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Mitten in der Winternacht

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Linda Jansma


Regungslos starrte ich auf den Körper des Mannes am Boden. Er lag auf dem Bauch, beide Arme angewinkelt neben dem Kopf, an dem auf der Rückseite ein großer nasser Fleck zu sehen war. Ein kleines Rinnsal roter Flüssigkeit tropfte aus seinem dunkelbraunen Haar auf den Boden und bildete dort eine kleine Lache.

"Tja, ...", sagte ich.

Beklommen sah mich Ellen von der Seite an. "Ist das alles, was dir dazu einfällt?"

Ich antwortete nicht. Mein Blick fiel auf die schwere gusseiserne Pfanne, die nicht weit entfernt neben dem bunt geschmückten Weihnachtsbaum lag und einen merkwürdigen Kontrast zu dem weißen Laken bildete, das wie eine Schneedecke um den Ballen drapiert worden war. Komisch, als sie mich vor einer halben Stunde anrief und mir fast unter Tränen erzählt hatte, sie hätte Johan geschlagen, war mir nicht eingefallen, dass sie das mit dem kirschroten Le Creuset getan haben könnte. Nicht einmal als sie sagte, dass er bestimmt tot sei und ich ihr ungeduldig zugeraunt hatte, sie solle nicht so übertreiben. Aber so wie ich ihn da jetzt liegen sah, wusste ich nur allzu gut, dass sie die Pfanne mit aller Kraft, die sie in sich trug, auf seinen Kopf hatte niederkommen lassen. Und dass er tatsächlich durchaus tot sein könnte.

"Wir müssen die Polizei verständigen", sagte ich.

"Nein!" In ihrer schrillen Stimme schwang so viel Panik mit, dass ich erschrak.

"Ellen, sie werden es bestimmt verstehen", drängte ich. "Er hätte gar nicht hier sein dürfen. Es gab eine einstweilige Verfügung."

"Er hat mich angerufen", entgegnete sie leise.

"Er hat was?"

"Vor ein paar Stunden. Er wollte mit mir reden. Über die Weihnachtstage."

Sprachlos starrte ich sie an. "Willst du damit sagen, du wusstest, dass er herkommen würde?"

Sie nickte.

"Meine Güte, Ellen", seufzte ich. "Warum hast du niemandem Bescheid gegeben? Mir zum Beispiel? Dann hätten wir das hier verhindern können."

"Gerade deswegen", flüsterte sie. "Ich hatte solche Angst, als ich seine Stimme am Telefon hörte. Er wollte zurück zu mir, schlug vor, Weihnachten gemeinsam zu verbringen und sagte, er werde vorbeikommen. Um zu reden. Ich habe mich nicht getraut, mich zu weigern. Und als ich aufgelegt hatte wusste ich, dass keine einstweilige Verfügung, kein Kontaktverbot oder sonst irgendein Verbot ihn würde zurückhalten können. Er würde mir weiterhin nachstellen, egal, wohin ich ginge. Es sei denn, ich würde ihn stoppen."

Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, was sie da sagte. "Du meinst, du hast das hier geplant?"

Sie nickte erneut. Johan war ein gewalttätiges Arschloch. Immer schon gewesen. Er konnte die Hände nicht bei sich behalten, und die Male, die er Ellen zusammengeschlagen hatte, waren kaum noch zu zählen. Ich hatte gehofft, dass eine einstweilige Verfügung für sie ein erster Schritt in ein Leben ohne Gewalt werden könnte, aber eigentlich hatte ich tief im Inneren gewusst, dass Johan sich niemals damit abfinden würde.

Erneut blickte ich auf den unförmigen Körper am Boden. Und natürlich wieder einmal an Heiligabend. Wie oft er uns den schon vermiest hatte. Zehn Jahre hintereinander. Fast hätte ich dem leblosen Körper vor Wut einen Tritt verpasst.

"Bist du sicher, dass er, äh ... tot ist?", fragte ich, als meine Wut sich ein wenig gelegt hatte.

"Das kann gar nicht anders sein." Ihre Stimme klang heiser, wie immer, wenn sie nervös war.

"Hast du gefühlt?"

"Gefühlt?" Sie warf mir einen fragen Blick zu. "Wo denn? An seiner Stirn?"

"Am Hals natürlich", sagte ich. "Hast du gefühlt, ob er noch Puls hat?"

Sie schüttelte den Kopf.

"Am Ende ist er noch am Leben", murmelte ich und ging zu Johann, aber Ellen ergriff meinen Arm.

"Lass das!", zischte sie. "Nicht anfassen! Sonst ist sein Körper nachher voll mit deinen Fingerabdrücken."

"Mach dich nicht lächerlich, Ellen", fuhr ich sie an.

"Nein, ich meine es ernst. Mit dieser ganzen modernen Technik können sie überall Fingerabdrücke finden."

"Was hast du dann vor? Wir können ihn ja wohl kaum hier liegen lassen."

"Können wir ihn nicht irgendwo entsorgen?"

"Kommt gar nicht in Frage", sagte ich. Und dann erneut: "Wir müssen die Polizei verständigen." Ich fischte mein Handy aus der Tasche und klappte es auf.

Zum zweiten Mal griff Ellen mich am Arm. "Bitte, Kim", flehte sie mich an. "Tu das nicht. Ich lande im Gefängnis!"

"Warum?", sagte ich mit dem Finger bereits auf der Einsertaste, bereit, den Notruf abzusetzen.

"Weil ich ihn erschlagen habe!", rief sie. "Umgebracht, verstehst du? Dafür sperrt man schon mal Leute ein."

"Er ist bei der Polizei kein Unbekannter, Ellen. Sie wissen, dass er gewalttätig ist. Du sagst einfach, dass es Notwehr war."

"Notwehr?" Sie lachte kurz, zeigte mit zwei Händen auf sich und fuhr mit zittriger Stimme fort: "Sieh mich an, Kim. Keine zerschlagenen Augen, keine aufgeplatzte Lippe, keine verstauchten Rippen oder blauen Flecken. Wer glaubt mir denn in Gottes Namen, dass das Notwehr gewesen sein soll?"

Wie von allein glitten meine Augen über ihre Gestalt. Sie hatte recht. Sie hatte keine einzige Schramme. Besser noch, sie sah verdammt gut aus. Man würde kaum glauben, dass das hier dieselbe Ellen war, die vor einem Jahr grün und blau getreten, blutend und mit gebrochenen Rippen ins Polizeirevier gehumpelt war. Ich war gottfroh gewesen, dass sie damals endlich auf mich gehört und Anzeige erstattet hatte. Jetzt aber war kein Hinweis auf eine Misshandlung zu sehen. Niemand würde glauben, dass sie ihm aus Notwehr mit einer gusseisernen Pfanne eins übergezogen hatte, oder? Verdammt. Ich konnte doch meine Schwester nicht einfach so ins Gefängnis stecken lassen? Das würde bedeuten, dass dieses Arschloch ihr Leben am Ende doch noch versaut hatte. Sogar jetzt, tot wie er war.

Niemals.

Ich seufzte tief. Wir mussten uns etwas einfallen lassen. Ihn entsorgen? Das schien die einzige Lösung zu sein. Aber wo? Und wie? Immerhin waren wir hier im siebenten Stock von Kleiburg, dem Hochhaus, in dem Ellen wohnte. Mitten im Amsterdamer Viertel Bijlmermeer.

"Was sollen wir bloß tun, Kim?", jammerte Ellen.

"Ich rufe Harry an", sagte ich. "Er soll uns helfen, Johan zu... zu..."

Sie schüttelte vehement den Kopf. "Harry wird uns nicht helfen. Der ist so gewissenhaft und ruft sofort die Polizei.

"Herrgott, Ellen, was willst du dann?"

"Wir müssen es selbst tun."

"Ihn... entsorgen?" Irgendwie bekam ich das Wort kaum über die Lippen.

"Bis auf uns zwei weiß doch keiner, dass er hier war."

"Bist du dir sicher?"

"Nein, aber sag doch selbst. Es gab eine einstweilige Verfügung. Wer erwartet schon, dass er die ignoriert?"

Da war was dran.

"Und niemand auf der Galerie hat ihn gesehen?", fragte ich.

"Keine Ahnung, aber ich glaube kaum. Es ist Heiligabend und stockdunkel draußen. Außerdem ist es Scheißwetter."

Ich warf einen Blick zum Fenster, an das in Böen nasser Schnee schlug. Auch da war was dran. Niemand ging bei diesem Wetter zum Vergnügen vor die Tür. Alle saßen warm und gemütlich vor dem Weihnachtsbaum. Hörten Weihnachtslieder von Wham und Mariah Carey. Oder sangen ‚Stille Nacht‘ mit den Kindern.

Schweigend rieb ich mir die Stirn. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

"Bitte, Kim", flehte Ellen. "Du musst mir helfen."

Wir schwiegen, bis sie ihre Stimme wiederhatte: "Das bist du mir schuldig."

Ich riss den Kopf zur Seite. Das war gemein. Und sie wusste es; ich sah es in ihrem Blick. Aber sie hatte erreicht, was sie wollte: mein Schuldgefühl erfasste mich mit voller Wucht.

Ich seufzte. Wir können ihn in die Gaasp werfen", schlug ich vor.

"Die Gaasp?", fragte sie. "Wie willst du das anstellen?"

"Ja, keine Ahnung", fuhr ich sie an. "Wir wuchten ihn in meinen Kofferraum und fahren hin."

"Und dann?"

Ihre schrille Stimme ging mir plötzlich auf die Nerven. "Wie ich soeben gesagt habe: dann werfen wir ihn ins Wasser. Ein kleines Stück hinter der Mühle gibt es eine Stelle, an der viele Bäume am Ufer stehen. Genau in der Kurve. Keiner wird uns sehen. Da ist keine Straßenbeleuchtung. Um diese Zeit ist es dort stockfinster."

"Und dann?", sagte sie wieder. "Meinst du, keiner findet ihn?"

"Keine Ahnung, Ellen. Eigentlich hoffe ich, dass die Strömung ihn ganz weit wegführt."

Sie starrte mich an.

"Noch besser wäre es, wenn er von der Schraube von irgendeinem Kahn erfasst würde", fuhr ich fort. "Dann bleibt ohnehin nicht viel von ihm übrig."

"Bäh", machte Ellen schaudernd. "Bitte, hör auf!"

"Jetzt tu nicht so, als würde es dir etwas ausmachen", sagte ich schärfer als ich es meinte. "Schließlich hast du ihm den Schädel eingeschlagen."

Sie senkte den Blick. "Das musst du mir nicht unter die Nase reiben", sagte sie leise. "Das werde ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen." Tränen stiegen ihr in die Augen. "Weihnachten wird mich für immer an den Abend erinnern, an dem ich ihn umgebracht habe."

Ich musste heftig schlucken, um den dicken Kloß in meinem Hals loszuwerden. Ellen war meine kleine Schwester, ich konnte sie nicht weinen sehen. Hatte ich noch nie gekonnt.

"Komm schon, Ellen", sagte ich, "nicht weinen. Wir lösen das. Gemeinsam."

"Indem wir ihn ins Wasser werfen?"

"Hast du eine bessere Idee?"

Sie schüttelte den Kopf.

Während ich die Autoschlüssel aus der Tasche zog sagte ich: "Ich hole mein Auto aus der Tiefgarage und parke es direkt am Eingang. Du suchst inzwischen nach etwas, worin wir ihn... Johan einwickeln können."

"Soll ich hier mit ihm alleine bleiben?", fragte sie ängstlich.

Ich schnalzte ungeduldig mit der Zunge. "Es sind doch nur ein paar Minuten, Ellen."

"Soll nicht lieber ich das Auto holen? Ich trau mich echt nicht..."

Das Klingeln meines Handys ließ uns beide zusammenfahren. In einem Reflex griff Ellen mich am Arm und kniff hinein. Kräftig.

Ich sah auf mein Display.

"Wer ist es?", fragte Ellen mit erstickter Stimme, während sie meinen Arm noch heftiger drückte.

"Aua, Mensch!", zischte ich.

Sofort ließ sie mich los.

"Harry", sagte ich. "Es ist bloß Harry."

"Sag nichts", flüsterte sie mir gehetzt zu, bevor ich den Anruf annahm.

Ich bedeutete ihr, den Mund zu halten, hielt das Telefon am Ohr und sagte: "Hallo Liebling."

"Alles ok mit Ellen?", fragte mein Mann.

"Äh, ja, wieso?"

"Na ja, du warst nach ihrem Anruf ziemlich schnell weg. Ich wähnte mich kurz ein Jahr früher und dachte, Johan hätte sie vielleicht mal wieder malträtiert."

"Natürlich nicht", reagierte ich heftig. "Johan hat doch Kontaktverbot. Der traut sich nicht in ihre Nähe."

"Na hoffentlich", erwiderte Harry.

"Ellen hat sich nur... äh... die Hand verbrannt." Ich warf einen Blick zur Seite und sah, wie Ellen große Augen machte. "Als sie einen... Kuchen aus dem Ofen nahm."

"Meine Güte", machte Harry, "schlimm?"

"Nein... nein, halb so wild."

"Wirklich? Du klingst nicht gerade überzeugend."

"Alles halb so wild, Harry", wiederholte ich.

"Möchtest du, dass ich vorbeikomme?"

"Das ist lieb von dir, aber nein, das ist nicht nötig. Ich besorge eine Salbe in der Nachtapotheke und dann wird alles wieder gut."

"Bleibst du noch lange weg?"

"Keine Ahnung", sagte ich. "Das kommt darauf an, wieviel in der Apotheke los ist."

Ich wunderte mich darüber, wie leicht mir die Lügen über die Lippen kamen. Zumal ich Lügen überhaupt nicht leiden konnte. Erst recht nicht zu Harry. Der war goldehrlich; es schmerzte mich, ihn hinters Licht zu führen.

"Es ist Heiligabend, Kim", sagte er. "Ich habe mich so darauf gefreut, ihn zusammen mit dir zu verbringen." Er seufzte. "Ellen und Johan haben unser Weihnachtsfest früher auch schon so oft versaut. Ich hatte gehofft, dass es dieses Jahr endlich mal anders sein würde, und jetzt bist du schon wieder..."

"Es wird nicht lange dauern", unterbrach ich ihn leise, während das Schuldgefühl immer mehr an mir nagte. Ich wollte auch bei ihm sein. Zusammen auf dem Sofa die Lichter im Weihnachtsbaum bewundern, zusammengekuschelt mit einem Glas Wein, Mahalia Jacksons ‚O Come All Ye Faithful‘ leise im Hintergrund. Ich schluckte. "Wirklich nicht", betonte ich erneut. "In Ordnung?"

"In Ordnung". Er sagte es widerwillig, das konnte ich hören. "Pass auf dich auf."

"Immer."

Er machte ein Kussgeräusch. Ich fühlte mich schrecklich schuldig.

"Einen Kuchen aus dem Ofen?", sagte Ellen, nachdem ich das Handy in meine Tasche hatte gleiten lassen. "Ich besitze nicht mal einen Ofen."

"Als ob er das wüsste."

"Johan wusste immer..." begann sie.

"Harry ist nicht Johan", unterbrach ich sie. "Außerdem ist Johan tot. Und jetzt sollten wir wirklich zusehen, dass wir ihn loswerden." Ich sah sie an. "Es sei denn, du möchtest doch noch die Polizei rufen."

Sie schüttelte den Kopf.

"Also beeilen wir uns", sagte ich.

Leise öffnete ich Ellens Wohnungstür und spähte vorsichtig links und rechts über die Galerie. Keine Menschenseele. Das hätte mich auch gewundert, denn es schneite immer noch wie verrückt, und der Wind heulte eisig um das Gebäude. Außerdem war es mittlerweile nach Zwölf und stockdunkel. Kein vernünftiger Mensch trieb sich zu dieser Unzeit in der Bijlmermeer in Amsterdam herum. Es sei denn, man war der Weihnachtsmann. Oder man hatte unlautere Absichten. So wie wir.

Ich drehte mich um zu Ellen, die direkt hinter mir stand. "Keiner zu sehen", sagte ich. "Los, komm."

Zusammen hoben wir das in einem Bettbezug verpackte Bündel hoch. Ich hätte eigentlich lieber so etwas wie einen Teppich gehabt. Das klang vielleicht ein wenig klischeehaft, aber ein Teppich würde weniger auffallen als das alberne geblümte Laken. Ellen hatte in ihrer Wohnung aber keine Teppiche. Und schon gar keinen Teppich, in den man eine Leiche hätte einrollen können, also hatten wir uns begnügen müssen mit einem ihrer Bettbezüge, verschnürt mit zwei eilig aus dem Weihnachtsbaum gerissenen silberfarbenen Girlanden.

Glücklicherweise lag Ellens Wohnung nicht im obersten Stock, so dass wir auf dem Flur einigermaßen geschützt waren vor dem Schnee. Obwohl... Die heftigen Windböen trieben die nassen Flocken bis an die Wohnungstüren, so dass wir doch ziemlich durchnässt endlich den Aufzug erreichten.

Da standen wir nun. An Heiligabend. In einem verlassenen Treppenhaus. Keuchend mit dem geblümten Bündel in den Armen, in dem der tote Johan verpackt war. Dick war er nie gewesen, aber jetzt, da wir ihn schleppen mussten, schien er mindestens eine Tonne zu wiegen. Oder zumindest hundert Kilo.

Mit dem Ellenbogen versuchte ich, den Aufzugknopf zu drücken, was mir aber nicht gelang.

"Was jetzt?", flüsterte Ellen.

"Wenn du seine Füße zu Boden lässt, kannst du den Knopf drücken", sagte ich. "Es scheint mir nicht praktisch, ihn kopfüber auf den Boden zu stellen."

Ellen kicherte nervös und ließ abrupt Johans Füße los, die dadurch mit einem Rumpeln auf den Boden prallten. Fast wäre er mir auch noch aus den Händen gerutscht, aber das konnte ich gerade noch verhindern.

"Himmel, Ellen, nur die Ruhe, ok?", zischte ich.

"Tut mir leid", sagte sie. "Es ist einfach... Ich bin..." Sie sprach nicht weiter und drückte schweigend den Knopf. Irgendwo im Gebäude ertönte ein metallisches Geräusch, und an den knatternden Kabeln im Aufzugschacht konnten wir hören, dass der Aufzug unterwegs war in unser Stockwerk.

"Ich habe Angst, Kim", sagte Ellen leise.

Was glaubst du, was ich habe, wollte ich sagen, hielt aber den Mund und sah auf die Aufzugtüren, hinter denen das lauter werdende Summen vernehmen ließ, dass der Aufzug nicht mehr lange auf sich würde warten lassen. Was sollten wir um Himmels Willen machen, wenn jemand in der Kabine war? Wie konnten wir eine logische Erklärung dafür geben, was wir da dabeihatten? Nicht, dass es sehr viel mehr zu sehen gab als einen geblümten Bettbezug, der mit einigen Weihnachtsgirlanden zusammengebunden war, doch jeder Idiot mit einem bisschen Grips konnte sich denken, was los war. Dafür brauchte man kein Hochschuldozent zu sein.

Das Summen verstummte, es ertönte ein leises Ping, und mit angehaltenem Atem sahen wir zu, wie sich die Aufzugtüren öffneten.

Leer. Gott sei Dank.

Ich bedeutete Ellen, Johanns Füße wieder aufzunehmen, und gemeinsam trugen wir ihn in den Aufzug. Irgendwo auf der Galerie schlug eine Tür zu. Wie versteinert sahen wir uns an. Schritte kamen näher.

"Schnell!", zischte ich Ellen zu. "Drück auf den Knopf!"

Erneut ließ sie Johans Füße los, doch diesmal sagte ich dazu nichts. Diese Aufzugtüren mussten sich schließen! Und zwar schnell.

Hektisch drückte Ellen einige Male hintereinander auf den Knopf zum Erdgeschoss. "Jetzt komm schon, du Mistding!", schimpfte sie.

Mein Herz begann plötzlich unbändig zu rasen. Mir wurde leicht im Kopf, und ich atmete immer schneller. Siehst du. Das war so klar. Noch bevor wir uns auf den Weg gemacht hatten, wurden wir schon erwischt. Es sah uns doch auch gar nicht ähnlich, eine Leiche irgendwo abzuladen. Wir hätten viel besser die Polizei verständigen können. Armer Harry. Er würde die kommenden Feiertage alleine verbringen müssen. Und nächstes Jahr vielleicht auch. Ich würde bestimmt für eine ganze Weile hinter Gitter landen.

Mit einem saugenden Geräusch öffnete sich die Tür zur Galerie. Ich sah einen Schatten am Boden, hörte erneut Schritte, und genau in dem Augenblick schlossen sich die Aufzugtüren.

Mit einem tiefen Seufzer lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand und schloss die Augen. Das war knapp.

"Alles klar, Kim?", fragte Ellen besorgt.

Ich öffnete die Augen, atmete tief durch und nickte.

"Leg ihn kurz ab", sagte sie mit einem Nicken zu Johan, den ich auf meiner Seite immer noch festhielt. "Er wiegt nicht gerade wenig."

"Nein", sagte ich. "Wir müssen versuchen, ihn so schnell wie möglich im Kofferraum zu verstauen. Also nimm seine Füße. Dann sind wir schneller aus dem Aufzug, wenn wir unten sind."

Wenn zumindest nicht zufällig gerade jemand mit dem Aufzug vom Erdgeschoss nach oben wollte ...

Mit einem kurzen Ruck hielt der Aufzug kurz darauf an, und die Türen öffneten sich. Keiner da in dem mit Graffiti beschmierten Treppenhaus.

Vorsichtig schoben Ellen und ich uns mit dem Paket aus dem Aufzug. Bevor wir Johan in den Bettbezug gerollt hatten, war Ellen schon unten gewesen, um mein Auto so nah wie möglich am Eingang zu parken. Sie hatte das Auto nicht abgeschlossen, so dass wir den Kofferraum schnell würden öffnen können. Das war riskant, das wusste ich. Kein normal denkender Mensch kam auf die Idee, ein Auto in diesem Viertel offen zurückzulassen, aber wir hatten keine Wahl.

Nachdem wir uns vergewissert hatten, dass auch hier draußen keiner war, trugen wir Johan schnell hinaus, wo ich zu meiner Erleichterung sah, dass mein Auto noch da war. Unversehrt. Irgendwo musste es einen kleinen Schutzengel geben, obwohl es mir unwahrscheinlich schien, dass sich jemand für meinen alten, rostigen Jetta interessierte.

Der nasse Schnee war inzwischen übergegangen in große, trockene Flocken, und während ich das geblümte Bündel mit Johan ungeschickt auf dem Knie abstützte, öffnete ich den Kofferraum. Keine zehn Sekunden später hatten wir ihn hineingewuchtet und den Deckel geschlossen.

"Pfff", seufzte Ellen.

"Erzähl mir nichts", sagte ich, während ich mir am Auto gelehnt einige Strähnen aus dem Gesicht pustete. Ich sah mich rasch um, doch alles war ruhig. Nicht einmal in dem kleinen Park war jemand. Allmählich konnten wir vorsichtig davon ausgehen, dass keiner uns gesehen hatte.

Ich schob Ellen zur Beifahrerseite und stieg selbst auf der Fahrerseite ein. Wir sagten kein Wort, auch nicht, als ich beim Losfahren zu viel Gas gab und den Motor abwürgte. Schnell ließ ich den Motor wieder an, schaltete die Scheibenwischer ein, um den Schnee wegzuwischen, der inzwischen auf der Windschutzscheibe lag, und lenkte den dunkelblauen Jetta im Schneckentempo über den Radweg. Ich hatte fürchterliche Angst, dass jemand uns da sehen könnte, an einer Stelle, an der Autos gar nicht fahren durften, und die Polizei rufen würde. Ich gab etwas mehr Gas, fuhr entlang der U-Bahnlinie und wollte gerade auf den Parkplatz vor der Kleiburg biegen, als uns eine Gruppe dunkelhäutiger Jungs vors Auto lief. Ich erschrak so heftig, dass ich zu spät bremste und fast einen von ihnen erwischt hätte. Er machte einen weibischen Satz zur Seite, dreht sich zu uns um und pflanzte kraftvoll zwei große schwarze Hände auf die Motorhaube. Vor Schreck schrie Ellen so laut auf, dass mir die Ohren klingelten.

Der Typ sah beängstigend aus in seiner tiefhängenden Jeans und der bis zum Kinn geschlossenen schwarzen Jacke, während die Schneeflocken um ihn herum wirbelten. In der Dunkelheit war sein Gesicht bis auf das Weiß seiner Augen kaum zu erkennen. Er trug eine Rastamütze auf einer hoch aufgetürmten Dreadlockfrisur, von der einige Strähnen im Wind wehten. Die Scheibenwischer bewegten sich hektisch hin und her, und in den Sekunden, in denen mich der Typ durch die Windschutzscheibe anstarrte, fragte ich mich plötzlich wie es möglich war, dass ihm die Mütze nicht davonflog.

"Sorry", flüsterte ich. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war eine Auseinandersetzung mit ein paar Herumtreibern. Wer weiß, ob sie bewaffnet waren, und weil ich lieber kein Messer zwischen die Rippen bekam, hoffte ich, dass er von meinen Lippen lesen konnte, was ich sagte.

Mit der Faust schlug er auf die Motorhaube und schrie: "Aufpassen, Mann!" Dann drehte er sich um, steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans und verschwand mit seinen Kumpeln zwischen den hohen Säulen der höhergelegenen U-Bahngleise.

Mein Herz raste derart, dass ich einen Moment brauchte, um mich zu erholen. Ellen sagte nichts. Sie stierte geradeaus vor sich hin, aber an der Art, wie sie sich mit den Händen am Sitz festhielt, sah ich, dass sie sich genauso erschrocken hatte wie ich.

Schweigend fuhr ich über den Parkplatz und atmete erst erleichtert auf, als wir kurz darauf die Karspelsdreef überquerten. Schnee fiel weiterhin auf die Windschutzscheibe, und während der Wind ab und zu heftig am Auto rüttelte, fuhr ich langsam auf die Kromwijkdreef.

"Kannst du nicht etwas schneller fahren?", sagte Ellen nach einer Weile. Ihre Stimme klang immer noch nervös. Das war ja auch kein Wunder nach allem, was passiert war. Und damit meinte ich nicht den Rastatypen von vorhin. Nein. Sie hatte ihren Ex umgebracht. Ihren gewalttätigen Ex zwar, aber trotzdem nahm einen das mit. Und zu allem Überfluss hatte sie mich da noch mit hineingezogen und fuhr ich jetzt mitten in der Nacht im Schneckentempo durch die Bijlmermeer. In einem Schneesturm. Mit einer Leiche im Kofferraum. Ja, man konnte behaupten, dass ich bis zu den Ohren in der Patsche saß.

"Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, Ellen, aber es schneit", antwortete ich sarkastisch. "Und wie. Und außerdem sind hier nur Fünfzig erlaubt."

"Na und?"

"Jetzt fang nicht an zu nerven, ok?", fuhr ich sie an. "Ich möchte lieber nicht auffallen, wenn es dir recht ist."

Sie schwieg und sah aus dem Seitenfester. Auch ich sagte nichts mehr, so dass wir in tiefem Schweigen weiterfuhren. Ich dachte an Harry, der jetzt auf mich wartete. An den Weihnachtsbaum, den wir vorgestern zusammen aufgestellt hatten. Daran, wie gerne ich jetzt zu Hause wäre an diesem für uns doch so besonderen Abend. Es war nämlich genau zehn Jahre her, seit wir uns kennengelernt hatten. In der Kneipe der Studentenvereinigung, bei dem wir beide Mitglied waren. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Und so merkwürdig es auch klingen mochte: seit unserer ersten Begegnung war es uns nie mehr gelungen, Heiligabend zusammen zu verbringen. Immer kam etwas dazwischen, in den letzten Jahren punktgenau die Auseinandersetzungen zwischen Johan und Ellen. Nun waren diese Auseinandersetzungen nicht Ellens Schuld. In fast allen Fällen waren es die lockeren Händchen von Johan, die für den Ärger gesorgt hatten. Wir konnten fast die Uhr danach stellen: gegen acht Uhr eine weinende Ellen am Telefon, gefolgt von einer Fahrt zum Bijlmermeer, wo Harry Johan zur Sau machte, ich Ellen tröstete und Johan daraufhin wütend die Wohnung verließ. Dann fuhren wir wieder nach Hause. Natürlich mit Ellen, die wir nicht alleine zurücklassen konnten. Und so war das nahezu jedes Jahr gelaufen. Doch so enttäuscht wir auch immer waren, hatten Harry und ich nie auch nur in Erwägung gezogen, Ellen ihrem Schicksal zu überlassen. Vor allem nicht an den Feiertagen, denn Johan war nicht der Typ, der seine Wut schnell vergaß. Erst Tage später tauchte er wieder auf und fuhr dann doch noch mit Ellen zur Ambulanz des Universitätsklinikums.

In dem Augenblick, als wir unmittelbar nach der Total Tankstelle unter der A9 hindurchfuhren, sagte ich: "Du nimmst es mir also immer noch übel, stimmt’s?"

"Nein gar nicht", sagte sie, ohne mich anzusehen.

"Lüg nicht, Ellen." Ich bog links ab auf die Loosdrechtdreef und gab etwas mehr Gas.

"Warum sollte ich?" Sie warf mir einen kurzen Blick zu und sah wieder nach vorne.

"Ich merke es dir an", sagte ich. "An allem. Deiner Haltung, deinen Reaktionen. Schon seit sieben Jahren gibst du mir die Schuld."

"Und das wundert dich?", entgegnete sie scharf. "Du wusstest, wie er war. Du kanntest ihn verdammt nochmal seit der Oberschule. Er war dein Freund, und du willst es zwar nicht zugeben, aber ich bin mir sicher, dass er auch dich vermöbelt hat."

Ich schwieg. Nicht, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, sondern weil sie recht hatte. Nach der Oberschule hatten Johan und ich eine kurze Beziehung gehabt, aber ich hatte Schluss gemacht, als er mir in betrunkenem Zustand drei geprellte Rippen und eine ausgekugelte Schulter verpasst hatte. Ich erzählte niemanden, warum das Ganze endete. Nicht mal Ellen, als sie anderthalb Jahre später etwas mit ihm anfing, eine Entscheidung, die ich schon seit Jahren bedauerte.

"Ich habe versucht dich zu warnen, Ellen", sagte ich leise.

"Stimmt nicht", sagte sie.

"Ich habe dir gesagt, dass Johan lieber mit seinen Fäusten spricht als mit seinem Mund."

Sie blickte zur Seite. "Du hättest nicht drum herum reden sondern einfach nur sagen sollen, dass er dich geschlagen hat."

"Hättest du das hören wollen?"

Ohne zu antworten blickte sie wieder nach vorn.

Ich seufzte tief.

"Dann wäre es zumindest meine Wahl gewesen", sagte sie nach einer Weile.

"Du warst verliebt", ging ich darauf ein. "Die Wahl wäre irrational gewesen."

Sie schwieg erneut.

Einige Minuten später bog ich auf die Schnellstraße. Zwei Fahrzeuge kamen uns entgegen, dahinter war alles dunkel. Der Wind, der erst etwas nachgelassen zu haben schien, wurde wieder stärker und blies den Schnee in Böen an die Windschutzscheibe. Ich fuhr jetzt schneller, und als kurz darauf auf der linken Seite die Gaasp auftauchte, hörte ich, wie Ellen kurz die Luft anhielt.

Ein Stück weiter gab es keine Straßenbeleuchtung mehr, und in angespanntem Schweigen fuhren wir durch die Dunkelheit, während der Wind das Wasser der Gaasp ans Ufer peitschte.

"Hätten wir ihn nicht besser irgendwo begraben können?", bracht Ellen die Stille.

"Bitte?", fragte ich.

"Im Wasser wird er auf jeden Fall gefunden. Und dann stehen sie sofort bei mir vor der Tür."

"Du brauchst nur zu sagen, dass du Johan gar nicht gesehen hast. Er hatte Kontaktverbot, erinnerst du dich?"

"Wenn wir ihn begraben, haben wir gute Chancen, dass ihn keiner findet."

"Das kannst du nicht wissen, Ellen." Außerdem, wo hättest du das machen wollen? Im Gaasperpark, oder was?"

"Du brauchst dich darüber nicht lustig zu machen", sagte Ellen böse. "Ich will das endlich hinter mir lassen. Johan, diesen ganzen verdammten Schlamassel, alles." Mit einem Ruck drehte sie den Kopf und sah wieder durch die Seitenscheibe.

"Das verstehe ich doch", sagte ich. "Aber begraben halte ich für keine gute Idee. Wir haben nicht einmal eine Schaufel! Außerdem, wo sollten wir das tun? Wir sind mitten in Amsterdam. Wir können schlecht durch die halbe Niederlande fahren auf der Suche nach einem geeigneten Ort."

Ellen sagte nichts.

"Oder?", drängte ich.

Sie zuckte mit den Schultern.

Weiter vorne sah ich durch den Schneevorhang die vagen Kontouren der Gemeinschaftsmühle auf der anderen Seite der Gaasp auftauchen. Wir waren jetzt ganz in der Nähe der Kurve, in der die Bäume standen. Die Stelle, an der wir Johan ins Wasser werfen würden. Jetzt schlug mein Herz unangenehm schnell.

Ich fuhr bis zur Mitte der Kurve, bremste ab und fuhr mit dem Auto über die Böschung auf den danebengelegenen Fahrradweg. Dort schaltete ich den Motor aus. Die Scheibenwischer blieben stehen, weshalb die Windschutzscheibe fast sofort wieder zugeschneit war, und eine beklemmende Stille füllte das Auto.

"Die Polizei hätte mich nie beschützen können", sagte Ellen nach einer Weile.

"Nein", sagte ich.

"Ich hätte sie darüber verständigen können, dass Johan auf dem Weg war zu mir, aber was hätte es genützt? Er wäre einfach wieder verschwunden, um beim nächsten Mal unangekündigt aufzutauchen." Sie blickte zur Seite, und trotz der Dunkelheit sah ich die Angst in ihren Augen. "Dann hätte er mich umgebracht."

Zweifellos.

"Ich hatte doch keine andere Wahl, oder? Kim?" Sie ergriff meinen Arm. "Ich hatte keine andere Wahl. Oder?"

Ich legte meine Hand auf ihre. "Nein", sagte ich heiser. "Du hattest keine andere Wahl."

Sie seufzte leise.

"Lass uns schnell machen", sagte ich. Ich öffnete die Tür und stieg aus. Eine heftige Windböe fegte mir den Schnee direkt ins Gesicht, raubte mir fast den Atem und schaudernd zog ich meinen Kragen weiter zu. Die Flocken schienen immer größer zu werden, und sowohl die Straße als auch der Fahrradweg waren nun von einer ordentlichen Schneeschicht bedeckt. Es würde nicht lange dauern, bis wir durchgefroren wären. Halb so schlimm. Zu Hause würden wir heiß duschen. Trockene Sachen anziehen. Ein Glas Wein trinken. Und versuchen zu vergessen, was heute alles passiert war.

Ich ging zum Heck, wo Ellen bereits auf mich wartete. Sie zitterte.

"Bereit?", fragte ich.

Sie strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht und nickte.

Ich wollten den Kofferraum öffnen, aber ehe ich es mich versah, wurde der Deckel mit so viel Wucht hochgeworfen, dass ich rückwärts mit dem Hintern im Schnee landete. Ellen stieß einen wilden Schrei aus, als eine dunkle Gestalt aus dem Kofferraum aufragte und behände hinaussprang.

Johan! Lieber Himmel! Er war gar nicht tot.

Schnell raffte ich mich auf. Ich sah die durchtrennten Girlanden, den zerrissenen Bettbezug, das Messer in seiner Hand. Wir hätten es überprüfen sollen, durchfuhr es mich. Fühlen müssen, ob er noch lebte. Ob er noch Puls hatte. Gott, wie dumm waren wir gewesen! Ellen auch immer mit ihren lächerlichen Fingerabdrücken.

"Da schau her", klang die schleppende Stimme von Johan. "Wenn das nicht mein liebes Frauchen und ihre Schwester sind." Er machte einen Schritt auf uns zu. "Das nenne ich doch mal eine Überraschung!"

Automatisch wichen wir zurück. Der Wind wirbelte den Schnee um uns herum, was Johan noch bedrohlicher aussehen ließ. Ich schauderte und merkte, dass auch Ellen zitterte. Vor Kälte? Vor Angst? Oder beides?

"Du hast mich ganz schön erwischt, meine Liebe", rief er Ellen über den lauten Wind hinaus zu, während er sich vorsichtig am Kopf fühlte. Das halb geronnene Blut klebte ihm an den Haaren, und sein Gesicht war voller roter Streifen und Spritzer. "Aber um mich wirklich fertigzumachen, hättest du wohl etwas kräftiger zuschlagen müssen."

Ellen sagte nichts, starrte ihn nur wie versteinert an.

"Was hattet ihr vor?", fuhr Johan fort. Er sah sich um und blickte durch den Schnee an die Stelle, wo das aufgewühlte Wasser der Gaasp tobte. Dann richtete er den Blick wieder auf Ellen. "Das ist ja wohl nicht dein Ernst? Wolltet ihr mich da loswerden? Und das an Heiligabend?" Er machte wieder einen Schritt auf Ellen zu und fuhr fort: "Ach Liebling. Da hätte mir doch wirklich ein schöneres Begräbnis gewünscht."

Im nächsten Augenblick holte er aus und schlug Ellen mit der Faust heftig ins Gesicht. Sie torkelte und fiel seitwärts in den Schnee. Dann rollte sie sich in einem Reflex hoch, die Hände über den Kopf gefaltet. "Ich wollte doch nur mit dir zusammen Weihnachten feiern, du Miststück!", schrie er. Er hob das Messer, doch bevor der die Gelegenheit bekam, sich auf Ellen zu stürzen, packte ich ihn am Arm und stieß ihn von ihr weg.

"Finger weg von ihr, du Arschloch!", schrie ich wütend.

Er holte mit dem Messer zu mir aus, doch ich konnte ihm ausweichen und schleuderte ihn mit aller Kraft von mir weg. Es hielt ihn nicht zurück. Er drehte sich um und stürzte sich auf mich, wodurch ich nach hinten fiel und sein schwerer Körper auf mir landete. Mit der freien Hand packte er mich am Hals und drückte mich mit Gewalt zu Boden. Ich spürte, wie der Schnee mir in den Kragen kroch, kalt und nass, und wie meine Jeans durchnässt wurde. Ich bekam keine Luft mehr und griff mit beiden Händen seinen Arm, versuchte, ihn wegzuschieben, aber er war zu stark. Sein Messer blitzte über mir, und in dem Augenblick, als mir klar wurde, dass ich diesen Kampf niemals gewinnen würde, schoss Johan plötzlich hoch und prallte mit einem Schrei rückwärts gegen das Auto. Das Messer war ihm aus der Hand gerutscht und lag keinen Meter von mir entfernt im Schnee. Eilig rappelte ich mich auf und griff danach, doch Ellen war schneller. Sie riss das Messer unter meinen Händen weg und richtete es drohend auf Johan.

Johan befühlte sich die Nase und sah das Blut an seinen Fingern. "Du hast mich getreten!", flüsterte er. Es war in dem tobenden Wind kaum zu hören. Überrascht sah er hoch, als würde er nicht begreifen, was da gerade passiert war.

"Und das war erst der Anfang!", schrie Ellen ihm zu. "Ich stech dich ab, wenn du nicht schnell zusiehst, dass du Land gewinnst! Und glaub mir, diesmal bringe ich es zu Ende!"

Er starrte sie an mit einem Blick, den ich noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Keine Wut, keine Raserei. Nur Verwunderung.

"Hast du gehört?", kreischte Ellen so laut, dass sogar ich erschrak. Sie rieb sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht, machte einen Schritt in Johans Richtung und stieß das Messer fest entschlossen und ohne jedes Zittern noch weiter nach vorne.

Die Situation kam mir plötzlich so surreal vor, dass ich fast lachen musste. Ich sah Johans Augen, und kurz dachte ich, dass sie vor Fassungslosigkeit herauskullern würden. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber keinen Laut heraus. Er schluckte, hob die Hände in die Höhe und machte behutsam einen Schritt zur Seite, um dann am Auto vorbei zu huschen und im Schnee zu verschwinden.

Verwundert sahen wir ihm nach. Was war denn mit dem los? Johan lief nie davon, er wählte immer die Konfrontation. Vor allem gegenüber seiner Frau. Gegenüber allen Frauen. Es war so unwirklich, dass ich nicht anders konnte als zu erwarten, dass er jeden Augenblick wiederkommen würde, um erst mich und danach Ellen fertigzumachen. Aber nichts geschah. Auch nicht, als wir nach zehn Minuten immer noch dumm dreinschauten und darauf warteten, dass ein wütender Johan wieder aus dem Schnee auftauchen würde.

Mit zitternden Fingern wischte ich mir schließlich den Schnee aus dem Gesicht. "Wollen wir..." Meine Stimme stockte, und ich räusperte mich, bevor ich den Wind übertönte: "Wollen wir nach Hause fahren?"

Ellen nickte, nicht in der Lage, irgendwas zu sagen.

Ich raffte den blutverschmierten Bettbezug zusammen und verstaute ihn im Kofferraum. Ellen warf das Messer mit einem angewiderten Gesicht dazu. Dann stiegen wir ins Auto. Ich begriff immer noch nicht, warum Johan weggelaufen war. Er musste sich erschrocken haben. Sehr sogar. Ellen hatte sich noch nie gewehrt, sich nie getraut, sich ihm zu widersetzen, geschweige denn ihn anzuschreien. Ihm musste klar geworden sein, dass sie sich nichts mehr gefallen lassen würde. Dass sie ihn tatsächlich ermorden würde, wenn er ihr je wieder zu nahe käme.

Und während ich durch den immer noch tobenden Schneesturm auf die Straße bog, sah ich kurz zu Ellen neben mir und fühlte mich stolz. Endlich, nach elf Jahren, hatte sie sich zur Wehr gesetzt. Ob Johan sie ab jetzt in Ruhe lassen würde, würde sich zeigen, obwohl ich das eigentlich keinen Moment lang annahm. Ich wusste jetzt, dass sich meine Schwester nie mehr von ihm misshandeln lassen würde. Und trotz der Tatsache, dass Harry und ich auch diesen Heiligabend nicht zusammen feiern würden, lag es diesmal anders. Diesmal wusste ich, dass es das letzte Mal sein würde. Nächstes Jahr würden wir zusammen sein.

Ich lächelte und summte leise Mitten in der Winternacht. Kurz sah Ellen mich verwundert an. Doch dann stimmte sie mit ein, unsicher zunächst, aber dann immer lauter.

Über die Autorin:

Linda Jansma (1967) schreibt Psychothriller mit gesellschaftlichen Themen. Ihre filmischen Beschreibungen mit Blick für Details fesseln ihre Leser. Auch gründliche Nachforschungen tragen zur Authentizität ihrer Erzählungen bei und sorgen dafür, dass sie als lebensecht empfunden werden.

Inzwischen hat Linda dreizehn Titel veröffentlicht, unter denen die Bestseller Kwetsbaar und Gebroken. Ihr Debüt Kwetsbaar gewann den Schaduwprijs, stand auf der Longlist von de Gouden Strop und wurde nun auch ins Englische übersetzt. Houvast und Verbroken bekamen einen Platz auf der Longlist von de Diamanten Kogel und Schuilplaats wurde ausgezeichnet als bester Frauenthriller 2013.

2016 begann Linda Jansma mit der dreiteiligen Krimireihe Cirkel van het kwaad über die Suche nach dem wahren Hergang eines zwanzig Jahre zurückliegenden Mordes. Nach Schaduwkinderen (Teil 1) und Uitverkoren (Teil 2) erschien im Oktober 2019 der letzte Teil: Bloedband.


Lies mehr über Linda und ihre Thriller auf:

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Twitter: @Lindajansma

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