Читать книгу 18 kurze Thriller aus Holland - Atie Vogelenzang - Страница 5
Ein frohes neues Jahr
ОглавлениеAtie Vogelenzang
„Da ist sie.“ Inge und Selma sehen, wie ihre Freundin Hanna Weeda den Bäcker bezahlt und das Brot in ihrer Einkaufstasche verstaut. Danach drückt sie sich dicht an der Apotheke vorbei, um nicht durch den Schnee gehen zu müssen. Es ist Mitte Januar, und seit dem Neujahrstag hat es fast jeden Tag geschneit.
„Jetzt schlägt’s aber dreizehn“, sagt Selma als sie beobachten, das Hanna vor dem einzigen Elektronikgeschäft stehenbleibt,das im Dorf Kollevaer zu finden ist. Sie verkaufen da Staubsauger, Toaster und Waschmaschinen. Das Schaufenster zeigt eine wundersame Komposition einer Frau, die in einem Glitzerkleidchen mit einem Regenschirm in der Hand auf einem schlaffen Seil über einem zugefrorenen Teich mit Reihern balanciert. Keiner im Dorf versteht, was diese Szene mit Fernsehern zu tun hat. Es gibt nie einen Zirkus in Kollevaer, und einen Teich, der zufrieren könnte, gibt es erst recht nicht.
„Sie trägt immer noch ihre alten Winterstiefel.“ Selma klingt aufrichtig verwundert. „Die mit den kaputten Reißverschlüssen, siehst du?“
„Beeil dich“, entgegnet Inge als sie sieht, wie Hanna das Geschäft betritt. „Wenn wir es ihr sagen wollen, sollten wir jetzt über die Straße gehen.“ Keine von beiden rührt sich jedoch vom Fleck. Die eine kann nicht ohne die andere. Wenn Inge Selma nicht abholen würde, käme ihre Freundin nie mehr vor die Tür und würde in ihrer Wohnung hinter der Milchfabrik langsam verkümmern. Und wenn Selma Inge nicht regelmäßig vor dem gefährlichen Zucker warnen würde, wäre Inge wohl noch dicker oder wahrscheinlich schon längst tot und begraben.
Inge lässt sich auf die Bank an der Bushaltestelle sinken als würde sie auf den Bus warten.
„Eines wissen wir zumindest sicher: Sie ist letzte Woche nicht aufgetaucht, weil sie uns nicht mehr kennen will“, erklärt Selma ihr beider Zögern. Sie blickt auf die nasse Zeitung mit den alten Nachrichten, die halb aus der Mülltonne hängt, und wieder zum Elektronikgeschäft auf der anderen Straßenseite. „Sie kauft sich bestimmt so einen riesigen Fernseher. Aber immer noch mit abgetragenen Stiefeln herumlaufen.“
„Oder so einen hohen amerikanischen Kühlschrank. Man sagt immer, solche Dinge würden Menschen verändern.“ Aus ihrer Manteltasche kramt sie ein Bonbon hervor. Ein Staubfussel hängt daran.
„Sie war meine beste Freundin.“ Selma merkt, dass sie sich versprochen hat. Inge und Hanna sind beide ihre besten Freundinnen.
Inge scheint es nicht gemerkt zu haben. „Und ich habe ihr noch das doppelte Gerstenkornmuster beigebracht.“ Es klingt, als würde sie das jetzt bereuen.
„Das hatte sie doch aus einem Strickbuch?“
„Aus einem Buch? So ein Blödsinn. Das Muster stammte von meiner Großmutter, und die hatte es wiederum von ihrer Großmutter. Dieses Muster ist schon seit Jahren in meiner Familie. Genau wie das Ajourmuster.“ Das Bonbon zerbricht zwischen Inges Backenzähnen.
Selma kennt die Geschichte. Schließlich kennen sie sich bereits an die vierzig Jahre. Als sie sich kennenlernten waren beide frisch verheiratet und beide kurz zuvor in das Dorf gezogen. Während sie früher vieles gemeinsam hatten, scheinen sie heutzutage eher wie zwei Gegenpole zu sein: Inge übergewichtig, mit gefährlich hohem Blutdruck und ohne jegliche Angst, Selma dünn und ständig damit beschäftigt, die Dämonen zu verjagen, die sich in den Winkeln ihres Geistes und ihrem zu vollen Haus verbergen. Sie stehen auf der anderen Straßenseite halb hinter der Bushaltestelle und warten, bis Hanna wieder herauskommt. Sie blicken ihr nach, als sie sich mit vorsichtigen Schritten auf den Weg zu ihrer Wohnung macht.
Der Bürgersteig vor dem Elektronikgeschäft ist geräumt, aber trotzdem befinden sich matschige braune Fußabdrücke auf dem Boden hinter der Ladentür.
„Wie kann ich Ihnen behilflich sein, meine Damen?“ Der Inhaber selbst ist heute im Geschäft. Eigentlich hatten sie gehofft, seine Frau anzutreffen. Die versteht sie besser.
„Was hat Hanna Weeda vorhin gekauft?“
Dass Inge sich traut, so etwas geradeheraus zu fragen. Vor lauter Aufregung fasst Selma Inge am Ärmel und hält den Atem an.
Es hat den Anschein, als würde ihn die Frage in Verlegenheit bringen. Er knetet die Hände wie ein Arzt, der sagen will, dass er unter Schweigepflicht steht.
„Wir wollen nämlich genau das gleiche“, blufft Inge.
Das Gesicht des Mannes entspannt sich sofort. „Kein Problem, meine Damen. Kein Problem. Sie stehen hier. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?“
Sie gehen ihm hinterher. Weg von den Flachbildfernsehern und den Kühlschränken.
„Diese PCs sind ausgesprochen gut geeignet für Anfänger und Senioren, um die Computerscheu zu überwinden. Sie können einfach alles.“
Inge streckt die Hand aus und drückt auf eine Taste, als wollte sie deutlich machen, dass sie weder alt noch Anfänger ist und auch keine Scheu hat. Am Bildschirm verschiebt sich etwas.
„Ups“, sagt Selma.
„Verflixt“, sagt der Inhaber. „Was ist das denn jetzt?“
„Habe ich etwas falsch gemacht?“
„Das ist... Nein, nein, wir kriegen das wieder hin.“ Sie können nicht genau sehen, was er macht, wohl aber, dass er sich ärgert. Seine Kiefermuskeln bewegen im selben Rhythmus wie seine hämmernden Finger auf der Tastatur. „So“, sagt er schließlich, „das passiert schon mal. Alles geritzt.“
Alle drei blicken sie auf den Computer, der alles kann.
„Was kann er denn zum Beispiel?“ Selmas Kenntnisse in Sachen Automatisierung reichen nicht weiter als ab und zu mit ihrer Bankkarte Geld ziehen. Und sogar das ist für sie immer wieder eine Herausforderung. Sie hat vor allem Angst, dass die Maschine ihre Karte auffrisst, denn das hört man immer mal wieder: „Meine Karte wurde aufgefressen.“ Als ob so eine Maschine einen bestrafen will. Und wie soll sie dann an ihr Geld kommen? Sie würde verhungern.
„Online einkaufen zum Beispiel“, sagt der Inhaber.
Selma fragt: „Auch Häkelnadeln oder Strickmuster?“
„Alles möglich, alles kein Problem. Wenn man wollte, bräuchte man nicht einmal mehr aus dem Haus zu gehen. Bei schlechtem Wetter lässt man sich einfach alles ins Haus liefern. Sehr praktisch.“
Selma sieht zu Inge. Sie gehen gerne im Supermarkt einkaufen. Es ist der Höhepunkt der Woche, zusammen bei Coop eine gratis Tasse Kaffee zu trinken und für Inge genau hundert Gramm Bonbons zu kaufen. Weshalb sollte Hanna nicht mehr einkaufen gehen wollen?
Der Inhaber merkt, dass sein Beispiel das Ziel zu verfehlen droht. Das Interesse der Damen erlahmt. „Oder Bücher? Musik?“ Er wirft die Wörter wie Bälle in die Luft, doch keiner fängt sie auf.
„Und natürlich kann man damit auch seine Bankangelegenheiten online erledigen“, beeilt er sich zu sagen.
Dann ist Inge die Erste, die etwas sagt. „Hat Hanna das vor?“
Der Inhaber macht ein sparsames Gesicht und nickt als er sagt: „Das wäre tatsächlich sehr vernünftig. In ihrer Situation...“
Er weiß es auch, denken Selma und Inge im selben Augenblick. Jeder im Dorf weiß es natürlich. Schließlich hat es in der Zeitung gestanden. Sogar sie selbst haben es aus der Zeitung erfahren müssen. Das war vielleicht sogar das Allerschlimmste. Sich jede Woche treffen, alles miteinander teilen, Freud und Leid. Und dann das. Diese verlogene Seite von Hanna hatte sie mitten ins Gesicht getroffen.
„Sehen Sie“, sagt der Mann. „Man kann darin auch die Nachrichten lesen. Unsere Dorfnachrichten beispielsweise.“ Er berührt einige Tasten, und sie sehen Hannas Bild auf dem Bildschirm. Es ist dasselbe Bild wie in der Zeitung. Hanna trägt ihr schönstes Kleid, und im Hintergrund erkennen sie die Kommode mit ihrer Sammlung alter Keksdosen.
„Unser Dorf, zack, mit einem Klick auf dem Bildschirm. Es hat sogar die ausländische Presse erreicht.“ Der Inhaber klingt stolz. „Vermutlich wird sie bald umziehen.“
„Hat sie das gesagt?“ Selma hat sich noch gar nicht an die ganze Situation gewöhnen können, und schon gar nicht an die Krise, in die ihre Freundschaft geraten ist. Und jetzt will Hanna auch noch umziehen? Es ist der reinste Verrat. „Wohin?“
„Darüber haben wir nicht gesprochen. Zumindest nicht konkret. Aber ich an ihrer Stelle würde es tun. Immer seinem Traum hinterer.“
Die Krankheit dieser Zeit, denkt Selma. Jeder ist ständig auf der Jagd nach der Erfüllung seiner Träume. Als wäre es eine heilige Pflicht. Etwas, das man in seinem Leben unbedingt getan haben muss, um nach dem Tod nicht in der Hölle zu landen. An ihren wöchentlichen Stricknachmittagen haben sie sich über alles unterhalten, doch von was Hannas träumte, darüber hatten sie nie gesprochen. Sie hat keine Ahnung.
Der Inhaber zögert einen Moment. „Wie ist das eigentlich für Sie als beste Freundinnen? Ziemlich schwierig, oder?“ Er macht ein mitleidiges Gesicht. „Es muss wie ein Alptraum sein. Ein Erdbeben, das den Boden unter Ihren Füßen spaltet, und plötzlich stehen Sie sich gegenüber, durch eine Schlucht getrennt.“
Inge und Selma sehen sich an. So hatten sie das noch gar nicht betrachtet.
„Hat die Zeitung sich denn auch bei Ihnen gemeldet? Was haben sie gefragt?“
„Ich verweigere jeglichen Kommentar“, sagt Selma.
„Mir ist es eigentlich ziemlich egal“, sagt Inge. Sie fischt in ihrer Manteltasche nach einem weiteren Bonbon.
Selma weiß, dass das nicht stimmt. Inge schläft kaum noch. Ihre gute Freundin hatte immer schon eine kräftige rote Gesichtsfarbe, aber seit dem Ereignis glühen ihre Lippen lila, wenn nur der Name Hanna fällt.
„Hierüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen“, sagt Inge zu dem Mann. „Richten Sie Frau Weeda das aus, wenn Sie sie wieder sehen.“
„Komm, Inge“, sagt Selma.
Einmal draußen sagt Inge: „Und jetzt auch noch umziehen. Ich fasse es nicht.“ Ihre Worte kommen wie Wölkchen aus ihrem Mund und riechen nach Zitrone.
In ihrer Wohnung hinter der Milchfabrik kramt Selma all ihre Strick- und Häkelarbeiten der letzten zwanzig Jahre hervor. Pullover aufs Bett, Schals auf den Stuhl, Mützen auf die Fensterbank.
„Dir werd ich´s zeigen“, murmelt sie. „Wenn es dir so wenig bedeutet. Warte nur. Kaputt machen können wir auch. Was meinst du eigentlich, wer du bist, Hanna Weeda.“ Sie nimmt eine Schere und schneidet einen Faden an der Mütze durch. Und dann den nächsten. Unermüdlich arbeitet sie weiter. Diesen Dämonen ist sie gewachsen. Am nächsten Morgen liegen auf der Fensterbank lauter Wollknäuel statt Mützen und Schals. Genauso auf dem Bett. Und auf dem Stuhl am Fenster.
Inge liegt hellwach in ihrer Wohnung und starrt an die Decke. Ihr Magen ruft nach Füllung. Aus der Küche holt sie sich eine Familienpackung Rosinenkekse, ein Glas Marmelade und einen Löffel. Sitzend im Bett, mit der Aussicht auf die Nadelbäume, isst sie die Kekse und leckt den Marmeladenlöffel ab. „Ich fasse es nicht, Hanna Weeda“, murmelt sie vor sich hin.
Wer von ihnen die Entscheidung fällte, wissen im Nachhinein beide nicht mehr. Doch als Inge in aller Herrgottsfrühe bei Selma klingelt, macht diese ihr sofort auf. Sie hat ihren Mantel bereits an.
„Das geht so nicht weiter“, sagt Inge. Sie betrachtet die Wollknäuel, die auf der Fensterbank liegen.
„Nein, du hast recht, das geht so nicht“, sagt Selma und zieht die Wohnungstür so laut hinter sich zu, dass der selbstgebastelte Türkranz mit dem Tannengrün, den roten Bändern und den Tannenzapfen aus dem Wald hin und her wackelt.
Sie gehen über den menschenleeren Dorfplatz. Hier und da liegen nachlässig zusammengekehrt noch Reste von Weihnachtsschmuck. Der große Weihnachtbaum der Einzelhandelsvereinigung ist schon weggeholt worden, nachdem er durch das Gewicht des unerwarteten Schnees in Schieflage geraten war. In einem Garten steht ein beleuchteter Weihnachtsschlitten. In den Regenrinnen liegen Feuerwerksreste.
Inge und Selma spüren keine Kälte. Arm in Arm stapfen sie entschlossen über den harten gefrorenen Schnee. Es ist immer noch dunkel, als sie das Haus von Hanna in der Kerkstraat erreichen. Sie klopfen, und Hanna öffnet die Tür, während die Katze ihr miauend um die Beine streicht. Im Flur ziehen Inge und Selma ihre Schuhe mit den salzigen Sohlen aus und setzen sich an den Küchentisch. Auf der Kommode steht ein Kerzenhalter mit Kerzen, und im Spiegelrahmen stecken Postkarten mit Weihnachts– und Neujahrsgrüßen. Hanna hat schon früh gebacken. Auf der Anrichte steht ihr berühmter Schokoladen–Orangenkuchen zum Abkühlen.
„Wir müssen reden“, macht Inge den Anfang, während ihr das Wasser im Mund zusammenläuft.
„Ja“, stimmt Selma ihr zu. „Wir sind hergekommen, weil wir uns Sorgen machen.“
„Du warst letzte Woche nicht beim Stricken.“ Inge linst hungrig zum Kuchen und nimmt dann eines der Plätzchen, die Hanna hingestellt hat.
„Ich war sehr beschäftigt“, sagt Hanna und stellt den Kaffee auf den Tisch.
„Aber wir kommen doch immer zusammen zum Stricken. Immer. Was auch passiert.“ Inge nimmt sich sofort das nächste Plätzchen und tunkt es in ihren Kaffee.
„Und jetzt haben wir auch noch erfahren, dass du vorhast umzuziehen.“ Selma hört selbst ihren jammernden Ton.
„Umziehen?“ Hanna hebt die Augenbrauen und kichert leise. „Wer sagt denn sowas?“
„Behaupte ja nicht, dass es nicht stimmt.“ Inge greift erneut in die Schale, die Selma im selben Moment von ihr wegschiebt. Sie wirft ihr einen säuerlichen Blick zu.
„Das stimmt nicht. Ich ziehe nicht um.“ Hanna klingt bestimmt. „Ich hänge an dieser Wohnung, an diesem Dorf. Mein Ben liegt hier begraben.“
Inge zieht die Augen zusammen als sie sagt: „Du lügst, Hanna. Du lügst wie gedruckt. Uns kannst du nicht weismachen, dass du jetzt hierbleibst. In diesem verkommenen Loch.“
„Loch?“ Hanna blickt aufrichtig verwundert.
„Lügen. Wie kannst du es wagen, deine besten Freundinnen anzulügen?“
Hanna knallt ihre Tasse auf den Tisch. „Was wollt ihr eigentlich? In all den Jahren haben wir uns doch noch nie gestritten.“
Inge erschrickt. Selma holt tief Luft, um etwas zu sagen. „Na ja, dass du... dass du wieder zum Stricken kommst natürlich. Du fehlst uns.“
„Dann sagt das doch? Abgemacht. Nächsten Mittwoch bin ich wieder mit von der Partie.“
„Und natürlich, dass du uns das gibst, was uns zusteht“, sagt Inge plötzlich.
Es fällt eine Stille. Draußen wird es allmählich hell. Auf der anderen Straßenseite öffnet jemand die Vorhänge.
„Es war eure eigene Entscheidung, plötzlich nicht mehr mitzuspielen. Zuerst deine. Und danach Selmas“, sagt Hanna.
Lächelt sie jetzt? Selma wendet den Blick ab. Die Katze versucht, auf den Tisch zu springen. Blödes Vieh, denkt sie.
„Ich beziehe kaum Rente.“ Inges Lippen werden lila. „Darüber haben wir gesprochen. Ich konnte es mir einfach nicht mehr leisten.“
„Die zwei Euro im Monat? Die verprasst du jetzt wahrscheinlich an Bonbons.“, antwortet Hanna. Es klingt neckend, was Inge aber entgeht.
„Es war erst ein Monat, in dem wir nicht mehr mitgespielt haben. Erst ein einziges Mal. Ich bin so enttäuscht von dir, Hanna.“ Inge ballt die Fäuste. Ihre Knöchel färben sich weiß. „All diese Jahre, und jetzt das.“
„Beruhige dich doch“, sagt Selma. „Wir sind doch vernünftige Leute. Wir finden eine Lösung. Was Inge sagen wollte, Hanna...“ Sie blickt schräg zu Inge. „Was uns so stört ist, dass du uns nichts gesagt hast. Dass wir es aus der Zeitung erfahren mussten. Schließlich sind wir deine besten Freundinnen.“
Hanna nickt. „Dafür möchte ich mich entschuldigen, Selma. Aber plötzlich passierte so viel auf einmal. Du ahnst nicht, wie viele Leute plötzlich etwas von einem wollen.“ Hanna steht auf, verlässt die Küche und kommt wieder mit einem Postsack, den sie über den Boden hinter sich herschleift. Selma fällt auf, dass sie müde aussieht.
„Was ist das?“
Hanna wirft eine Handvoll Umschläge auf den Tisch. „Briefe.“
„Von wem?“
„Sieh sie dir an.“
Selma schaut. „Das hier ist ein Brief von einer Verlegerin. Die will bestimmt deine Lebensgeschichte.“ Sie nimmt einen weiteren Umschlag. „Und dieser ist von einer Frau namens Chardonnay.“
„Das ist Wein“, sagt Inge.
„Es sind lauter Wildfremde, Leute mit Problemen, die um Hilfe bitten“, sagt Hanna.
Selma nimmt einen Umschlag mit ausländischer Briefmarke. Ein kleiner Zettel steckt darin.
„Greetings, blessed one“, liest Selma laut.
“Der ist von einem Mann aus Nigeria. Einem sehr schönen Mann. Schon schlau, dass er meine Adresse gefunden hat. Und so nett, dieses „blessed one“. Hanna betrachtet ihre Katze verträumt und krault sie zwischen den Ohren. „Ich fühle mich tatsächlich „blessed“, gesegnet.“
„Was wirst du jetzt tun?“ Selma legt den Umschlag wieder auf den Tisch und sieht zu Inge, die den Blick von Hanna abwendet. Das macht Inge nur, wenn sie sehr wütend ist. Sie hat einen hochroten Kopf, dunkellila Lippen und ihre Hände wischen ständig imaginäre Krümel vom Tisch.
„Lesen und dann beantworten.“ Sorgfältig schiebt Hanna die Briefe zusammen und steckt sie zurück in den Postsack. „Es gibt so viele Menschen, die es schwer haben.“
„Aber was genau hast du vor, Hanna?“ Inge fragt. Selma nickt zustimmend.
Hanna lächelt geheimnisvoll und nimmt den Kuchen von der Anrichte. Dazu legt sie ein Messer mit dem Griff einladend zu ihren Freundinnen. „Am Mittwoch komme ich wieder zum Stricken.“
„Unglaublich“, sagt Inge kurze Zeit später schon mindestens zum sechsten Mal. „Alles verschenken. Alles! An wildfremde Leute!“ Der Kaffee beim Coop schmeckt nicht so wie sonst. Die Musik ist zu laut, und die Einkaufswagen scheinen mit Absicht anzuecken. „Und sowas nennt sich Freundin. „Es gibt so viele Menschen, die es schwer haben.“ Und wir? Wir spielen plötzlich keine Rolle mehr? Hätten wir ihr vielleicht auch einen Bettelbrief schreiben sollen?“
„Ich will nach Hause“, sagt Selma. Ich bin total fertig. Mir tut alles weh.“
Hannas Katze versucht sich aus Inges Einkaufstasche zu befreien. Unter dem Reißverschluss lauert sie mit einem gelben Auge wütend nach draußen. Sie versetzt der Tasche einen Tritt. „Ruhe!“ Die dicke Inge verliert das Gleichgewicht und wirft fast ein Regal mit Saatgut um.
Selma reicht ihr ein Taschentuch und flüstert: „Du hast da noch ein Paar Spritzer an den Schuhen.“
Inge beugt sich vor. Ihre Hände erreichen kaum ihre Füße. „So besser?“ fragt sie außer Atem. Selma nickt. „Ich hätte durchaus Appetit.“
„Ich verstehe nicht, wie du jetzt ans Essen denken kannst.“
Inge tut, als hätte sie nichts gehört. Arm in Arm gehen sie zu Selmas Wohnung hinter der Milchfabrik. Zwei Frauen mit einer sich heftig bewegenden Einkaufstasche.
„Was sagen wir, wenn jemand wissen will, warum Selmas Katze bei uns ist?“
Selma kramt nach ihrem Schlüssel und steckt ihn ins Schloss. „Dass Hanna die weite Welt bereist. Um ihr Geld zu verteilen.“
„Wird man uns das abnehmen?“
Selma überlegt einen Moment. „Dann erzählen wir doch von dem schönen Mann aus Nigeria? Mit seinem „blessed one“–Brief? Dahin ist sie gereist.“
Auf der Türmatte liegt die Post. Werbung und ein großer weißer Umschlag. Inge lässt die Katze frei, die im großen Bogen aus der Tasche springt und durch die offene Schlafzimmertür flieht. Selma niest. Und gleich nochmal. „Ich bin allergisch gegen Katzenhaare.“
„Das hättest du dir früher überlegen müssen. Ich will das Vieh nicht. Ich möchte mir nochmal die Hände waschen. Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich Gummihandschuhe mitgenommen.“ Inge verschwindet im Badezimmer.
„Du bist sehr impulsiv. Und ein Hitzkopf.“ Selma dreht den Umschlag um. Es steht kein Absender darauf. Selma bekommt wenig Post. Höchstens einmal im Monat ihre Kontoauszüge. Und zum Geburtstag eine Karte von einer entfernten Cousine ihres verstorbenen Mannes, die irgendwo in Schottland lebt. Selma hat noch lange kein Geburtstag. Im Badezimmer hört das Wasserrauschen auf.
„Von Hanna“, sagt Selma, als sie die Unterschrift am Ende des Briefes entziffert hat und Inge aus dem Badezimmer kommt.
„Warum hat sie nichts darüber gesagt, dass sie uns einen Brief geschrieben hat?“
„Dazu hast du ihr kaum die Gelegenheit gegeben. Er ist übrigens an uns beide gerichtet.“
„Was steht drin?“
„Ich habe ihn noch nicht gelesen.“
„Ja, dann mach schon.“
„Liebe Freundinnen.“
„Liebe?“
„Das steht da.“
„Lies weiter.“
Selma liest und sagt dann, „dass sie nicht lange hat überlegen müssen, als sie den Jackpot im Lotto geknackt hatte.“
„Überlegen? Was denn überlegen?“
„Ich brauche euch nicht zu erzählen, dass ich...“
„Dass sie was?“
Inge versteht Selma kaum noch, als sie sagt: „Dass sie... Dass sie sich fürchterlich gefreut hat als sie erfuhr, dass der Hauptgewinn auf sie gefallen war.“
„Ja, welch ein Wunder“, entgegnet Inge herablassend.
Selma hat das Gefühl, als würde Hanna plötzlich neben ihnen stehen. „Dass sie sich dazu entschieden hat, mit ihrem Anteil des Gewinns andere Menschen glücklich zu machen.“
„Das wussten wir doch schon. So ein Blödsinn. Das braucht sie uns nicht nochmal unter die Nase zu reiben.“ Inge nimmt die Einkaufstasche auf und stellt sie wieder hin. Plötzlich atmet sie schwer. „Ihrem Anteil? Was meinst du mit „ihrem Anteil?“ In Selmas Schlafzimmer miaut die Katze.
Selma sieht Inge an. „Hanna schreibt, dass sie den Gewinn mit uns teilen will, obwohl wir letztes Mal nicht mitbezahlt haben. Sie möchte nicht, das Geld zwischen uns steht. Das schreibt sie. Ihr Vorschlag ist „einfach für jeden von uns ein Drittel. Und das habt ihr hiermit Schwarz auf Weiß.“
Inge ringt nach Luft. „Ein Drittel?“
„Jeder fünf Millionen. Das scheint für Hanna fair zu sein. Es hätte eine Weile gedauert, bis der Betrag auf ihrem Konto war, doch wenn wir ihr unsere Kontonummern geben, würde sie alles regeln. „Euch ein frohes und gesegnetes neues Jahr, meine lieben Freundinnen.“
Über die Autorin:
Atie Vogelenzang (1955, Krimpen aan de Lek, Niederlande) ist in der Welt der Thriller keine Unbekannte. Als eine Hälfte von Tupla M. schrieb sie zusammen mit Wendela de Vos mehrere spannende Bücher, unter denen ihr Debüt Vrouwelijk naakt. Mit dem Buch gewannen die Autorinnen den Schaduwprijs 2006.
Weitere aktuelle Titel des Autorenduos sind Val (2013) und Klem (2016).
2018 beschloss Atie, alleine weiterzumachen, und erschien ihr Buch Uit het Niets, über das das Nederlands Dagblad und das Noord–Hollands des Lobes voll waren.
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