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Training der Selbstregulation im Unterricht
ОглавлениеStellen Sie sich die Frage, ob Sie in Ihrem Unterricht und an Ihrer Schule dafür zuständig sind, die Kinder und Jugendlichen in dieser Sache zu unterstützen. Wollen Sie überhaupt eine Klassenführung installieren, die für den Aufbau exekutiver Funktionen förderlich ist? Wollen Sie dazu einen Lernraum einrichten, Material vorbereiten und Zeit einplanen?
Sie müssen dazu «ja» sagen können und «ich will». Es braucht von Ihnen diesen Schritt über den Rubikon, damit Sie beginnen können, konkrete Unterstützung zu planen und anzubieten – und damit eine ganzheitliche Begleitung Ihrer Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zu verantwortungsvollen Mitmenschen zu ermöglichen.
Wir denken, dass wir als Lehrkräfte kaum eine Wahl haben. Bedingt durch gesellschaftliche Veränderungen, kommen zunehmend mehr Kinder und Jugendliche zur Schule, die mit der Emotionssteuerung große Mühe haben und die über geringe Planungsfertigkeit und Reflexionsfähigkeit und nur wenige Handlungsstrategien verfügen. Das hat viel damit zu tun, dass sie sich immer weniger selbstständig außerhalb von Räumen bewegen können, die durch Erwachsene reglementiert und beaufsichtigt werden. Es wäre wichtig, dass sie ohne vorgegebene Rahmensetzung unter Gleichaltrigen sind und lernen, sich in Gruppen zu integrieren und auch zu behaupten. Freizeit sollte von den Kindern und Jugendlichen aktiv und vor allem auch spontan gestaltet werden. Wenn die Freizeit entweder voll durchorganisiert ist oder vor einem Bildschirm verbracht wird, gibt es keine Gelegenheiten mehr für selbst initiierte Spiele. Wir möchten zu bedenken geben, dass sich die exekutiven Funktionen besonders gut durch Bewegung und gemeinsame Aktivität aufbauen, die Bewegungsumwelt und das Bewegungsverhalten dem aber nicht mehr entsprechen. Im Vergleich der jungen mit früheren Generationen fällt diesbezüglich ein großer Unterschied auf. Es war nicht alles besser früher, aber es war anders. Man zog unbeaufsichtigt durch Wald und Felder und schuf sich mit Freundinnen und Freunden den eigenen Erlebnisraum. Bewegung und soziale Interaktion reizte die Nervenzellen mehr zu Wachstum und Vernetzung, als es einsames Gamen im Kinderzimmer, virtuelle Welten und überbesorgte Eltern tun. In manchen Elternhäusern wird der Aufbau der oben genannten Fertigkeiten bewusst oder auch unbewusst gefördert, in anderen möglicherweise gar nicht abverlangt. Entsprechend unterschiedlich stark sind sie dann innerhalb einer Klasse ausgeprägt. Lehrkräfte stehen vor dieser Situation und haben die Wahl: Entweder sie unterstützen die Schülerinnen und Schüler in ihrer Selbstregulation und damit in ihrer schulischen Hauptaufgabe, nämlich dem Lernen, oder sie schauen ihnen dabei zu, wie sie fehlende Emotionsregulierung, fehlende Planungsfähigkeit, fehlende Handlungsstrategien und fehlende Reflexionsfähigkeit (und dadurch entstehende schwache Leistungen) durch «originelles» Verhalten kompensieren.
Denn Schülerinnen und Schülern, die nur schwache Leistungen zeigen und demzufolge keine positive Leistungsverstärkung erleben, kann innerhalb der Gruppe der Gesichtsverlust oder gar ein sozialer Ausschluss drohen. Er ist in Zeiten von Social Media, wo die (positive) Selbstdarstellung zentral und ein negatives Feedback weitreichend und für immer dokumentiert ist, eine besonders große Bedrohung. Diesen Gesichtsverlust müssen die Schülerinnen und Schüler daher unbedingt vermeiden. Umso wichtiger wird die um Anerkennung heischende Performance. Wenn sich diese nicht in der Leistung zeigen kann, dann eben in einem Verhalten, das auf sich aufmerksam macht. Auch eine demonstrativ zur Schau getragene Gleichgültigkeit kann solch eine Vermeidungsstrategie sein.
Ein gezielter Aufbau der exekutiven Funktionen und eine Unterstützung der Selbstregulation gerade bei Lernprozessen können solche Versagensängste abfedern, Struktur in den Lernprozess bringen und Lernerfolg erlebbar machen. Ein solches Training wird von der Lehrkraft im Sinne des Angebots-Nutzungs-Modells als Angebot gestaltet, damit die Schülerinnen und Schüler es im Rahmen des Unterrichts nutzen können. Dafür wollen wir im Folgenden Anregungen bieten.
ABB. 9 | SELBSTREGULATION UND EXEKUTIVE FUNKTIONEN |
ANKERPLATZ | |
Voraussetzung für selbstregulierte Handlungsprozesse sind die im Frontallappen des Hirns angesiedelten exekutiven Funktionen. Gleichzeitig werden diese Funktionen während der einzelnen Phasen der Selbstregulation auch trainiert. Durch gezielte Reize wie Bewegung, Reflexion oder bestimmte Strategieanwendungen werden Aufbau, Wachstum und Vernetzung der fraglichen Nervenzellen stimuliert. Weil viele Kinder und Jugendliche in der Freizeit nicht (mehr) ausreichend Stimuli erfahren, ist ein Training im Unterricht von umso größerer Notwendigkeit. Es hilft ihnen, ihre schulische Hauptaufgabe – das Lernen – erfolgreich zu meistern. Maßgebend für die Umsetzung eines solchen Angebots und einer darauf abgestimmten Klassenführung ist die willentliche Entscheidung der Lehrperson, die Entwicklung der eigenen Schülerinnen und Schülern zu mündigen, also motivierten, zielgerichteten, handlungsorientierten und reflektierten Menschen zu unterstützen. |