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KAPITEL 6

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Tatsächlich konnte ich nicht lange weg gewesen sein. Ich riss die Augen auf. In unserer Schlafstatt war es taghell. Jemand musste die Beleuchtung auf höchste Stufe geschaltet haben. Im ersten Moment dachte ich an eine Rauch- oder Feuerwarnung, aber dann hätte es einen Warnton geben müssen. Ungelenk popelte ich die Ohrstopfen heraus. Miguel, der Kollege aus der Businessclass, stürzte durch die Tür und rief sichtlich aufgeregt:

»Ihr müsst alle nach oben kommen. Wir haben einen medizinischen Notfall.« Er wollte auf dem Absatz kehrtmachen, als ihn eine energische Stimme zurückhielt:

»Miguel!«

Der Spanier drehte sich um und kreuzte Jörgs Blick, der sich bereits aufgerichtet hatte und ihn zu sich winkte. Jörg hatte sich seine Schlafbrille in die Stirn geschoben und sah nicht gerade so aus, als wollte er dem Flugbegleiter vor Freude um den Hals fallen.

»Wenn du uns schon wach machst, dann sag uns wenigstens, was los ist und wo wir nach dem Patienten suchen dürfen.«

»Miriam und Sarah sind bei der Frau. Mein Gott, das ist so furchtbar, ich kann da nicht mehr hin.«

»Reiß dich zusammen, Sakrament! Wo ist diese Frau? Etwa in der Eco?«

»Ja.« Er nickte heftig. »In der Galley. Sie hat Miriam vollgekotzt. Dieser Gestank – ich kann das nicht riechen. Ich musste mich selbst fast übergeben.«

»Und was hat sie?«

»Ich weiß nicht, Schlaganfall oder so was. Ich muss wieder hoch.«

Einen Wimpernschlag später war er verschwunden.

»Na, dann mal Fröhliche Weihnachten«, hörte ich Jörg brummen, »das hat uns gerade noch gefehlt.«

Ein ungutes Gefühl beschlich mich, während ich meine Schuhe zuband. Miguels Aussage war ziemlich wirr gewesen. Verstanden hatte ich, dass es einer Frau schlecht ging, die sich in unserer Bordküche befand und von Sarah und Miriam betreut wurde. Klang eigentlich nicht dramatisch. Auch wenn Miguel völlig mit den Nerven runter war.

Zum Glück musste ich nur noch meine Schuhe anziehen. Der kleine Spiegel gab mir das Go!, mich unter Menschen wagen zu können. Oben angelangt wäre ich beinahe mit Inge zusammengestoßen.

»Gut, dass ich dich treffe, Miguel hat euch also geweckt. Der Kerl ist wie vom Erdboden verschluckt. Von den Mädels geht auch keine ans Telefon. Die Cockpit braucht unbedingt den Medical Report aus dem Erste-Hilfe-Kasten. Die Jungs versuchen gerade, die medizinische Hotline zu erreichen.«

»Okay, alles klar.«

Im vorderen Teil der Economy deutete zunächst nichts auf einen Notfall hin. Ein Großteil der Passagiere schlief immer noch oder hielt die Augen starr auf den Bildschirm gerichtet. Weiter hinten änderte sich das Bild. Alle waren wach. Die meisten musterten mich mit ängstlichem Blick, als ich mir den Weg nach hinten bahnte. In den letzten Reihen konnte ich den unwechselbaren Gestank bereits riechen. Ein scharfer, säuerlicher Geruch nach Erbrochenem.

Ungefähr dort, wo Attila vorhin seine Liegestützen gemacht hatte, war es. Sämtliche an Bord verfügbaren Hilfsmittel lagen halbkreisförmig angeordnet. Alles sah beinahe so aus wie bei meiner Erste-Hilfe-Schulung vor acht Wochen. Mit einem Unterschied: Im Zentrum lag nicht die geduldige Übungspuppe, der sich jeder mit einem Witz auf den Lippen näherte, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut.

Wahrscheinlich geht es jedem so, der es nicht gewöhnt ist, Erste Hilfe zu leisten, aber ich muss gestehen, ich war schockiert. Eine ältere Dame, die man guten Gewissens als füllig bezeichnen durfte, lag auf ein paar Decken. Ihre Augen waren geschlossen, die grauen, strähnigen Haare aus dem Gesicht gestrichen. Ihre Unterwäsche, eine Art fleischfarbener Badeanzug, war bis zum Bauch aufgeschnitten. Ich erkannte die Elektroden des Defibrillators. Miriam saß am Kopfende und hielt mit einer Hand die Beatmungshilfe fest. Sarah kniete neben der Frau und verabreichte ihr eine Herzdruckmassage. Sie schwitzte. Die Frau hingegen war so bleich, wie ich es selten bei einem Menschen gesehen hatte. Und ich hatte als Zivi im Altenheim so einiges gesehen.

»Topsi, zum Glück! Kannst du mich ablösen? Ich bin völlig fertig«, keuchte Sarah.

»Klar«, antwortete ich und ging neben Sarah auf die Knie. Ich war nervös. Im Traum hatte ich beim Erste-Hilfe-Kurs nicht damit gerechnet, dass ich das Gelernte so umgehend würde anwenden müssen. Und nun war es so weit. Ich spürte den leblosen Arm der Frau an meinen Knien.

»30-2?«

Sie nickte.

»Wie weit bist du?«

»Gleich.« Nach einer kurzen Pause sagte sie: »... fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig. Du hast es!« Während Miriam die Atemstöße gab, brachte ich meine Hände in Position. Dann legte ich los. Ich wusste noch, dass man mit den ersten Stößen vorsichtig sein musste, weil hier die meisten Rippenbrüche passierten. Ich hatte noch die Worte des Medifarm-Ausbilders im Hinterkopf: »Meine Damen, wenn Sie einmal ausprobieren möchten, wie sich ein Rippenbruch anfühlt, dann lassen Sie sich doch einfach von ihrem Freund eine Herzdruckmassage verpassen. Sie können sicher sein, dass das funktioniert. Das bringt Schwung in ihre Beziehung. Ist auch mal was anderes, als die ewige Missionarsstellung.«

Keiner hatte damals gelacht. Aber wenigstens haben bescheuerte Sprüche wie dieser den Vorteil, dass man sich lange daran erinnert.

»Füll bitte das Formular aus und bringt es so schnell wie möglich ins Cockpit«, sagte ich zu Sarah. »Die brauchen das, um den Leuten von der Mediline was sagen zu können.«

»Das können die sich sparen. Das ist eindeutig ein Herzinfarkt! Wie er im Buch steht. Sogar mit Schmerzen im linken Arm und Beklemmungsgefühl in der Brust. Das habe ich der Inge aber schon gesagt.« Miriam klang ungehalten.

»Egal, dann schreib halt das auf!«, sagte ich zu Sarah. »... achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig.« Miriams Zeichen, zu pusten.

»Wo bleiben denn die anderen eigentlich?«

»Die kommen gleich. Miguel hat uns eben erst geweckt.«

Sarah war aufgestanden und verschwand mit den Worten: »Ich bring den Jungs mal den Zettel.«

Mein Blick fiel auf den Defibrillator. Das Display konnte ich von meiner Warte nicht erkennen. »Hat sie schon einen Stoß bekommen?«

»Ja, aber nur einmal. Ganz am Anfang.«

Ich nickte. Inzwischen spürte ich, dass auch ich ins Schwitzen kam. Dann fiel mir noch was ein. »Und was ist mit Nitrolingual?«

In diesem Augenblick tauchte Jörgs kräftige Gestalt hinter Miriam auf. »Na wundervoll, das komplette Programm«, hörte ich ihn mit tiefer Stimme sagen. »Mal wieder.«

Ich versuchte, mitzuzählen und musste feststellen, dass ich zweifellos nicht mehrfach belastbar war.

»Soll ich einen von euch beiden ablösen?«, fragte der P1.

Ich schüttelte den Kopf. »Danke, ich habe gerade erst angefangen.«

Das Ding-Dong der Telefonanlage ertönte.

»Jörg auf der vier.« Pause. »Kleiner Augenblick – die Cockpit, ob ihr schon Nitro verabreicht habt?«

»Nein, das dürfen wir nur, wenn ein Arzt ...«, begann Miriam.

»Nein, haben sie nicht.« Erneut Pause. »Okay, machen wir. Ja, alles klar. Tschö!«

»Wir sollen ihr eine Nitrolingual geben. Außerdem gehen wir runter.« Jörg öffnete den Deckel des Doctors-Kit und entnahm das Medikamentenmäppchen.

»Wir dürfen das nur, wenn ...«, insistierte Miriam.

»Ich weiß. Die Anweisung kommt von einem Hotline-Arzt. Er sagt, wir können nur gewinnen.«

Ich bewunderte seine Gelassenheit. Für mich war Miriam grenzwertig. Und das, obwohl ich im Augenblick andere Sorgen hatte als eine zickige Kollegin.

Kurz darauf hielt Jörg die dunkelrote Kapsel in der Hand. Für einen Augenblick schien er nicht recht zu wissen, wie er das Medikament verabreichen sollte.

»Anschneiden und unter die Zunge legen!«, sagte ich bestimmt. Er griff nach der Schere und schnitt in die Kapsel. Dann entfernte er die Beatmungshilfe und platzierte das Medikament.

Als ich mit der Massage fortfuhr, spürte ich, dass mir die Vorlage leichter fiel. Die Flugzeugachse hatte sich abgesenkt. Wir waren im Sinkflug.

»Jörg, könntest du mich bitte ablösen, ich würde gerne meine Bluse sauber machen. Es hat mich voll erwischt.«

»Natürlich.« Jörg ließ sich neben Miriam auf die Knie.

»Kopf überstrecken und ...«

Jörg winkte ab. »Das ist nicht meine erste Wiederbelebung.« Er umfasste die Beatmungshilfe, die komplett in seinen Pranken verschwand. Dann blies er. Ich spürte deutlich, wie sich der Brustkorb der Frau unter meinen Händen hob und wieder senkte.

»Oh mein Gott!«

Ich drehte meinen Kopf kurz in Richtung der Stimme und erkannte Nina, die sich die Hand vor den Mund hielt. Attila hinter ihr gab keinen Ton von sich, sah aber nicht viel besser aus.

»Gut, dass ihr da seid. Wer von euch beiden kann denn gleich den Horst ablösen?«, ertönte Jörgs tiefe Stimme.

»Nicht nötig, passt schon. Noch geht es!«, sagte ich schnell. Das war glatt gelogen. Ich hätte nichts gegen einen Wechsel gehabt, aber der flüchtige Blick auf meine Kollegen genügte. Nina traute ich für die nahe Zukunft einen gepflegten Heulkrampf zu und bei Attila konnte man nie wissen. Meine Hoffnungen ruhten auf Sarah und Miriam.

Attila ging neben dem Defi in die Hocke. Er sagte noch immer nichts. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er sein Unwohlsein damit zu überspielen versuchte, dass er Display und Anschlüsse mit fahrigen Bewegungen überprüfte. Seine Hände zitterten.

Nina schien ihre Fassung einigermaßen wiedergefunden zu haben. Mit den Worten »Ich räum schon mal die Galley auf«, drückte sie sich hinter mir vorbei.

Erst jetzt fiel mir das kleine Mädchen auf. Ich weiß nicht, wie lange es schon dastand, in die Ecke gedrückt und aus seinen reich bewimperten Mon-Chichi-Augen zusah. Schweigend und an einem Stoffhasen schnüffelnd. Es sah aus wie ein Baby-Äffchen, mit einem runden Gesicht und großen, dunkelbraunen Augen. Wie eine Antenne ragte ein Haarbüschel in die Höhe, gehalten von einem hellrosa Schleifchen. Ich dachte noch darüber nach, ob dies alles ein Anblick für ein kleines Kind sei, als Sarah zurückkam.

»Tut sich was?«

»Ich schwitze«, antwortete ich.

»Wir sind sowieso bald am Boden«, sagte Sarah. »In zwanzig Minuten landen wir in Novosibirsk. Die haben ganz schön Stress da vorne. So beschäftigt habe ich die Cockpit noch nie erlebt. Alle drei sind voll am Rumrödeln. Das Wetter scheint nicht so toll zu sein.«

»Dann sollten wir zusehen, dass wir das Schiff klar bekommen«, sagte Jörg und verabreichte die letzten beiden Atemstöße. »Sarah kannst du das übernehmen, ich muss nach vorne.«

»Lass uns durchwechseln«, erwiderte ich. »Lass mich beatmen, ich brauche eine kurze Pause.«

»Und was ist mit Püppchen oder Huber international?«, zischte Sarah, während sie sich hinkniete.

Ich gab keine Antwort. Stattdessen fragte ich: »Haben die von der Hotline noch was gesagt? Gibt es irgendwas, was wir tun können?«

»So fix wie möglich landen und einen Arzt ranschaffen!«

»Das heißt, wir müssen das hier auch während der Landung durchziehen?« Der Satz war Frage und Antwort zugleich.

»Der Chef gibt dreißig Sekunden vor der Landung über PA Bescheid, damit wir uns anschnallen können. Sie ...«, Sarah schnickte ihr Kinn in Richtung der Frau, »... können wir hier vor der Wand liegen lassen. Da kann sie vorerst nicht weg.«

Ich grinste. Sarahs Sarkasmus tat gut.

Während ich kurz aufstand, um Arme und Beine auszuschütteln, trat Attila neben mich. Mit flehentlichem Blick flüsterte er mir zu: »Hey, Alter, tut mir leid, Mann, aber ich bring das nicht.«

Ich nickte und nahm ihm mit einem »Schon gut, wir schaffen das zu dritt« den Druck.

Mehr Zeit, um weitere Weihnachtsgeschenke an meine Kollegen zu verteilen, blieb mir nicht. Ich hatte mich gerade wieder neben die Patientin gekniet, als das Heck des Fliegers von einer unsichtbaren Hand nach oben gezogen wurde. Der Schlag erfasste uns mit einer solchen Wucht, dass ich mitten auf der Brust der Frau gelandet wäre, wäre da nicht die Trennwand gewesen. Reflexartig riss ich die Hände nach vorne. Sarah knallte seitlich gegen die Wand. Aus der Kabine ertönten Schreie. Ich suchte in Sarahs Augen nach einer Erklärung und wartete auf die Gegenbewegung des Flugzeugs. Glaubte ich zunächst noch einen kurzen Anflug des Entsetzens in ihren Augen gesehen zu haben, wurde ich sogleich eines Besseren belehrt.

»Sorry, kann gerade nicht«. Sarah lächelte gequält. Unbeirrt hielt sie mit der einen Hand die Beatmungshilfe umfasst, mit der anderen versuchte sie, sich abzustützen.

Mir war nicht nach Lachen. Ich hatte Mühe, mich auf den Knien zu halten. Schon kam der nächste Schlag.

Über Lautsprecher ertönte Lammers Stimme: »Cabin Crew, sit down immediately!«

»Ist keine schlechte Idee.« Sarah erhob sich und schob sich an der Wand zu ihrem Sitz.

Ich drehte den Kopf zur Seite. Miriam saß bereits.

»Topsi, schnall dich an. So richten wir eh nichts aus.«

Sarah hatte recht. An Wiederbelebung war unter diesen Bedingungen nicht zu denken. Das waren keine handelsüblichen Turbulenzen. Ich klappte meinen Sitz herunter.

»Noch drei Minuten bis zur Landung!« Kais Stimme.

Drei Minuten?

Ich zog die Gurte über die Schultern. Während ich darüber nachdachte, dass drei Minuten ohne Sauerstoff eine verdammt lange Zeit waren, packte uns die nächste Riesenhand. Es war, als würde jemand mit einem Riesenhammer gegen unser Heck schlagen und nur darauf warten, dass das Pendel zurückschwang, um uns erneut einen zu verpassen. Mit jeder Aufwärtsbewegung schlug der Kopf der Frau gegen die Trennwand, um sogleich zurückzuplumpsen. Ich schaute zu Sarah, aber die war gerade dabei, die vor ihr sitzenden Passagiere zu beschwichtigen. Der Kopf der Frau war keine 30 Zentimeter von meinen Füßen entfernt. Vorsichtig stellte ich meinen Fuß nach vorne und drückte mit der Schuhspitze gegen die Backe der Frau. Im gleichen Augenblick fuhr das Fahrwerk aus. Gott sei Dank! Nun konnte es nicht mehr lange dauern. Dann nahm ich etwas anderes wahr. Das hatte ich heute schon mal gerochen. Erbrochenes! Ich beugte mich zur Seite, konnte aber in der abgedunkelten Kabine niemand ausmachen. Egal, jetzt konnte ich sowieso nichts mehr tun. Ich beugte meinen Kopf nach vorne und wartete auf die Landung. Die Schläge hatten inzwischen ein wenig nachgelassen.

Auf den letzten Metern vor dem Aufsetzen verändert sich der Luftstrom um das Flugzeug. Ich wartete auf die erlösende Bodenberührung, als der Flieger plötzlich durchsackte. Es war, als ob die Luft uns nicht mehr haben wollte. Unser Hauptfahrwerk schlug hart auf, gleichzeitig wurde die Flugzeugachse nach oben gerissen und die Triebwerke brüllten auf. Mein Kopf schlug gegen das Polster. Was war das? Wir starteten durch! Ich hatte mit allem gerechnet, aber ... Weiter kam ich nicht. Während der Airbus unter dem Getöse der Motoren an Höhe gewann, kam Bewegung in unsere Patientin. Sie kippte auf die Seite. Das heißt, wenigstens versuchte es ihr Körper. Ihr Kopf klemmte zwischen Trennwand und meiner Schuhkappe.

»Sarah!«, schrie ich.

Sarah reagierte goldrichtig und erwischte mit ihrem Fuß den Oberschenkel der Frau, gerade als diese dabei war, über die Seite zu rollen. Welch bizarre Situation! Gemeinsam hielten wir einen leblosen Körper mit unseren Füßen an Ort und Stelle.

»Wo will sie denn hin?«, frotzelte Sarah.

Mir saß der Schreck in den Gliedern. Warum waren wir durchgestartet? Hatte uns kurz vor Touchdown etwa eine Böe erwischt? Es dauerte ein paar Minuten, bis ich eine Antwort bekam. Diesmal war es Kai, der uns und den Passagieren erläuterte, dass ein Windstoß aus der falschen Richtung den Flieger kurz vor dem Aufsetzen erfasst hatte. Einer Landung stünde aber grundsätzlich nichts im Weg.

Viel mehr als das beschäftigte mich das Schicksal der Frau. Jede Sekunde ohne Sauerstoff war eine verlorene Sekunde. Ich überredete Sarah, trotz der Wackelei mit Beatmung und Herzdruckmassage weiterzumachen. Irgendwie schafften wir es, die nächste Viertelstunde zu überstehen.

Die Landung war ungewöhnlich weich. Ich machte mir Gedanken, ob der viele Schnee für den sanften Touchdown verantwortlich gewesen war, während eine Lineallänge neben meinem Fuß der Kopf einer Frau lag, deren Herz nicht mehr schlug. Bereits während der Flieger die Landebahn hinabrollte, begannen wir erneut mit der Reanimation. Jetzt kam mir jeder Meter wie eine halbe Ewigkeit vor. Auch als wir an einer Parkposition festmachten, dauerte es endlos, bis die Triebwerke abgestellt wurden. In der Passagierkabine herrschte eine eigentümliche Ruhe. Außer dem beständigen Tosen der Klimaanlage war kaum ein Laut zu vernehmen. Erlösend wirkte auf alle daraufhin die Ansage aus dem Cockpit. Bernd Lammers verbreitete sehr authentisch das Gefühl, alles im Griff zu haben. Wir würden unseren medizinischen Notfall in professionelle Hände geben, nachtanken und weiter in Richtung Tokio fliegen.

Attila öffnete die Flugzeugtür. Ein Schwall eisiger Luft wehte herein. Aus dem Schneegestöber schälte sich ein fünfköpfiges Rettungsteam. Es hätte »Dr. Waldemar, ein Notarzt in Aktion« alle Ehre gemacht. Ein Blick genügte, um eine ziemlich durchdacht wirkende Handlungskette in Gang zu setzen. Drei der Retter übernahmen sofort die Reanimation. Nummer vier verschwand im nächtlichen Schneegestöber, während Nummer fünf uns in exzellentem Englisch zu unseren bisherigen Maßnahmen befragte. Innerhalb von zehn Minuten war alles vorbei, unsere Patientin abtransportiert. Das Ganze stellte mein Klischee von der Professionalität zentral-sibirischer Notarzteinsätze völlig auf den Kopf. Die Russen machten dies nicht zum ersten Mal. Die Palette aus Gründen, weshalb Flugzeuge hier zwischenlandeten, durfte verhältnismäßig überschaubar sein. Niesanfälle waren vermutlich nicht dabei.

»Wie geht's denn eigentlich weiter?«, fragte Sarah, nachdem Attila die Tür geschlossen hatte.

»Hast du dem Kapitän nicht zugehört? Der Chef hat gesagt, dass wir zuerst nachtanken und dann weiterfliegen.« Attila hatte offenbar zu seiner alten Form zurückgefunden.

»Entschuldige mal. Im Gegensatz zu dir war ich damit beschäftigt, dieser Frau wieder Leben einzuhauchen.« Sie warf Attila einen Blick zu, für den jeder andere als ein bayrischer Türke sofort tot umgefallen wäre.

»Und ich dachte, ihr Frauen könnt ein Kind zur Welt bringen und gleichzeitig die Sportschauergebnisse mitbekommen. Es heißt doch immer, ihr seid mehrfach belastbar. Multi-Tasking nennt man das.« Attila zog die Augenbrauen hoch, als war er sich selbst nicht sicher, ob er nicht einen Schritt zu weit gegangen war.

Sarah sparte sich die Antwort und reckte ihm den durchgestreckten Mittelfinger entgegen. Das »Fick dich Huber« war zu leise, als dass Attila es hätte hören können.


Abgeflogen

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