ratlos zuckte ich die Schultern. „Keine Ahnung.“

„Guter Plan“, grinste Ben breit. „Und wenn du meine Unterstützung brauchst, sagst du mir Bescheid, okay?“

Wenn ich jetzt erwartet hätte, er würde sein Scheckheft zücken und mir die restlichen Schulden zahlen, hatte ich mich dieses Mal getäuscht. Ben hatte meine Worte zu meiner Überraschung tatsächlich für bare Münze genommen.

Er nippte an seinem alkoholfreien Bier und lächelte verträumt vor sich hin. Ich war mir sicher, dass er sich wieder einmal verliebt hatte. Und vielleicht würde auch ich mich irgendwann verlieben. Vielleicht sogar bald.

Schwein im Glück

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