Читать книгу 18 kurze Thriller aus Holland - Atie Vogelenzang - Страница 6

Über die Grenze

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Heleen Smit

Die lebensgroßen beleuchteten Figuren an den Giebeln der Dorfstraße weckten in mir eine fast kindliche Begeisterung. Schau, der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten, hätte ich fast gerufen, doch ich hielt den Mund. Er hatte nichts am Hut mit Frivolitäten, die nichts mit der wahren Bedeutung von Weihnachten zu tun hatten. Außerdem kämpfte er gerade mit dem Schaltknüppel; er fuhr zu Hause immer einen Automatik.

Vor mehr als vier Jahren hatte ich das Dorf, durch das wir jetzt fuhren, verlassen. Die Wärme der Erwartung, meine Familie wiederzusehen, vertrieb die Kälte, die sich in meinen Knochen festgesetzt hatte, seit wir aus dem Flugzeug gestiegen waren, und ich kämpfte mit den Tränen. Ich nahm die Hände unter den Oberschenkeln weg und tupfte mir mit dem Ärmel meiner Strickjacke die Augenwinkel. Es würde ihn ärgern, wenn ich zu weinen begann, bevor wir angekommen waren, und er war ohnehin schon gereizt vom Jetlag und dem dichten abendlichen Berufsverkehr.

Eine Überraschung für mich, hatte er gesagt, als ich unsere Koffer packen sollte. Schnell hatte ich einige T-Shirts, kurze Hosen und Kleider zusammengerafft, ohne zu ahnen, dass unser Reiseziel vielleicht wärmere Kleidung erforderte. Ich hoffte, Weihnachten in Rio zu verbringen, stellte mich aber innerlich ein auf eine Viehschau in irgendeinem verschlafenen Nest. Nur gut, dass er an meinen Pass gedacht hatte; nicht einen Augenblick hatte ich damit gerechnet, dass wir fliegen würden.

Die Dunkelheit der flachen Gegend nahm uns auf. Er fand den richtigen Gang und trat das Gaspedal des Mietautos durch. Ich hielt eine Warnung vor Rechts vor Links und spärlich beleuchteten Fahrradfahrern zurück; Dinge, mit denen wir zu Hause kaum zu tun hatten. Unmittelbar vor der Abbiegung gab ich ihm ein Zeichen, und mein Herz schlug mir bis zum Hals, als er ohne Blinker in den Weg zwischen den kahlen Äckern einbog. Vorhänge verwehrten mir Blick in das Wohnzimmer meines Elternhauses, doch der Schein der Lampen drinnen und der leuchtende Stern vor dem Fenster riefen Bilder von Winterabenden wie diesem in mir hervor, mit der Familie am Kamin. Auf dem Hof sprangen Scheinwerfer an, die die Futtersilos und das Stalldach beleuchteten, und der Schäferhund in seiner Hütte bellte. Das Stalldach erschien mir neu. Und wo war Sjaak, der Berner Sennenhund?

Er schaltete den Motor aus. Bevor ich aussteigen konnte, nahm er meine Hand und lächelte mir aufmunternd zu. Das brachte mich zurück zu dem Augenblick, in dem sein gewinnendes Lachen mich zum Schmelzen gebracht hatte. Alle Mädchen in der Klasse hatten versucht, seine Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen nach der Gastvorlesung, die er gehalten hatte in der höheren Landwirtschaftsschule, in der ich damals mein letztes Jahr absolvierte. Ein riesiger Kerl von Mitte zwanzig mit hellblondem Haar und der gebräunten Haut wie von einem Surf Dude, der Niederländisch sprach und in Brasilien einen riesigen Milchviehbetrieb hatte: der Traum so mancher Klassenkameradin.

Alle wunderten sich dann auch nicht schlecht darüber, dass sich dieser niederländische Kerl aus Brasilien für das zurückhaltende, pummelige Mädchen interessierte, das ihm aus dem Weg ging, weil sie keineswegs die Illusion hatte, mit ihren Klassenkameradinnen konkurrieren zu können. Doch er hatte sich seinen Weg durch sie hindurch gebahnt und mir die Hand hingestreckt.

„Jan Ubbink“, hatte er gesagt, als ob mir der Name während der Präsentation über den Familienbetrieb mit Hunderten von Kühen und unendlich vielen Hektar Soja und Mais in einer ursprünglich niederländischen landwirtschaftlichen Kolonie hätte entgehen können. Der feste und doch beherrschte Händedruck zusammen mit dem Lächeln des großgewachsenen Hünen ließen meine Knie weich werden. Es lag damals schon in seinem Blick: du gehörst zu mir. Und ich hatte nicht im Geringsten das Bedürfnis, ihm zu widersprechen.

Auch jetzt sprach er wieder zu mir mit diesem Lächeln. Und noch immer konnte er meine Knie weich werden lassen.

Er drückte mit seiner schwieligen Hand leicht die meine. „Du behältst doch unser Geheimnis für dich, oder?“

Ich richtete den Blick auf die Weihnachtsbeleuchtung auf der Fensterbank vorm Küchenfenster. „Klar.“

Er ließ mich los. „Also los, worauf wartest du? Überrasche deine Leute.“

Ich öffnete die Autotür und sah ein Stück eines Gesichts zwischen den Vorhängen. Begeistert winkte ich, und die Vorhänge bewegten sich. Schnell rannte ich zur Hintertür, während ich glücklich den scharfen Ammoniakgeruch der Schweine einatmete und den peitschenden Regen auf meinem Gesicht willkommen hieß.

Die Hintertür öffnete sich einen Spalt, und kurzes weißes Haar spitzte heraus. „Lien? Nein, das ist doch nicht möglich!“

Zu keinem Wort mehr fähig zog ich die Tür weiter auf. Meine Mutter hob die Hand an den Mund und wich zurück, als wäre ihr ein Gespenst erschienen. Ich ging hinein und nahm sie in die Arme. Weinend drückte ich meine Nase an ihren Hals. Noch immer derselbe Duft, der mir klar machte, dass es echt war, dass es kein Traum oder ein schlechter Scherz war. „Oh, Lien...“ Ihre kräftigen Arme verjagten den letzten Rest Kälte aus meinem Körper.

Ich war zu Hause.

Jan räusperte sich anerkennend und nahm noch einen ordentlichen Bissen. „So muss eine Frikadelle schmecken. Und diese Soße...“

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er mich beobachtete, und ich konnte fast hören, wie er dachte: wenn du nur so kochen könntest. Ich mochte lieber Nudeln oder Reis, aber diese Gerichte waren nicht nach Jans Geschmack, geschweige denn dem seiner Eltern. Gekochte Kartoffeln, Bohnen und Fleisch mit Soße, am liebsten Mittags, auch bei über dreißig Grad Hitze. Diese Essgewohnheiten ändern zu wollen, hatte ich nach den unzufriedenen Blicken und Bemerkungen über meine Kochkünste schon bald aufgegeben.

„Ja, die Soße ist göttlich“, seufzte meine Schwester Marit.

Göttlich ist der Herr, hätte ich eigentlich neben mir zu hören erwartet, doch die ermahnende Bemerkung blieb aus. Es fühlte sich unwirklich an, zusammen mit meinen Eltern, meiner Schwester und meinem Bruder hier an diesem Tisch zu sitzen. Nach dem herzlichen Wiedersehen mit meiner Mutter und der ausgelassenen Begrüßung von Marit hatte uns der Duft nach gebratenen Frikadellen mit Rotkohl in die Kühe getrieben. Meine sonst so besonnene Mutter rannte hektisch hin und her, goss die Kartoffeln ab, taute Würstchen auf und holte Gläser mit Erbsen und Apfelmus aus dem Keller. Mein Vater und mein Bruder Wouter, das Haar noch nass vom Duschen im Stall, trauten ihren Augen im ersten Moment auch kaum, als sie Jan und mich in der Küche antrafen und ich mich in ihre Arme warf.

Und danach taten wir das, was wir immer taten, wenn die Emotionen überhandnahmen: wir aßen zu Abend.

„Jessas, ich kann kaum glauben, dass du wirklich da bist“, sagte Wouter zwischen zwei Bissen.

Jessas ist abgeleitet von Jesus, und Seinen Namen gebrauchen wir nicht unnütz. Nachdem er mir das am Anfang unserer Beziehung todernst zugebissen hatte, hatte ich das Wort nie mehr in den Mund genommen.

Ich stocherte mit der Gabel auf dem Teller herum. Mein Magen rumorte in der Annahme, dass es Morgen sei, und ich sah mir meine Familienmitglieder an. Der Pullover meines Vaters spannte ihm um den Bauch, der runder war, als ich ihn in Erinnerung hatte, und die Geheimratsecken hatten sich in eine Insel verwandelt. Die Augenlider meiner Mutter hingen herab, und die dunkelblond gefärbte Frisur war einem natürlichen Grau gewichen. Auf Bildern oder auf Skype war mir die Alterung weniger aufgefallen.

Im Haus hatte sich dagegen nichts verändert, seit ich die Niederlande hinter mir gelassen hatte. Keine einzige Dose mit Boerenbont Aufdruck stand an einer anderen Stelle. Früher hatte ich die grünen Schranktürchen und die Möbel mit dem typisch bunten niederländischen Service schrecklich altmodisch gefunden und mir vorgenommen, meine Einrichtung in dem Haus, das Jan bauen lassen würde, modern zu gestalten. Doch bis wir genug zusammengespart haben würden – einige trockene Jahre mit wenig Ertrag hatten die Finanzplanung durcheinander gebracht – lebten wir im Haus seiner Eltern. Und verglichen mit deren Einrichtung war die meiner Eltern frisch und modern. Dunkelbraune Eiche und Delfter Blau hatten mir das Gefühl gegeben, Jahre in die Vergangenheit gereist zu sein, als ich meinen Koffer durch das Haus in Jans Schlafzimmer schleppte. Seine Eltern waren 1977 nach Brasilien ausgewandert und hatten den Stil beibehalten, der zu der Zeit hip war. Die Siebzigerjahre waren im Hause Ubbink noch sehr präsent, und das nicht nur, was den Geschmack anging.

Nachdem sich der größte Schock unseres plötzlichen Auftauchens gelegt hatte und der größte Hunger gestillt worden war, kamen die Unterhaltungen in Gang. Jan sagte, wir würden nur über die Weihnachtsfeiertage bleiben. Eigentlich hätten wir gar nicht verreisen können. Es herrsche wieder große Trockenheit, was zusätzliche Arbeit verursache wie die Beregnung der Gewächse, die als Viehfutter dienten. Außerdem sei kaum Geld da.

„Aber ich wollte so gerne, dass Lieneke euch mal wieder sieht, dass ich alles darangesetzt habe, doch herkommen zu können. Ich hoffe, dass diese kurze Reise zu ihrer Erholung beitragen wird.“

Unter dem Tisch tätschelte ich Jan dankbar das Knie.

Wir tauschten Neuigkeiten aus über unseren Alltag, und die Männer kamen schon bald auf landwirtschaftliche Themen: der Preis für Schweine in den Niederlanden, der Milchpreis in Brasilien, Erträge pro Hektar, das Wetter.

„Ihr habt einen anderen Hund, habe ich gesehen. Ist Sjaak nicht mehr da?“, fragte ich.

„Oh, Kind, das wusstest du aber doch?“ Meine Mutter schabte den letzten Rotkohl aus dem Topf und tat ihn auf Jans Teller. „Der arme Sjaak war völlig am Ende. Der Tierarzt hat ihn in seiner eigenen Hütte eingeschläfert.“

„Ich hatte keine Ahnung.“

„Skip ist jetzt anderthalb, also ist das schon eine Weile her. Ich glaube, das war in der Zeit, in der wir euch so schlecht erreichen konnten, erinnerst du dich?“

Sicher, wie könnte ich das vergessen. Monatelang ohne Internet, nur ab und zu ein Telefonat, bei dem die Verzögerung in der Leitung ein vernünftiges Gespräch nahezu unmöglich machte. Ich hatte mich noch nie so einsam gefühlt.

„Und das Stalldach wurde erneuert“, bemerkte ich. „War das auch in der Zeit?“

„Das haben wir im Frühjahr machen lassen“, erzählte Wouter. „Mit einer Subvention für die Entfernung von Asbest und das Anbringen von Solarzellen. So konnten wir gleich einige Anpassungen im Wurfstall vornehmen.

Von einem feiernden Teenager hatte mein kleiner Bruder sich verwandelt in einen stolzen Betriebsnachfolger. Doch mehr noch wunderte ich mich darüber, dass ich nichts von dem Umbau wusste. So ein Projekt ist keine Kleinigkeit; man stellt Schweine nicht einfach so zusammen in einen Stall, bis alles fertig ist. Außergewöhnlich genug zumindest, um es in Gesprächen mit der Tochter oder der Schwester im Ausland zu erwähnen.

Meine Mutter bemerkte meine Verwunderung. „Das war in der Zeit, als du so krank warst.“

Alle Unterhaltungen am Tisch verstummten, und ich schluckte. Eine der wenigen Übereinstimmungen zwischen den Familien von Jan und mir war: heikle Themen wurden nicht angeschnitten. Wenn man nicht darüber spricht, dann gibt es sie auch nicht.

Meine Mutter reichte über den Tisch und legte ihre Hand auf meine. „Du bist noch so jung. Noch Chancen genug.“ Ihre Stimme versagte, und ich kämpfte gegen den Drang, meinen Stuhl nach hinten zu stoßen und hinauszurennen, um mich in meinem alten Versteck auf dem Heuboden zu verkriechen. Manchmal war ich dankbar, dass wir nie über schwierige Themen sprachen, denn darüber hätte ich kein vernünftiges Wort sagen können, ohne durchzudrehen.

„Wollen wir uns nachher mal die Ställe ansehen?“, fragte mein Vater.

Gerne, wollte ich antworten, doch Jan kam mir zuvor.

„Heute Abend können wir besser früh zu Bett gehen. Es war eine lange Reise, und Lieneke ist noch immer nicht ganz auf dem Damm.“

Meine Mutter federte hoch. „Ich mache euch gleich die Betten auf dem Dachboden.“ Praktische Haushaltsaufgaben erledigen, das tat sie gerne. Und erst recht, wenn man damit unangenehmen Situationen aus dem Weg gehen konnte.

„Mach dir keine Umstände, wir übernachten auf dem Hof meines Cousins“, sagte Jan leichthin.

„Och, aber das sind doch keine Umstände. Uns ist nichts zu viel, um unser kleines Mädchen bei uns zu haben.“

„Sie rechnen bereits mit uns. Da wir so unerwartet angereist sind, wollten wir euch nicht weiter zur Last fallen.“

Ich sah einen Anflug von Enttäuschung im Gesicht meiner Mutter. „Oh, ja, nun, ich bin so froh, dass ihr überhaupt da seid. Wer möchte Kaffee?“

„Ihr seht alle so gut aus, und habe nur das hier.“ Ich stand vor dem offenen Kamin und zeigte auf meine Jeans, von der die Knie fast durchgeschabt waren, und das einfache T-Shirt unter der Strickjacke mit den kahlen Stellen an den Ellenbogen.

„Kind, es geht doch nicht um Äußerlichkeiten“, meinte meine Mutter.

„Vielleicht habe ich noch etwas im Schrank“, sagte Marit. „Wenn du mich fragst, haben wir heutzutage dieselbe Größe. Komm mit.“

Sie nahm meine Hand und zog mich mit. Ich warf über die Schulter einen Blick zu Jan, der mit dem Rücken zu mir saß und sich mit meinem Vater und Wouter über den Nutzen selbstfahrender Trecker und Präzisionslandwirtschaft unterhielt. Ich stieg hinter Marit die Treppe hoch.

„Wieviel Gewicht hast du eigentlich verloren, Lien? Wie hast du das gemacht?“

„Kein Supermarkt und keine Pommesbude weit und breit, wenn man Lust auf was Leckeres hat, und viel körperliche Arbeit. Da kann keine Diät mithalten.

Sie ließ mich Platz nehmen auf dem Bett, machte die Schranktüren auf und ließ die Hand an den Kleiderbügeln entlanggleiten. „Das nicht, das nicht, das vielleicht, ja, das.“ Sie hielt ein flottes blaues Kleid mit einem grellgrünen Streifen an der Seite hoch. „Probier das mal an.“

„Ich weiß nicht recht.“ Jan würde es nicht als geeignet erachten für einen Gottesdienst, geschweige denn für die Christmesse. „Hast du nicht etwas Einfacheres? Vielleicht etwas schlichtes Schwarzes?“

Die Kleiderbügel klingelten leise, während Marit sie über die Stange schob. „Schade, dass du nicht ein paar Tage früher da warst, dann hätten wir shoppen gehen können.“

„Ja, es hat mir gefehlt, zusammen etwas Schönes zu unternehmen. In die Stadt zu gehen, oder ins Kino.“ Oder einfach nur zu quatschen so wie jetzt. Es war das erste Mal, das ich kurz alleine mit ihr war. Ich holte Luft, um zu sagen, was mir auf der Seele brannte, seit die Räder des Flugzeugs den Asphalt der Landebahn berührt hatten. „Marit, ich muss dir...“

„So, wollte kurz schauen, ob ihr beim Auffrischen eurer Schminke nicht die Zeit aus den Augen verliert.“

Jans Stimme auf dem Flur ließ mich zusammenfahren, und meine Wangen färbten sich rot.

„Lieneke und Schminke, ist das dein Ernst? Du hättest ihr aber schon sagen können, dass sie etwas Hübsches einpacken soll, Jan. Eine Frau muss auf alles vorbereitet sein“, sagte meine Schwester.

„Genau. Nur dass Lieneke keinen großen Wert auf schöne Klamotten legt. Das nächste Einkaufszentrum ist eine Tagesreise entfernt, und außerdem gibt es kaum Anlässe, für die man sich herausputzen müsste“, sagte Jan.

„Aber ihr geht doch auch mal in die Kirche oder auf eine Hochzeit oder so?“

„Natürlich, und dafür hat sie auch die passenden Sachen, aber die sind für den niederländischen Winter nicht warm genug.“

Das war nicht der einzige Grund, weshalb sie für hier nicht taugten, es sei denn, man ging in einem Dorf wie Staphorst in die Kirche. “Ich sagte gerade zu Lien, dass es so schade ist, dass ihr nur so kurz hier seid, ich würde so gerne etwas mehr Zeit mit ihr verbringen“, sagte Marit.

„Warum kommst du uns nicht besuchen?“ schlug Jan vor.

„Hast du eine Ahnung, was so ein Ticket kostet? Das kann ich mir von meiner Studienfinanzierung nicht leisten.“

„Du musst doch nächstes Jahr ein Praktikum machen? Das wäre in unserem Betrieb möglich. Die Unterkunft kostet dich nichts, also brauchst du nur das Ticket.“

Ich sah Marits Augen aufleuchten und spürte eine ähnliche Welle der Aufregung wie vor einigen Tagen, als wir am Flughafen von São Paolo eincheckten und ich endlich unser Reiseziel erfahren hatte.

„Du wirst hart arbeiten müssen, aber an freien Tagen kannst du mit Lieneke die Gegend erkunden und Orte besuchen, an denen wir noch nie waren. Lieneke möchte wahnsinnig gerne mal nach Rio de Janeiro. Mit dem Nachtbus ist das gar nicht mal so teuer.“

Ich war ohnehin kein so großer Redner, aber das hier machte mich sprachlos. Meine Schwester einige Monate bei uns, und dann auch noch zusammen etwas unternehmen: das klang zu schön um wahr zu sein.

„Glaubst du, das wäre wirklich möglich? Das wäre wahnsinnig cool!“ Marit warf das Kleid neben mir aufs Bett und rannte zu Jan, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. „Das ist ja eine Superidee!“ Über ihrem Kopf erkannte ich wieder dieses alte Lächeln, das immer seltener geworden war. Das Leben auf dem Bauernhof bestand aus langen Tagen harter Arbeit mit als einziger fester Pause den Sonntagvormittag, um zum Gottesdienst zu gehen, für den wir zwei Stunden fahren mussten. Wir waren abhängig vom Hof, und Jan musste die bestmögliche Kondition haben, um den Betrieb zusammen mit seinem Vater und seinem Bruder am Laufen zu halten. Deshalb war es die Pflicht einer Ehefrau, ihren Mann gesund und zufrieden zu halten, indem sie laut Jans Mutter einen einwandfreien Haushalt führte. Während sie sich gerne aufopferte, fühlte es sich für mich an wie eine Bürde. Dass Jan mich mit dieser Reise nach Holland überrascht und diesen Plan vorgebracht hatte, verwirrte mich. War dieser Jan, in den ich mich verliebt hatte, vielleicht doch noch nicht ganz durch den Bauernhof verschluckt worden?

„Wie fandst du den Gottesdienst?“, fragte mein Vater. Er reichte Jan eine Dose Cola und öffnete für sich und Wouter eine Flasche Bier.

Meine Mutter stellte ein Tablett mit Knabbereien, Käse, Brie und Pastete auf den Couchtisch. Überall brannten Teelichter und Kerzen, und der Weihnachtsbaum leuchtete auf seinem Tisch neben dem Kamin, in dem ein Feuer knisterte. Sie öffnete eine Flasche Weißwein und wollte mir einschenken, doch ich lehnte ab.

„Keinen Wein?“ fragte sie verwundert.

„Ich trinke keinen Alkohol mehr“, sagte ich.

Hoffnung leuchtete in ihren Augen auf, doch ich schüttelte rasch den Kopf; es war noch zu früh, um darüber zu sprechen. Außerdem war der Genuss von Alkohol eine Sünde, im Hause Ubbink also undenkbar.

„Schöner Gottesdienst“, beantwortete Jan die Frage meines Vaters, „obwohl der Pfarrer nach meinem Geschmack zu sehr auf gesellschaftliche Probleme einging. Er hätte der Weihnachtsgeschichte an sich durchaus mehr Aufmerksamkeit widmen können.“

„Aber die kann doch jeder auswendig“, sagte Marit. „Nächstenliebe und Respekt, das ist es doch, worum es beim Weihnachtsgedanken geht?“

Ich mischte mich nicht ein in die Diskussion über die Rolle der Kirche, die sich entspann, und starrte durch die Vorhänge hinaus in die Dunkelheit. Nasser Schnee jagte ans Fenster, und so kalt es draußen auch sein mochte, hatte ich Lust, mich aufs Fahrrad zu setzen und gegen den Wind zu fahren. Die Gemütlichkeit war überwältigend und erinnerte mich an mein erstes Weihnachten in Brasilien zu einer Zeit, in der ich durchaus manchmal unterwegs gewesen war. Bei dem Versuch, die heimische Stimmung nachzuahmen, war ich in die nächstgelegene Stadt gefahren, um Weihnachtsschmuck zu kaufen. Obwohl es Hochsommer und schrecklich heiß war, wollte ich einen Baum schmücken und Lichter aufhängen in der Palme im Vorgarten, und Jan zufolge gab es im Haus nichts dergleichen. Leider hatte er es versäumt zu sagen, weshalb kein Baum aufgestellt wurde. Ich weinte wie ein Kind, dem man das Spielzeug abgenommen hatte, als alles, was ich sorgfältig aufgehängt und hingestellt hatte, in der Mülltonne landete. Götzenglauben nannten es die Ubbinks. Ich verstand gar nichts mehr. Ich kam selbst aus einer gottesfürchtigen Familie, und sogar in unserer Kirche stand neben der Orgel ein Weihnachtsbaum in vollem Glanz.

„Stimmt´s, Lien?“

Marits Stimme holte mich zurück in die Gegenwart. „Was denn?“

„Dass ich bei euch vielleicht mein Praktikum machen kann.“

„Oh nein“, sagte meine Mutter. Ich sah, wie sie dachte: nicht noch eine Tochter am anderen Ende der Welt.

„Kannst du denn so lange ohne deinen Freund?“ fragte Wouter neckend.

„Er ist nicht mein Freund“.

„Freund?“ fragte mein Vater.

„Vielleicht lerne ich dort ja einen netten Brasilianer kennen“, sagte sie herausfordernd.

„Oder einen Holländer“, sagte Jan.

Marit errötete, und wir alle wussten, an wen sie dachte. Sie war dem jüngeren Bruder von Jan nie wirklich begegnet – nur meine Eltern waren zur Hochzeit nach Brasilien gereist – aber sie hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass sie ihn attraktiv fand, als sie ihn auf den Bildern und in Videos sah. Und ich wusste, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte, denn Jans Bruder hatte wiederholt geäußert, dass er sich auch so eine gesunde holländische Frau wünsche, und fragte mich immer, ob ich neue Bilder von ihr bekommen hätte. Er konnte mit den brasilianischen Frauen nicht viel anfangen, und die Frauen niederländischer Herkunft in der Kolonie ihrerseits wollten von ihm nichts wissen.

Und plötzlich fiel alles auf seinen Platz. Die Erkenntnis traf mich wie ein Fausthieb, und ich suchte Halt, um nicht zusammenzubrechen. Ich war mit offenen Augen in die Falle getappt. Diese Reise hatte nur einen einzigen Zweck gehabt, und der hatte rein gar nichts zu tun mit meinem leiblichen Wohlergehen. Es ging um Jans Bruder.

Marit stellte eine Schüssel Fleischsalat, der mit Gürkchen, Ei, Silberzwiebeln und Schinkenröllchen dekoriert war, auf den Wohnzimmertisch. Der Weihnachtsmorgen war der einzige Tag im Jahr, an dem der Tisch hier nicht einfach nur herumstand, sondern als Büffet diente für den Brunch. Ich holte Teller und Besteck aus der Küche, und meine Mutter war sich offenbar sicher, dass ich außer Hörweite war. Sie fragte Jan, wie es mir nun wirklich ginge, während die einen Topf mit gekochten Eiern unter kaltes Wasser hielt. Ich sah gerade noch, wie Jan Brötchen aus dem Ofen holte. Zu Hause brauchte ich mit so viel Hilfsbereitschaft nicht zu rechnen. Er antwortete, es sei nicht einfach seit meiner ‚Krankheit‘, hoffe aber, dass dieser Besuch mir guttäte.

„Sie ist noch stiller als sonst und so blass. Sie hat kaum Fleisch auf den Knochen. Wäre es nicht besser, wenn sie eine Weile hierbliebe?“

Oh, wenn das möglich wäre, ich würde alles dafür geben.

„Wir können sie auf dem Hof nicht so lange entbehren. Und mir scheint es gerade wichtig, dass sie weiterhin arbeitet, damit sie nicht ins Grübeln kommt.“

Sie suhlt sich in Selbstmitleid, das faule Luder. Ich hörte es meine Schwiegermutter immer noch sagen, als sie mich aus dem Bett scheuchte, nachdem der Arzt gesagt hatte, dass ich vorsichtig wieder kleinere Aufgaben übernehmen könne.

Nach dem Gebet und der Bitte um den Segen für das Essen füllte Jan seinen Teller mit genau demselben Appetit wie die anderen. Was war geschehen mit der Überzeugung, Übermaß vergifte den Geist und verleite einen dazu, Sünden zu begehen? Nach dem Essen setzte er sich zu Marit aufs Sofa, die an seinen Lippen hing, als er von seinem Leben in Brasilien erzählte. Das tropische Klima, die Weite, ein Urwald, weiße Strände mit Kokospalmen und Metropolen – alles in Reichweite.

In meiner Erinnerung sah ich mich selbst wieder wie in einer Folge der Serie Grenzenlos verliebt voller Erwartungen auf dem Flughafen von São Paolo landen, was jetzt auch schon wieder vier Jahre her war. Nur dass Jan mich nicht mit einem Strauß Blumen abholte. Er erklärte mir, welche Bus ich nehmen solle, als ich ihn verwundert anrief, um zu fragen, wo er bliebe. Die Maisernte sei wegen eines Defekts am Häcksler ins Stocken geraten, und er müsse Kilometer entfernt ein Ersatzteil besorgen. „Der Hof hält uns am Leben, der kommt immer an erster Stelle. Du als Bauerntochter musst das doch verstehen“, hatte er gesagt.

Als der Kaffee mit den Plätzchen und den Schokopralinen auf den Tisch kamen, unterhielten sich die Männer und Marit über landwirtschaftliche Subventionen. Morgen würden wir bereits wieder abreisen; das hier war vielleicht meine einzige Chance auf einen Moment der Zweisamkeit mit meiner Mutter, und ich setzte mich mit meiner Kaffeetasse neben sie. Wir quatschten über Marits schulische Leistungen und darüber, wie Wouter seinem Vater immer mehr Aufgaben abnahm, während ich nach dem richtigen Augenblick suchte, ihr zu erzählen, wie mein Leben in Brasilien tatsächlich aussah.

„Darf ich noch kurz um eure Aufmerksamkeit bitten?“, unterbrach Jan die Unterhaltungen. „Ich möchte euch ganz herzlich danken für eure Gastfreundschaft. Es tut Lieneke und mir wirklich sehr gut, hier sein zu dürfen. Und ich möchte gerne das Wort an Gott richten.“

Jeder neigte den Kopf, und Jan dankte für das Essen, für die Bauern, die diese Mahlzeit ermöglicht hatten und für unser Wohlergeben. „Herr, Du weißt, was Lieneke hat durchstehen müssen. Wir danken Dir, o Herr, dass sie sich wieder erholt hat und bitten um Deine Kraft, damit sie wieder stärker wird und unsere Ehe doch noch mit einem Nachkommen zu segnen. Amen.“

„Amen“, murmelten wir zustimmend.

Jans Lächeln reichte diesmal nicht weiter als bis zu seinem Mund.

„Kommst du mit, Lien?“ fragte mein Vater, nachdem wir mit übervollen Mägen das Büffet abgeräumt hatten.

„Gerne.“ Ich ging hinter ihm her in die Waschküche und zog Marits Holzschuhe an. Wir überquerten den Hof, und ich verschränke die Arme gegen den eisigen Wind. Er gab mir den Vortritt in den Vorraum vom Stall, der mit den Umkleidekabinen, Schließfächern und Garderoben ein wenig aussah wie der Eingang eines Hallenbads. Ich verschwand in einer Kabine, zog mich aus und stieg unter die Dusche, um das strenge Hygieneverfahren zu absolvieren, das die Einschleppung von Tierkrankheiten verhindern sollte. Das warme Wasser brannte auf meinem Rücken, den ich vorsichtig abtrocknete. Dann zog ich T-Shirt und Shorts an und ging in den Raum mit sauberen Overalls und Stiefeln. Während wir uns weiter anzogen hörte ich, wie die Außentür geöffnet wurde. Nicht einmal ein Augenblick allein mit meinem Vater war mir vergönnt. Wir warteten, bis auch Wouter und Jan die Duschprozedur beendet hatten, und betraten zu viert den Stall. Wenn ich keine Schule hatte, hatte ich viele Stunden in dem warmen, starken Geruch beim Füttern der Tiere und dem Reinigen der leeren Boxen geholfen.

Die Ferkel verbargen sich hinter den Rücken ihrer Mütter, als wir den Wurfstall bewunderten. Wouter zeigte, was sich alles geändert hatte und erläuterte die technischen Einzelheiten wie die Futteraufnahme und die Anzahl Ferkel pro Wurf. Mein Vater glänzte vor Stolz, sowohl auf seinen Betrieb als auch auf seinen Sohn.

„Ich möchte mich auch noch bei den Sauen umsehen“, sagte ich. Deren Ställe, in denen sie zu Dutzenden in großzügigen Boxen zusammen untergebracht waren, mochte ich am liebsten.

„Papa und ich sehen uns noch die abgesetzten Ferkel an“, sagte Wouter. „Du kennst dich ja aus?“

Ich führte Jan durch die vertrauten Gänge in einen anderen Stall. Die Sauen lagen zufrieden auf der Seite oder gingen umher und schoben ihre Schnauzen an die Seile, die dort als Ablenkungsmaterial hingen, damit sie sich nicht vor Langeweile gegenseitig bissen.

Ich öffnete das Gatter und betrat die Box. Ein paar Schweine kamen neugierig auf mich zu. Jan ging hinter mir her, hielt sich aber an der Seite der Box. Eine Sau knabberte meinen Stiefel an, und ich kraulte sie genüsslich hinter den Ohren. „Das hier ist kein Streichelzoo“, pflegte mein Vater früher immer zu sagen, wenn ich die Schweine streichelte und ihnen zuredete, als wären sie Haustiere.

„Bist du fertig?“, fragte Jan sofort. „Ich habe es hier gesehen.“

„Du kannst dich ja schon mal umziehen.“

„Und dich allein lassen? Kommt gar nicht in Frage.“

„Deine Mission war doch erfolgreich?“ Ich machte weiter meine Runde an den Sauen vorbei, ohne ihn anzusehen. „Marit kann es kaum erwarten, nach Brasilien zu kommen. Nur frage ich mich, ob es dir gelingen wird, die beiden zu verbandeln. Er kann sich bei Weitem nicht so charmant geben wie du.“

„Mach dir darüber mal keine Gedanken. Komm her. Oder möchtest du morgen im Flugzeug überhaupt nicht mehr sitzen können?“

Die Striemen auf meinem Rücken waren durchaus zu ertragen. Ich hatte sie mir gestern im Hotelzimmer eingefangen als ich gesagt hatte, dass ich alles daran setzen würde, Marits Praktikum bei uns zu boykottieren. Lieber ein paar Hiebe mit dem Gürtel mehr als meine Schwester in die Hölle holen, in der ich mich befand.

Mit wenigen großen Schritten war er bei mir und ergriff meinen Oberarm. Es war nicht so, dass ich stark wäre oder schlaue Kampfsporttricks beherrschen würde, im Gegenteil, doch ich hatte den Überraschungsmoment auf meiner Seite, denn normalerweise wehrte ich mich nicht. Deshalb brachte ihn der Schubs gegen den Brustkorb aus dem Gleichgewicht, geholfen von einer Sau, die sich mit ihrem massigen Körper gegen seine Beine schob. Er ruderte mit den Armen durch die Luft und fiel hintüber. Das Metall klingelte wie eine Turmuhr als sein Kopf auf den Balken der Boxenabtrennung prallte. Ich schnappte nach Luft. Das würde mich die komplette Haut meines Rückens samt meines Hinterns kosten.

Ein paar neugierige Sauen drängten sich sofort um ihn und hinderten ihn daran, wieder auf die Beine zu kommen. Benommen vom Sturz rieb er sich den Hinterkopf und hielt sich die Finger vors Gesicht. Nasse, dunkelrote Fingerkuppen. Er schloss die Augen und stöhnte.

Mein erster Reflex war, ihm aufzuhelfen, so wie das jeder vernünftige Mensch tun würde. Doch das war bevor die Geschehnisse der letzten vier Jahre in meinem Kopf abgespult wurden. Ich dachte daran, wie sehr sich mein Leben verändert hatte ab dem Tag, an dem ich meinen Eltern nach der Hochzeit in Brasilien nachgewunken hatte. Daran, dass ich nie alleine hatte weggehen dürfen, damit ich mir keine Nahrungsmittel oder Sachen kaufen konnte, die ihren Normen nicht entsprachen. Dass wir weiterhin im Haus seiner Eltern lebten, weil angeblich das Geld nicht reichte für eine eigene Wohnung, vor allem aber, weil seine Eltern mich im Auge behalten konnten, wenn Jan auf den Feldern war. Dass sie versucht hatten, mich zu einer folgsamen Ehefrau zu erziehen, die die Familie Ubbink wachsen lassen würde, damit sie sich ihren Traum erfüllen konnten, nämlich die Gründung einer neuen Kolonie mit einer Kirche, die endlich die strenge Glaubenslehre verkündete.

Ich machte ein paar Schritte in Jans Richtung, und er streckte die Hand nach mir aus. Ich dachte daran, wie ich in seinem Pickup weggefahren war, er mir aber kurz vor der Schnellstraße mit dem Truck seines Vaters den Weg versperrt hatte. Wie sie mich danach nie mehr auch nur in die Nähe eines Autos hatten kommen lassen und mir den Pass abgenommen hatten. Wie Jan nach meinem Fluchtversuch zur Strafe die Internetverbindung für Monate gesperrt hatte. Wie immer jemand mit sah oder lauschte, wenn der Computer oder das Telefon aus dem Schrank geholt werden durfte.

„Hilf mir auf, Lieneke.“

Ich ignorierte seine ausgestreckte Hand und dachte daran, wie ich in meinem ersten Jahr in Brasilien meinen mitgebrachten Vorrat Pille schluckte, während er jeden Monat enttäuscht war über das Ausbleiben einer Schwangerschaft. Wie wütend er war, als seine Mutter eine leere Blisterverpackung im Müll entdeckt hatte.

Jan stützte sich auf einen Ellenbogen und schob den Kopf einer Sau weg, die sein Gesicht beschnupperte. Eine andere Sau stellte die Pfote in seine Leiste. „Verdammt, Lieneke!“

Die Schweine grunzten unruhig wegen der Aufregung im Stall.

„Weißt du eigentlich, was das bedeutet? Verdammt?“, biss ich ihm zu. „Solche Wörter sagen wir nicht.“

Ich dachte an all die mir auferlegten Regeln und Beschränkungen und an all den Spaß, der mir versagt worden war. An das apathische Wesen, das sie aus mir gemacht hatten. Ich ging zum Gatter und dachte an die Schwangerschaft, die ich nicht gewollt hatte, von der das Austragen mich nur noch unglücklicher gemacht hätte.

Jan schrie und schimpfte. Vor langer Zeit schon hatte ich es mir abgewöhnt, auf den Inhalt seiner Worte zu hören, ich filterte immer nur die wichtigsten Befehle heraus, die ich zu befolgen hatte. Ganz vereinzelt schaffte er es noch, mich zu kränken wie damals nach der Fehlgeburt. Wenn ich ihm kein Kind schenkte, würde er sich nach einer anderen Frau umsehen, sagte er. Und da Scheidung im Hause Ubbink keine Option war, wusste ich, was das zu bedeuten hatte. Es gab genug Tage, an denen ich es mir sogar wünschte.

Eine Sau kreischte empört, als Jan ihr in die Flanke stieß. Wenn es ihm gelänge, auf die Beine zu kommen, würde ich die Box nicht lebend verlassen. Ich huschte durch das Gatter und rannte zur Eingangstür vom Stall. Mein Blick fiel auf eine Schaufel, mit der ausgemistet wurde, und eine Bemerkung, die mein Vater Besuchern gegenüber immer machte, fiel mir ein: „Die Schweine tun einem nichts, aber wenn man bewusstlos am Boden liegt, bleibt nur wenig von einem übrig.“

Binnen weniger Sekunden war ich wieder bei Jan. Obwohl es ihm gelungen war sich hinzusetzen, konnte er nicht aufstehen. Die offene Wunde, aus der das Blut floss, hatten ihn benommen gemacht, und Leiber von einigen Hundert Kilo drängten sich vor, um ihre Schnauzen in das neue Ablenkungsmaterial zu stecken.

Ich dachte an das Ausbleiben meiner letzten Periode. An die Angst vor einer neuerlichen Fehlgeburt, die genauso stark war wie davor, ein Kind unter den Fittichen dieser Leute aufwachsen zu lassen. Kurz überlegte ich, meine Vermutungen auszusprechen.

„Gott wird dich bestrafen, wenn du mir nicht hilfst!“ In seiner Stimme schwang etwas mit, das mir neu war: Angst.

„Gott hat hiermit überhaupt nichts zu tun.“ Ich hob die Schaufel mit dem Blatt senkrecht über seinen Kopf und ließ sie niedersausen. Er würde nie erfahren, dass er Vater wurde.

Die Schweine kreischten, und seine aufgerissenen Augen füllten sich mit dem Blut aus seiner Stirn wie die Tränen einer weinenden Madonna. Ein Seufzer verließ seinen Mund, bevor er in sich zusammensackte. Ich wollte die Schaufel herausziehen, aber das Blatt steckte fest. Mit dem Knie schob ich ein Schwein zur Seite und stellte einen Stiefel auf seine Schulter. Mit einem schlürfenden Laut löste es sich. Blut sprudelte heraus wie bei einer Sintflut. Ruhig verließ ich die Box, schloss sie sorgfältig ab und stellte die Schaufel zurück an ihren Platz.

Erst als die Eingangstür hinter mir ins Schloss fiel, spürte ich, wie meine Knie fast nachgaben – das letzte Mal, dass er diese Wirkung auf mich gehabt hat, sagte ich mir. Allmählich wurde mir klar, was ich getan hatte. Ich brach zusammen und wimmerte.

Auch das Kaminfeuer und die heiße Schokolade konnten nichts gegen das Zittern ausrichten, als ich halb dem Kinderchor aus den Lautsprechern lauschte. Hätte ich die Kraft dazu gehabt, ich hätte lauthals mitgesungen.

Mitten in der Winternacht, öffnen sich die Wolken

Wer hat wohl das Licht gebracht, wer hat uns geholfen

Meine Mutter legte mir ihren Arm um die Schultern. „Ich hatte keine Ahnung, Kind. Wirklich nicht die leiseste Ahnung“, weinte sie. „Sonst hätte ich es selbst gemacht.“

„Eigentlich war er mir immer schon ein bisschen unheimlich“, sagte Marit. „So übertrieben höflich und dieses aufgesetzte religiöse Getue und so.“

Wouter und mein Vater kamen auf Socken ins Wohnzimmer. Mein Vater war ein wenig außer Atem.

„Die Schaufel liegt in der Güllegrube“, sagte mein Bruder, „und an der Stelle, an der du sie hingestellt hast, habe ich Mist eingerieben, um das Blut zu verwischen.“

„Also alle bereit? Lien, du auch?“

Ich nickte meinem Vater zu. Das war ich schon, seitdem ich die Schaufel hatte niedersausen lassen.

Schlagt die Zither an, lasst die Flöten und dann

Lasst die Trommeln erklingen in unseren Ohren

Christus ist geboren!

Ich legte mir die Hand auf den Bauch. Vielleicht würde ich das Kind Christian nennen oder Christiane, als Erinnerung an den Tag meiner Wiedergeburt. Es war mir egal, ob ich verhaftet werden würde, denn das Wissen, dass er oder sie niemals die Beschränkungen des Lebens als Ubbink erfahren würde, machte alles gut.

„Ihr braucht das nicht zu tun. Es ist meine Verantwortung“, sagte ich.

„Das ist ja wohl das Mindeste, was wir tun können, nachdem wir dich bei diesem Tyrannen zurückgelassen haben“, sagte meine Mutter.

Trotz aller Wut empfand ich so viel Dankbarkeit. Es war kaum zu glauben, wie pragmatisch und vernünftig sie reagiert hatten, nachdem Wouter und mein Vater mich weinend im Gang angetroffen und ich völlig aufgelöst nach und nach erzählt hatte, was mir widerfahren war, sowohl in den letzten Jahren als auch in den letzten Minuten. Und wie meine Familie einstimmig entschieden hatte, dass ich nicht für meine Tat zu büßen brauchte.

„Wir können es nicht länger aufschieben“, sagte meine Mutter. „Es wird Zeit.“

Mein Vater nahm das Telefon ans Ohr und wartete auf eine Verbindung.

„Danke Dir, Herr“, flüsterte ich. „Für das schönste Weihnachtsfest aller Zeiten.“

„Hallo? Können Sie bitte einen Krankenwagen schicken? Es ist ein Unfall passiert.“

Über die Autorin:

Heleen Smit (1983, Ede, Niederlande) lebt mit ihrem Freund und ihren beiden Hunden in Doetinchem. Sie studierte Journalistik und arbeitete als Redakteurin für landwirtschaftliche Fachmedien wie Boederij und Groente & Fruit.

Seit Oktober 2019 ist sie als Redakteurin bei einer Nachrichtenwebsite für die Ernährungs- und Landwirtschaftsbranche tätig. Ihre Kenntnisse vom landwirtschaftlichen Leben haben sie zu dieser Geschichte inspiriert.

2017 schrieb Heleen ihren ersten Thriller, mit dem sie ein Jahr später den zweiten Preis bei einem Schreibwettbewerb von De Crime Compagnie und Sweek gewann. Sie verpasste nur knapp den Hauptgewinn: einen Vertrag. Dennoch interessierte sich De Crime Compagnie für ihr Buch und ist Heleens Debüt, Op het verkeerde moment im Februar 2020 erschienen.

In diesem Buch hält Sophie Hofman während eines Schneesturms vor etwas, das auf der Straße liegt. Offenbar handelt es sich dabei um einen verletzten Mann. Dieser Mann zwingt sie, ihr zu helfen. Er zieht sie mit hinein in eine Sache, in der ihre Rolle weiter reicht als die eines zufälligen Opfers.

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